Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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of­fe­nen Glas­tür, die zu den Ge­bü­schen und Blu­men­bee­ten führ­te, und des Pfaus, der wie neu­gie­rig in die­ser Tür stand und sei­nen schö­nen Schweif gra­vi­tä­tisch lang­sam im Kreis über den fei­nen Kies zog. Wir ha­ben nach­her die­sen Ort zu al­len Jah­res­zei­ten als Spiel­platz gern ge­habt, und es hat mich we­nig ge­küm­mert, dass man einst mei­nen ster­ben­den Va­ter da­hin als in das nächst und be­quemst ge­le­ge­ne Ge­mach bet­te­te.

      An je­nem Mor­gen wa­ren vie­le Leu­te dar­in, und wahr­schein­lich dar­un­ter auch ein Arzt. Mei­ne Mut­ter warf sich jam­mernd über das La­ger, und ich stand einen Au­gen­blick wie al­lein un­ter den vie­len Frem­den.

      Es war der Herr Graf, der mich an der Hand nahm und mich gleich­falls zu dem Bet­te hin­führ­te. Die Mut­ter lag da be­wusst­los, und der Va­ter war tot.

      Das letz­te­re Wort wur­de im Krei­se um­her­ge­flüs­tert; ich aber weiß nun­mehr von je­nem Tage nur noch, dass ich in ein an­de­res Zim­mer ge­führt wur­de und da­selbst mit Ire­ne, Kom­tes­se Ever­stein, Milch trank und Weiß­brot aß. Al­les an­de­re ist däm­me­rig, un­be­stimmt, dun­kel – ist nichts. Es war mein Recht, durs­tig, hung­rig und schläf­rig zu sein von der Fahrt durch den hei­ßen Som­mer­mor­gen; nach­her sehe ich mich wie­der um in mei­ner Um­ge­bung und – sie ist eine an­de­re ge­wor­den, als sie war. Und hier ist die Stel­le, ein we­ni­ges mehr von mei­ner Mut­ter zu re­den, und wie sie in eine hohe Ver­wandt­schaft ge­hör­te und das Recht dazu von Got­tes Gna­den be­saß und auf­wei­sen konn­te.

      Den gott­lob kaum er­wäh­nens­wer­ten An­satz von Bu­ckel, den mir das Schick­sal zwi­schen die Schul­tern und, wie ei­ni­ge wis­sen wol­len, in be­deu­tend hö­he­rem Gra­de auch auf die See­le ge­legt hat, habe ich ge­wiss­lich nicht von ih­r. Schlank, zart, scheu-mu­tig steht sie mir vor der Erin­ne­rung, und ein Licht geht von ihr aus, das von kei­ner Dun­kel­heit und noch viel we­ni­ger von ei­nem an­de­ren Licht in der Welt über­wäl­tigt wer­den kann. Sie trägt ihre Freu­den wie ihre bit­ters­ten, schwers­ten Schmer­zen still und so, dem Schein nach, leicht. Ihr wur­de al­les zu ei­nem Kran­ze, und wo­her sie ihre Bil­dung hat­te, das bleibt ein Rät­sel, und sie sel­ber wuss­te viel­leicht am al­ler­we­nigs­ten Re­chen­schaft dar­über ab­zu­le­gen. In der »Mäd­chen­schu­le« ei­ner klei­nen Pro­vin­zi­al­stadt hat­te sie im zwei­ten Jahr­zehnt die­ses Jahr­hun­derts Le­sen, Schrei­ben, Rech­nen und – Sin­gen ge­lernt, das war al­les; aber wenn wo die ers­ten neun Wor­te, mit de­nen ich die­sen mei­nen Le­bens­be­richt er­öff­net habe, zur Gel­tung kom­men, so war das bei ihr der Fall. Sie ist da­ge­we­sen wie das große Kunst­werk von Got­tes Gna­den; sie ist vor­über­ge­gan­gen. Sie sind alle bei ihr wie bei ih­res­glei­chen ge­we­sen; sie ha­ben kei­ne Ah­nung da­von ge­habt, dass dem nicht so war; ihr ist es nie in den Sinn ge­kom­men, sie zu ent­täu­schen; denn sie hat­te ja ei­gent­lich auch kei­ne Ah­nung da­von.

      Ich bin fest über­zeugt, sie hat einen ar­gen Schre­cken be­kom­men, als der Herr Graf sag­te:

      »Mei­ne ver­ehr­te Frau, Sie sind die Dame, die mir für die Er­zie­hung mei­nes ar­men Kin­des in sei­ner jet­zi­gen Le­bens­epo­che ge­fehlt hat und die ich seit lan­gem ver­geb­lich ge­sucht habe. Blei­ben Sie bei uns. Be­trach­ten Sie sich als zu die­sem Hau­se ge­hö­rig. Sie er­zie­hen mei­ne Toch­ter, und ich neh­me die Er­zie­hung Ihres Soh­nes nach bes­ten Kräf­ten über mich. Wir ha­ben einen recht ge­lehr­ten Pfar­rer im Dor­fe, der wird das Sei­ni­ge da­zu­ge­ben. Ist der Jun­ge für das Gym­na­si­um her­an­ge­wach­sen, so wird sich ja­wohl auch das Wei­te­re fin­den. Las­sen Sie uns ein­an­der ge­gen­sei­tig aus­hel­fen, da uns das Schick­sal in die­ser Wei­se zu­sam­men­ge­führt hat. Sie wis­sen nicht, wie hilf­los ich in hun­dert Be­zie­hun­gen bin.«

      Nun war auch mei­ne Mut­ter, wie sich das ja ei­gent­lich von sel­ber ver­stand, fast nach al­len Rich­tun­gen und in al­len Be­zie­hun­gen hilf­los. Au­ßer­dem aber, wie es sich bal­digst her­aus­stell­te, für ih­ren und mei­nen Un­ter­halt nach dem Tode des Va­ters auf eine Pen­si­on von sech­zig Ta­lern an­ge­wie­sen, sonst aber auf ih­rer Hän­de Ar­beit.

      »Was soll ich Ihrem Kin­de ge­ben kön­nen?« frag­te sie in hef­ti­ger Auf­re­gung; aber der Herr Graf hat ge­lä­chelt, wenn auch sehr me­lan­cho­lisch. Er hat es sehr ge­nau ge­wusst, was die arme Frau aus ih­rem Reich­tum zu ge­ben hat­te.

      Wir, das heißt mei­ne Mut­ter und ich, sie­del­ten im Lau­fe des­sel­ben Som­mers nach Schloss Wer­den über. Der Herr Graf hat­te sich aber nicht ge­irrt: wenn die Leu­te, die man in der Fer­ne auf­sucht, sich stets in die Leu­te ver­wan­deln, die man rund­um in der nächs­ten Nach­bar­schaft woh­nen hat, so ist das für sei­ne Toch­ter und für ihn sel­ber in Hin­sicht auf die Wit­we des rei­ten­den Steu­er­kon­trol­leurs Lan­greu­ter nicht der Fall ge­we­sen. Und ich – ich, wenn ich in die Son­ne se­hen will, so hebe ich nicht das Auge zu dem öden bren­nen­den Stern auf, son­dern den­ke mich in jene Tage und Jah­re zu­rück, die da folg­ten.

      Viertes Kapitel

      Ich bin im Ver­lau­fe der Tage in des Le­bens Er­nüch­te­run­gen wie an­de­re tief ge­nug hin­ein­ge­ra­ten, aber mei­ne in Blau, Sil­ber, Grün, Gold und Pur­pur schim­mern­den Mär­chen­jah­re habe ich auch ge­habt. Hier be­gin­nen sie und ver­wan­deln mir auch den heu­ti­gen Tag in sein voll­stän­di­ges Ge­gen­teil. Dass ich ein poe­tisch Ge­müt sei, das hat nach­her wohl nie­mand von mir be­haup­tet (ich habe we­nigs­tens al­les da­hin Ein­schlä­gi­ge vor­sich­tig und fest für mich sel­ber be­hal­ten), aber da­mals war doch man­ches Ge­dicht – ech­te Na­tur­dich­tung – in mir und um mich, und al­les Heim­weh – die Quel­le al­ler Poe­sie –, das ich in lee­re­ren Ta­gen ge­fühlt habe, stammt aus die­ser Zeit und geht da­hin.

      Wir grü­beln viel, wir ge­bil­de­ten, klug, das heißt dumm ge­wor­de­nen Men­schen, über den Schein in die­ser Welt, der sich den An­schein des We­sens gibt: ach, wenn er nur schön war, die­ser Schein, wer möch­te ihn miss­en wol­len aus sei­nen Ta­gen? Wer möch­te nicht dumm, das heißt klug ge­we­sen sein, wenn auch nur in den Ta­gen, da er noch jung war?!…

      Ich bin na­tür­lich zu­erst nur mit in den Kauf ge­nom­men wor­den auf Schloss Wer­den. Ich kam als ein Ap­pen­dix mei­ner Mut­ter da­hin; und es war mir ganz recht so, und es war gut so; es war al­les ganz vor­treff­lich. Die Welt am sie­ben­ten Schöp­fungs­ta­ge konn­te un­se­rem Herr­gott nicht um das min­des­te bes­ser ge­fal­len; das Be­ha­gen des einen wäre hier frei­lich ohne die Se­lig­keit des an­de­ren gar nicht mög­lich ge­we­sen!

      »Gib mir dei­ne Hand, Jun­ge; ich will dir al­les zei­gen, was ich habe«, sag­te Kom­tes­se Ire­ne Ever­stein. »Du kommst aus der wei­ten Welt, und ich bin hier im­mer bei Papa ge­we­sen. Mach dich aber nicht mau­sig; Ewald wird dich sonst durch­prü­geln, wenn Eva nicht da­bei ist.«

      Ich habe erst spä­ter, als wir »in das Grie­chi­sche ka­men«, er­fah­ren, dass der Name Ire­ne ei­gent­lich Frie­de oder die Fried­li­che be­deu­tet; aber Na­men und Sa­chen, Wor­te und Be­grif­fe pas­sen nicht zu je­der Zeit auf­ein­an­der. Es gin­ge so sonst ja­wohl auch ein we­nig zu glatt ab in die­ser doch ein­mal auf das Raue ge­stell­ten Welt.

      »Weißt du, Jun­ge«, sag­te das Kind, »ich bin die Prin­zes­sin aus dem Bil­der­bu­che, ich bin die Fee, ich zau­be­re. Wenn du nicht ar­tig bist, so ver­wand­le ich dich in einen schnur­ren­den, bu­cke­li­gen Ka­ter. Wenn du aber Ewald was da­von sagst, so prü­ge­le ich sel­ber dich,


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