Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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ich auch nicht ge­wusst hat­te, wo Ire­ne von Ever­stein au­gen­blick­lich leb­te. Es war ein Wun­der, dass ich mei­nen Weg nach Hau­se in mei­ner jet­zi­gen Stim­mung zu fin­den wuss­te.

      Dreizehntes Kapitel

      Und dann kam wie­der eine Stun­de, in der ich wie­der auf mei­ner Stu­be al­lein saß, und zwar tief in der Nacht oder viel­mehr früh am Mor­gen. Drau­ßen tob­te das schlech­tes­te Wet­ter der Jah­res­zeit, und von den Wän­den sa­hen mich durch den Ta­baks­qualm des Vet­ters mei­ne Bü­cher an, und zwar eben­falls wie et­was, das mich nur zu oft ab­ge­hal­ten hat­te, die bes­ten Le­bens­stun­den, wie es sich ge­hör­te, aus­zu­nut­zen und mein Teil von der Son­ne, der fri­schen Luft und der frei­en Welt mit al­len fünf Sin­nen und vor al­lem mit Hän­den, Fü­ßen und Lun­gen ein­zu­ho­len.

      Der Vet­ter Just hat­te mir ein Pri­va­tis­si­mum vor­ge­tra­gen, wie ich es nie ge­le­sen habe und lei­der auch nie le­sen wer­de. Er hat­te mir über sei­nen Le­bens­gang Be­richt ge­ge­ben von je­nem Mor­gen an, wo der Bo­den­wer­der­sche Land­post­bo­te auf dem Stein­ho­fe un­se­ren jun­gen gu­ten Kreis spreng­te, bis auf die eben ab­ge­lau­fe­ne wun­der­li­che Stun­de.

      Nun konn­te ich wohl sit­zen, mir den Kopf mit bei­den Hän­den hal­ten und Ge­wis­sens­bis­se der schlimms­ten Art ha­ben, näm­lich die der viel­be­schäf­tig­ten, selbst­ge­nüg­sa­men In­do­lenz, die plötz­lich zu dem Be­wusst­sein kommt, wie we­nig auf Er­den durch sie zum Gu­ten, Wirk­li­chen und Wah­ren aus­ge­rich­tet wird! Ich hat­te sel­ten kläg­li­cher ge­seufzt und jäm­mer­li­cher nach Luft ge­schnappt als in je­ner Nacht; und des Vet­ters Knas­ter­ge­wölk war wahr­lich nicht schuld an der er­bärm­li­chen Atem­not.

      Mit­tel­al­ter­li­ches Quel­len­stu­di­um hat­te ich zur Ge­nü­ge für mich und an­de­re ge­trie­ben und konn­te ge­naue Aus­kunft ge­ben, zum Exem­pel über die An­na­len von Brau­wei­ler, die sich so sehr dar­über be­klag­ten, dass die Ket­zer so vie­le Wun­der tä­ten, und die na­tür­lich das Na­hen des An­ti­christs, des all­ge­mei­nen Durchein­an­ders, dar­aus vordeu­te­ten (o die­ser Ket­zer von Vet­ter!), aber die Quel­len des le­ben­di­gen Da­seins, die ne­ben mir aus dem Bo­den auf­spru­del­ten, jede nach ih­rer Art trü­be oder klar, mit ih­ren Kris­tall­bla­sen und über­hän­gen­dem Grün, mit ih­rem Trei­ben von Kin­der­mühl­wer­ken und Fa­bri­krä­dern, mit ih­rem Rau­schen über Stock und Stein, die wa­ren mir nur zu sehr aus dem Ge­sicht und Ge­hör fern­ge­blie­ben! In mei­nem Kop­fe war in je­ner Nacht, nach­dem der Vet­ter Just Ever­stein Fa­re­well oder Good night ge­sagt hat­te, das große Durchein­an­der un­be­dingt mo­men­tan vor­han­den, und es kos­te­te kei­ne ge­rin­ge Mühe, nur die al­ler­nö­tigs­te Ord­nung wie­der in das Cha­os zu brin­gen.

      Ach, Vet­ter Just, was hat­te ich dir auf dei­ne Er­zäh­lung als Ge­gen­ga­be mei­ner­seits zu bie­ten? Wie we­nig fühl­te ich mich per­sön­lich in den En­thu­si­as­mus ein­be­grif­fen, mit dem du die Ti­tel auf den Bü­cher­bret­tern an die­sen nichts­nut­zi­gen vier Wän­den her­la­sest und buch­sta­bier­test!… Aber das Ärgs­te war doch, Vet­ter, als du so ganz bei­läu­fig und gut­mü­tig be­merk­test:

      »Das ist der gan­ze Stein­hof und mei­ne Er­ker­stu­be und mei­ne Ge­füh­le – wie’s leibt und lebt! O Fritz, du hast es gut ge­habt und bist im­mer mit­ten in al­len dei­nen An­la­gen und Wün­schen ge­blie­ben, und kei­ner hat dich ge­stört: glaub nur ja nicht, dass ich dir noch­mals einen Vor­wurf dar­aus ma­che, dass du heu­te Mit­tag bei Ti­sche so gar nichts von uns an­de­ren ge­wusst hast. Ich hät­te si­cher­lich eben­so­we­nig da­von ge­wusst, wenn ich du ge­we­sen wäre! Du bist ja frei­lich ein ganz fa­mo­ser Kerl! Ein Rie­se bist du!«…

      So fühl­te ich mich frei­lich in je­ner Nacht – ach, du liebs­ter Him­mel! Und jetzt las­se ich die Arme sin­ken und las­se den Vet­ter Just Ever­stein er­zäh­len.

      »Dass man die größ­ten Wun­der zu Hau­se er­lebt«, sag­te er, »das lernt man erst in der Frem­de er­ken­nen. Man braucht sich über­all nur fest hin­zu­stel­len mit dem, was man von sei­nem ei­ge­nen Grund und Bo­den mit­ge­bracht hat, um dem Aus­lan­de ver­dammt merk­wür­dig vor­zu­kom­men. Das ist mei­ne Er­fah­rung, und so habe ich selbst als Deut­scher den lie­ben Leu­ten da drü­ben ganz de­vi­lish im­po­niert. Mit den lie­ben Leu­ten aber mei­ne ich sämt­li­che Bür­ger der Ve­rei­nig­ten Staa­ten von Nord­ame­ri­ka, von den großen Seen bis an den äu­ßers­ten Zip­fel der Halb­in­sel Flo­ri­da und von ei­nem Ozean bis zum an­de­ren. Ich freu­te mich auch da schon auf das Wie­der­se­hen mit un­se­rem gu­ten Ewald, bloß um ihn fra­gen zu kön­nen, wie es ihm in die­ser Hin­sicht au­ßer­halb der deut­schen Na­ti­on er­gan­gen sei. Nun, ihm na­tür­lich, we­nigs­tens in die­ser Be­zie­hung, noch um man­ches Pro­zent bes­ser als mir; das steht fest, ich glau­be nicht, dass es mir bloß so scheint! Du weißt, un­ter wel­chen schau­der­haf­ten und un­an­ge­neh­men Um­stän­den ich von euch und dem Stein­ho­fe und dem Va­ter­lan­de über­haupt Ab­schied zu neh­men hat­te. Ein blö­de­rer Han­stof­fel als ich ist wohl sel­ten aus sei­nem Traum­win­kel und von der Ofen­bank an die freie Luft hin­aus­be­för­dert wor­den. Al­les, was ihr nach­her er­lebt ha­ben könnt (Fräu­lein Ire­ne neh­me ich aus!), ist gar nichts ge­gen das, was ich an je­nem schö­nen Som­mer­ta­ge und dann bei der Auk­ti­on aus­ge­stan­den habe. Und wie die Welt ist, nimm mir das nicht übel, Frit­ze, so ließ sich kei­ner von euch auf dem Hofe mir zum Tros­te und der al­ten Jule zur Auf­rich­tung bli­cken; und so wa­ren wir denn ein­zig und al­lein auf uns sel­ber an­ge­wie­sen in dem Ver­druss und Elend, ich und Jule Gro­te. Ich ma­che dir üb­ri­gens durch­aus kei­nen Vor­wurf, Fritz­chen, denn ich weiß es wohl, dass ihr euch da­mals gleich­falls durch schlim­me Tage durch­zu­fres­sen hat­tet. Aber uh, die alte Jule! Da habe ich das Mei­ni­ge zu hö­ren ge­kriegt vom Mor­gen bis zum Abend. Und, was das schlimms­te war, durch­aus nicht mehr mit Gift und Gal­le und spit­zen Re­den, son­dern al­les in Weh­mut und Her­ze­leid, und – ›mein ar­mer, lie­ber Just‹ hier –, ›mein ar­mer, ar­mer Jun­ge‹ da! – Zum Heu­len war’s! Die Haa­re ste­hen mir heu­te noch dar­über zu Ber­ge. Ganz un­er­träg­lich! – – ›Dich hät­te ich gar nicht aus dei­nen Win­deln her­aus­wi­ckeln sol­len, Just‹ – win­sel­te die Alte fort und fort, als ob ich an dem tag­täg­li­chen Exe­ku­tor nicht schon ge­nug zu tra­gen ge­habt hät­te. Gott­lob, dass das al­les da­mals war und nicht heu­te noch mal ganz von vorn an durch­ge­macht wer­den muss! – Und ein Glück war es in al­lem Un­glück, dass ich für die gute alte See­le am we­nigs­ten zu sor­gen hat­te. Ich kam ihr ein­mal mit dem Wort und der schwe­ren Her­zens­angst; aber da hät­test du Jule Gro­te in ih­rer Glo­rie se­hen und hö­ren kön­nen, Fritz Lan­greu­ter! Kei­ne Kat­ze konn­te gif­ti­ger auf­pus­ten. Da ging es los wie die Kas­ta­ni­en in der Asche, und die Asche flog mir arg ge­nug in das Ge­sicht. – ›O du dum­mer Ben­gel, willst du dich auch da noch zum Nar­ren ma­chen? Mich willst du un­glück­se­lig, ge­scho­ren Schaflamm be­mut­tern? Du hilflo­se, über­ge­schnapp­te Krea­tur, du? Du hast doch sonst im­mer mit dei­nem dum­men Maul war­ten kön­nen, bis du ge­fragt wur­dest! Ach, Gott, nun auch das noch!… Um mich macht sich das Kind zu gu­ter Letzt auch noch sei­ne Ge­dan­ken. Da ist es denn frei­lich wohl mit uns zum Schlimms­ten ge­kom­men! Zu glau­ben steht es frei­lich nicht, du – Töf­fel!‹

      Das war das rich­ti­ge Wort, Fritz. Für sie bin ich mein Leb­ta­ge der klei­ne Töf­fel ge­we­sen, und ich kann dir gar nicht sa­gen, Frit­ze, wie wohl es mir je­des Mal ums Herz wird, wenn ich dar­an den­ke,


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