Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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breit ge­nug, um al­les, was in der jun­gen Brust noch ge­bun­den lag, frei zu ma­chen. Ei­lig drän­gen sich und laut­los die Wir­bel vor­bei und neh­men uns ge­heim­nis­voll ver­füh­re­risch in der Fan­ta­sie mit sich in das Hells­te, Kühls­te, Gren­zen­lo­ses­te – im­mer wei­ter und wei­ter durch alle geo­gra­fi­schen Schul­stu­be­nerin­ne­run­gen bis hin auf das große Meer. Juan Fer­n­an­dez und Salas y Go­mez lie­gen im ma­gi­schen Blau als ein­zi­ge fes­te Punk­te, an de­nen die Er­fah­rung mit won­ni­gem Herz­po­chen haf­ten kann; dar­über hin­aus in wie­der­um un­denk­li­cher Fer­ne spült und sprüht’s nur in die Buch­ten und Pal­men­wäl­der von Traum­land hin­ein, selbst für Ewald Six­tus, der schon ganz ge­nau weiß, dass die We­ser ein­fach bei Bre­mer­ha­ven in die Nord­see mün­det, dass vor Neuyork Long Is­land liegt und dass Staat und Stadt Neuyork zu den Ve­rei­nig­ten Staa­ten von Nord­ame­ri­ka ge­hö­ren. Auch für mich, der ich in der neue­ren Geo­gra­fie ziem­lich und in der al­ten recht gut Be­scheid weiß, der ich den Weg des Kö­nigs Alex­an­der zum In­dus und nach­her die un­ver­ei­nig­ten Staa­ten von Asia mi­nor ganz ge­nau auf der Kar­te zei­gen kann.

      Wäh­rend nun Va­ter Klaus sei­nen lang­ge­dien­ten Kahn zur Über­fahrt be­reit macht, durch­stö­bern die zwei Mäd­chen »zum wer weiß wie viel­ten Male« sein ein­sied­le­risch halb­wil­des Haus­we­sen.

      »Eins steht fest«, ruft Ire­ne, den blon­den Lo­cken­kopf aus der Pfor­te der Hüt­te vor­stre­ckend; »das nächs­te­mal bit­ten wir zu Hau­se um die Er­laub­nis, und dann blei­ben wir eine Nacht hier. Da lie­gen wir hier am Feu­er­her­de und bra­ten uns un­se­re Fi­sche sel­ber, und der Mond muss schei­nen und wir sin­gen dazu und ru­fen die Käh­ne und Flö­ßer an –«

      »Und krie­gen dum­me Re­dens­ar­ten zu­rück«, grinst Ewald.

      »Und dum­me Jun­gen wer­den drau­ßen mit dem Kopf ins Nas­se un­ter­ge­duckt –«

      »Und ich bin da­bei!« schreit Ewald mit ei­nem Sprun­ge und die Müt­ze schwin­gend. »Das ist eine ganz ra­send hei­te­re Idee! Das nächs­te­mal ge­hen wir ih­nen si­cher­lich erst bei Son­nen­un­ter­gang durch!«

      Und der Alte am Was­ser, be­denk­lich sei­ne Kap­pe von ei­nem Ohr aufs an­de­re schie­bend, meint:

      »Ich wäre wohl schon da­bei, und zu Scha­den soll­ten die jun­gen Herr­schaf­ten bei mir auch wohl nicht kom­men; aber – schrift­lich muss ich die Er­laub­nis doch wohl vor mir ha­ben; denn nach­her ken­ne ich sonst die Her­ren beim Amte gut ge­nug, wenn ich wie­der von we­gen mei­ner Be­rech­ti­gung all­hier vor sie muss. In al­ten Zei­ten, all­wo man noch gar kei­ne Pa­pie­re nö­tig hat­te, soll das al­les viel bes­ser ge­we­sen sein, und da hät­te auch ich nichts Schrift­li­ches ver­langt, son­dern im Ge­gen­teil.«

      »Dies ist doch groß­ar­tig!« meint Ire­ne Ever­stein, eine der ge­wohn­tes­ten Re­dens­ar­ten ih­res Freun­des Ewald sich an­eig­nend.

      Nun fah­ren wir über.

      »Nicht schau­keln! Bit­te, bit­te, nicht schau­keln, Ire­ne!« fleht Eva, wie sie vor­hin »Nicht schüt­teln!« ängst­lich ge­ru­fen hat.

      Die Strö­mung ist ziem­lich hef­tig und das »Schau­keln« in der Tat durch­aus nicht not­wen­dig.

      »Ja, las­sen Sie es lie­ber, jun­ge Herr­schaft«, meint der Va­ter Klaus. »Erst vor acht Ta­gen habe ich da ein biss­chen wei­ter un­ten eine her­aus­ge­holt. Die muss­te ziem­lich weit von oben her zu­ge­reist sein; hier her­um, und so weit un­se­re Ge­richts­her­ren hin­rei­chen, hat sie nie­mand ge­kannt. In Bo­den­wer­der ha­ben wir sie denn auch un­be­kann­ter­wei­se be­er­digt, und ich bin auch der ein­zigs­te ge­we­sen, der mit ihr ge­gan­gen ist; und das ist nicht das ers­te­mal in mei­nem Le­ben ge­we­sen. So ’n al­ter Fi­schers­mann will doch nicht so ganz als ein Vieh an sei­nem Was­ser sit­zen, son­dern sie ge­ben sich, mit Re­spekt zu sa­gen, ge­gen­sei­tig alle Ehren. Ja, so ’nen Was­ser­lauf soll man nur recht ken­nen durch die Jah­re und Tage und Näch­te und alle Wit­te­run­gen – das ist wohl was Nach­denk­li­ches, jun­ge Herr­schaf­ten!«

      Wir sa­hen alle nach dem Wei­den­busch hin­über, wo die un­be­kann­te Frem­de an­lan­de­te nach ih­rer lan­gen Rei­se. Ire­ne schau­kelt nicht mehr; aber nun sind wir mit­ten im Strom, und wo ist der Son­nen­schein hel­ler als mit­ten auf den Was­sern? Die Wel­len flim­mern, sil­ber­ne Flos­sen schnel­len rund­um auf, um blitz­schnell wie­der in der Tie­fe zu ver­schwin­den. Wir las­sen alle eine Hand in die laue Flut her­nie­der­hän­gen und sie um die er­hitz­ten Pul­se spü­len.

      »Na aber Frit­ze, dein zar­ter Teint!« grinst Ewald. »Nun guckt nur, ob sei­ne lie­be Nase bei der Tem­pe­ra­tur nicht schon ab­blät­tert wie eine Zwie­bel. Von euch zwei Back­fi­schen sage ich gar nichts; denn ihr seid ja ganz in eu­rem Ele­men­te, und üb­ri­gens wird es euch auch Fritz­chens Mama heu­te Abend schon sa­gen und mor­gen früh noch ein­mal.«

      Die bei­den Mäd­chen un­ter ih­ren brei­ten Som­mer­stroh­hü­ten glü­hen frei­lich wie die Pfingst­ro­sen; aber von der un­be­kann­ten Lei­che, wel­cher neu­lich un­ser al­ter Fähr­mann in Bo­den­wer­der al­lein das letz­te Ehren­ge­leit zu Ehren sei­nes Flus­ses gab, ist nicht wei­ter die Rede. Wir lan­den auf dem an­de­ren Ufer, der Va­ter Klaus be­kommt sei­nen Fähr­lohn und ruft uns nach:

      »Also auf das schrift­li­che At­tes­tat ver­las­se ich mich. Nach­her wün­sche ich mir nichts Bes­se­res als die jun­ge Herr­schaft bei mir zu Gas­te, wenn mal der Mond voll im Ka­len­der steht und der Fisch zu­tun­lich ge­we­sen ist. Und mit­sin­gen tu ich auch. In mei­nen jun­gen Jah­ren habe ich im­mer über der Brat­pfan­ne alle hüb­schen jun­gen Mäd­chens hü­ben und drü­ben in den schöns­ten Lie­dern vom Jahr­markt mit be­sun­gen.«

      Es schlägt eben in der Fer­ne, in Bo­den­wer­der, elf Uhr, als wir la­chend, die Müt­zen und die Ta­schen­tü­cher schwen­kend, un­se­ren Weg auf dem Schif­fer­pfa­de durch Wei­den, Röh­richt, über die har­ten Kie­sel und Fluss­mu­scheln fort­set­zen strom­ab­wärts.

      Un­ser grau­er Cha­ron bleibt noch eine ziem­li­che Wei­le auf sei­ne Ru­der­stan­ge ge­lehnt ste­hen und sieht uns nach – lä­chelnd, kopf­schüt­telnd und eine Pri­se neh­mend. Er hat zu al­len die­sen drei Äu­ße­run­gen sei­ner Mei­nung und An­sich­ten über uns voll­kom­men die Be­rech­ti­gung und braucht sich nicht im ge­rings­ten auf ir­gend et­was Schrift­li­ches ein­zu­las­sen.

      Siebentes Kapitel

      Es ist, als schwän­de der Vet­ter in im­mer un­be­stimm­te­re, idea­le­re Fer­ne. Aber wir er­rei­chen ihn und das Sei­ni­ge doch; und wenn wir ihn ha­ben wer­den, so wird er hof­fent­lich umso nä­her zu Sinn und Her­zen wir­ken und also in der ein­zig wah­ren Wei­se ganz rea­lis­tisch da­sein. Mein Wort dar­auf, wir wis­sen Be­scheid und ste­hen mit den ech­ten Wirk­lich­kei­ten oder Rea­li­en in die­ser Welt auf ganz gu­tem Fuße und ver­keh­ren mit­ein­an­der nicht bloß in Schlaf­rock und Pan­tof­feln – denn das will nicht viel be­deu­ten! – son­dern auch dann und wann im Fest- und Fei­er­tags­klei­de, und das will viel sa­gen!

      Nun quer land­ein durch die Som­merglut! Wir ha­ben je­doch glück­li­cher­wei­se nur noch eine klei­ne hal­be Stun­de zu mar­schie­ren, bis wir den Stein­hof er­rei­chen, und wir le­gen den Weg nun­mehr rasch ge­nug zu­rück, denn jetzt hält uns nichts mehr auf dem­sel­bi­gen auf. Die Mäd­chen wol­len zwar an­fan­gen, ihre Füße nach­zu­zie­hen; aber Ewald, im kur­z­en Tra­be


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