Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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von ihm, ich mei­ne Schil­lern – kann er ja dann der­wei­len mit euch her­de­kla­mie­ren. Von mir weiß ich Be­scheid und sage, erst es­sen, und zwar or­dent­lich, und dann mei­net­we­gen so viel Poe­sie und Ge­schich­te und Phi­lo­so­phie und Äs­the­tik, als ihr wollt und leis­ten könnt. Was sagst du, Fräu­lein Grä­fin?«

      »Nach dem Es­sen! In dem Gras­gar­ten im Gra­se und im Schat­ten. Lass aber jetzt nur das lan­ge Re­den; die Son­ne sticht zu arg. Ev­chen, ach Gott, am bes­ten ist’s, man macht die Au­gen zu und läuft zu und denkt sich lang hin in das Gras in dem Gras­gar­ten un­ter den großen Kirsch­baum.«

      »Siehst du! Und heu­te Abend müs­sen wir auch wie­der nach Haus. O, ihr habt ja nicht auf mich hö­ren wol­len!«

      »Mit ei­ner Mam­sell wie du drei Schrit­te über die Gar­ten­he­cke hin­aus spa­zie­ren­zu­ge­hen, ist wirk­lich ein Plä­sier«, brummt Ewald halb höh­nisch, halb ver­drieß­lich.

      Wäre der Weg noch eine Vier­tel­stun­de län­ger, so ist nicht ab­zu­se­hen, wie tief un­se­re Stim­mung noch sin­ken könn­te. Das ist die ge­wich­ti­ge Vier­tel­stun­de, auf die es in so vie­len Er­den­la­gen und Stim­mun­gen an­kommt zu un­se­rem Be­ha­gen oder Elend. Wir ha­ben dies­mal glück­li­cher­wei­se nur noch fünf Mi­nu­ten in ei­nem stei­ni­gen, hol­pe­rich­ten, aus­ge­fah­re­nen Feld- und Hohl­we­ge zu­rück­zu­le­gen, um wie­der auf al­len Hö­hen un­se­res jun­gen, tau­feuch­ten Som­mer- und Son­nen­rau­sches fes­ten Fuß zu fas­sen.

      »Hur­ra, der Stein­hof!… Vi­vat der Vet­ter Just Ever­stein!« – – –

      »I, i, wat kümmt mi denn da?« sag­te der Vet­ter. »Das ist aber schön! I, siehst du wohl, hier sit­ze ich nun schon den hal­b­en ge­schla­ge­nen Mor­gen und war­te auf Trost. Da kommt er mir vier­spän­nig, ge­ra­de als ich den­ke, Just, jetzt gehst du zum Es­sen, ohne dass sie dich su­chen, sonst gibt es noch mehr Spek­ta­kel und Un­frie­den auf dem Hofe, und du hast ei­gent­lich ge­ra­de ge­nug für heu­te da­von.«

      Er saß wirk­lich auf ei­nem Stein am Wege un­ter ei­nem Dorn­busch au­ßer­halb sei­nes Erb­sit­zes, die­ser ku­rio­se Vet­ter; und als er da­mals auf­steht und gähnt und grinst und sich reckt und dehnt, ist er ein lang auf­ge­schos­se­ner Jun­ge von nicht ganz zwan­zig Jah­ren. Ein voll­kom­me­ner, aber aus al­lem rund um ihn und an ihm her­aus­ge­wach­se­ner Jun­ge. Dass also al­les, was aus ihm noch wer­den kann, au­gen­blick­lich noch in ihm steckt, ist si­cher­lich et­was, was nur sehr we­ni­ge mei­ner frag­li­chen Le­ser ver­mu­te­ten. So ei­ner, der et­was sel­ber er­lebt und er­fah­ren hat, ist im­mer klü­ger als der­je­ni­ge, wel­chem er nach­her da­von er­zählt.

      »Hol­la, was schiebst du in die Ta­sche, Vet­ter? Rich­tig, da sitzt er in der Son­ne und ver­stu­diert sich wei­ter! Zeig gut­wil­lig, oder ich zie­he dir mit der Ja­cke das Fell vom Lei­be!« ruft Ewald. »Kin­der, jetzt macht er auch Ver­se!… Ge­dan­ken­spie­le beim Pflü­gen!… Als Hann­chen in die Flachs­rot­te fiel!… Und da hat er den al­ten Ur­la­tei­ner, Va­ter Bro­eder, auf dem Feld­stei­ne warm ge­ses­sen. Ei, guck mal, Frit­ze, ge­ra­de wie wir auf dem dum­men Gym­na­si­um! Was nicht von oben in den Kopf will, dem kommt man viel be­que­mer mit ei­nem an­de­ren Kör­per­tei­le bei. Hat je­mals je­mand so einen ver­rück­ten Kerl er­lebt? Es ist doch rei­ne­wegs nicht zu glau­ben, was die Mensch­heit al­les leis­ten kann. Und dann möch­te man sich da nicht die Haa­re dar­über aus­rau­fen, dass man nicht die Häu­te mit sei­nem Ne­ben­menschen aus­tau­schen kann? O ihr gott­ver­damm­ten Göt­ter von Rom und Grie­chen­land, was gäbe ich da­für, wenn ich der Bau­er auf dem Stein­ho­fe wäre und die­ses ur­ver­bohr­te Mon­strum mit sei­ner la­tei­ni­schen Gram­ma­tik hier ich!«

      »Jetzt höre auf oder du wirst lang­wei­lig, Ewald«, rief Ire­ne Ever­stein. »Kom­men Sie, Vet­ter Just, und hö­ren Sie nicht auf den al­ber­nen Ben­gel –«

      »Und du bist doch nicht böse, dass wir schon wie­der da sind, lie­ber Just?« fragt Eva. »Die bei­den Jun­gen sind schuld dar­an; ich woll­te ei­gent­lich nicht mit –«

      »Und wenn sie alle im Gras­gar­ten im Gra­se lie­gen und schnar­chen, dann sit­zen wir bei­de wach zu­sam­men, Just!« sage ich; und der Vet­ter, blö­de, freund­lich, see­len­ver­gnügt und nicht »ur­ver­bohrt«, son­dern ur­ver­schämt sein glän­zend Ge­biss im Krei­se her­um zei­gend, steht in un­se­rer Mit­te; und es hat ge­wiss sel­ten einen an­de­ren Men­schen ge­ge­ben, der sich so we­nig wie er um die­se Le­bens­zeit ge­gen Güte und Bos­heit der Welt zu weh­ren wuss­te.

      Gott­lob kommt ihm auch jetzt ein Trost und eine Hil­fe aus der Fer­ne her, näm­lich vom Zaun des Stein­ho­fes.

      »Da ruft sie zum Es­sen! Und wir ha­ben ges­tern ein Rind – ich will lie­ber nicht sa­gen ge­gen mei­nen Wil­len, son­dern we­gen Fut­ter­man­gel, wie sie sagt, ge­schlach­tet. Und jetzt kommt nur rasch; ihr kennt sie ja!«

      In Bo­den­wer­der wird es wahr­schein­lich ge­ra­de zwölf Uhr schla­gen. – – –

      Es ist ein schlech­ter Bo­den, sag­ten die Leu­te, die sich dar­auf ver­stan­den, von dem Stein­ho­fe und der da­zu­ge­hö­ri­gen Län­de­rei, und sie konn­ten nichts da­für, wenn sie es nicht ahn­ten, was für Pracht­ge­wäch­se die­ser schlech­te Bo­den her­vor­zu­brin­gen ver­moch­te. Es war Jule Gro­te, die über den Zaun rief, und zwar mit ei­ner Stim­me, in die der Him­mel al­les Gift, was er eben vor­rä­tig hat­te ge­gen die ir­di­schen Zu­stän­de, hin­ein­ge­legt zu ha­ben schi­en.

      Ich ken­ne es heu­te viel bes­ser als da­mals, das gute alte Mäd­chen näm­lich, und weiß, was der Vet­ter an ihr hat­te. Er weiß es eben­falls heu­te bes­ser als da­mals. Da­mals, das heißt an je­nem Tage, schob er uns sich vor­an auf dem Feld­we­ge durch den kärg­li­chen Ha­fera­cker und brumm­te:

      »Ich kom­me mit; aber, Kin­der, ich sage euch, ger­ne wäre ich heu­te al­lein nicht nach Hau­se ge­gan­gen! Es ist al­les mal wie­der vom frü­hen Mor­gen an kopf­über kopf­un­ter ge­gan­gen, und ich bin an al­lem schuld ge­we­sen. Ach Gott, ach Gott, wo ich mei­ne Hän­de habe, soll ich mei­nen Kopf ha­ben, und wo ich mei­nen Kopf habe, da will sie mei­ne Hän­de se­hen. Und dann soll ich mei­ne fünf ge­sun­den Sin­ne zu­sam­men­neh­men und be­den­ken, wozu mich der lie­be Herr­gott in die Welt und hier auf den Stein­hof hin­ge­setzt hat. Und wenn sie nur wüss­te, wer ihr all das Elend mit mir ein­ge­brockt hat, sagt sie. Es muss wohl von weit her kom­men, meint sie, und das ist das ein­zi­ge, was sie dar­über weiß; und ich, Fritz, ich weiß auch nicht mehr. Sie hat doch mei­nen Va­ter ge­kannt, und mei­nen Groß­va­ter dun­kel: von den zwei habe ich es wohl auch et­was, aber nicht ganz, sagt sie, wenn ihr die Hän­de an­fan­gen vor Är­ger zu zit­tern und sie mit der Schür­ze vor den Au­gen ab­ge­ht und ich auch und ihr doch nichts in der Wirt­schaft in den Weg lege, son­dern sie mit der Vor­mund­schaft ru­hig re­gie­ren las­se hier auf dem Stein­ho­fe. Und denn wer­de ich doch auch erst nächs­te Os­tern übers Jahr mün­dig und mein ei­ge­ner Herr!«

      Mit ei­ner uns an ihr ganz frem­den Gra­zie schiebt Ire­ne Ever­stein ih­ren Arm in den des ar­men Teu­fels und sagt:

      »Bit­te, Herr Just.«

      Das war ganz und gar mei­ne Mut­ter in ih­rem Ver­kehr mit ih­rer Um­ge­bung; aber bei mei­ner Mut­ter hat­te sie noch nie dar­auf ge­ach­tet, wie vor­nehm sie mit den Leu­ten um­zu­ge­hen wuss­te.

      In die­sem Mo­ment aber war es na­tür­lich Herr Ewald Six­tus, Un­ter­se­kun­da­ner usw., der’s


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