Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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mich nicht ganz ge­heu­ren Tag, der nun­mehr in die som­mer­li­che Abend­däm­merung über­ging. Und es war durch­aus kein in är­ger­li­cher oder geis­tig-be­schwer­li­cher und über­has­te­ter Ar­beit hin­ge­brach­ter Tag, son­dern ei­ner von den fau­len, trä­gen, apa­thi­schen, die, wenn sie ei­ner hin­ter dem an­de­ren hin­schlei­chen, auf die Län­ge noch un­er­träg­li­cher wer­den als die ers­te Art. O über die­se lan­gen, schlep­pen­den Stun­den, die bei dem Regs­ten, Le­ben­digs­ten nach zu­rück­ge­leg­tem drei­ßigs­ten Le­bens­jah­re sich ein­zu­schlei­chen be­gin­nen und so­gar durch den Kampf mit ih­nen dann und wann nur ver­viel­fäl­tigt wer­den! Das sind die Tage, in de­nen man sich sel­ber wie ein Cha­rak­ter in ei­nem schlech­ten Ro­ma­ne vor­kom­men kann, ein un­mög­li­ches Ge­schöpf, mit dem der Au­tor eben auch nichts an­zu­fan­gen wuss­te. Öde Ma­ku­la­tur­stim­mung! Das ist das rich­ti­ge Wort; und – ein La­chen oder Wei­nen über und um einen scheint es nie in der Welt ge­ge­ben zu ha­ben in die­ser Stim­mung!

      Und nun, wie kam es, dass ich mich plötz­lich über die Ver­fas­se­rin von God­wie Cast­le weg auf ei­ner stil­len Ber­gleh­ne, un­ter der fuß­ho­hen Tan­nen­an­pflan­zung und im Thy­mi­ans­duft und der brü­ten­den Abend­son­ne der Ju­gend­zeit wie­der­fand?

      Es ist schwie­rig zu sa­gen, wie ge­ra­de in die­sen Fäl­len see­li­scher Be­drückt­heit aus Dun­kel­heit Licht wird; und ich hüte mich auch wohl, die Lö­sung mit zu großer An­stren­gung zu su­chen. Der vor­ge­scho­be­ne Rie­gel aber tut un­be­dingt viel dazu, und umso mehr, je has­ti­ger und ver­wor­re­ner das Le­ben jen­seits der Tür sich be­wegt und vor dem Fens­ter rauscht…

      »Ich bin’s, Herr Dok­tor!«

      »Wer? In al­ler Pla­ge­geis­ter Na­men!«

      »Ich, Herr Dok­tor. Die Wit­we Mai­er. Und dann der frem­de Herr wie­der, der heu­te Mor­gen schon ein­mal da war und sei­nen Na­men nur Ih­nen sel­ber sa­gen woll­te.«

      Ich hat­te die Stim­me mei­ner Frau Haus­wir­tin be­reits er­kannt.

      »I, so wollt ich doch!« Und der son­ni­ge Ber­grücken mit sei­ner Tan­nen­an­pflan­zung und sei­nem Thy­mi­ans­duft, die Hü­gel mit ih­ren Wäl­dern, Wie­sen und Acker­strei­fen nah und fern, der fer­ne Fluss und die Kirchtür­me der Hei­mats­dör­fer wa­ren ver­sun­ken: der frem­de Herr, der am Mor­gen wäh­rend mei­ner Ab­we­sen­heit be­reits ein­mal da­ge­we­sen war und sei­nen Na­men nicht hat­te kund­ge­ben wol­len, stand vor mir – statt­lich, braun­bär­tig, breit­schul­te­rig und in ei­nem wohl­sit­zen­den kleid­sa­men Som­mer­ko­stüm. Und an­statt jetzt zu­erst mir sei­nen Na­men zu nen­nen, reich­te er mir die Hand ent­ge­gen und sag­te mit dem Aus­druck ver­zwick­test ge­las­se­ner Bon­ho­mie:

      »Gu­ten Abend, Lan­greu­ter.«

      Ich aber stand dem lan­gen, fes­ten Men­schen ge­gen­über auf ziem­lich un­si­che­ren Fü­ßen:

      »Das ist – ich bin – aber ist denn das?… Ewald?!… Mein Gott, Ewald Six­tus!… Ist es denn mög­lich?… Ewald Six­tus! Bei al­lem, was lebt, das bist du?«

      »Und du bist das auch!« sprach der Freund. »Ich habe dich so­fort wie­der­er­kannt, und jetzt sei so gut und nimm mei­ne Hand; ihr bra­ven über­sinn­li­chen Zweif­ler habt ge­wöhn­lich am in­nigs­ten das Be­dürf­nis, euch durch Be­füh­len von der Wirk­lich­keit der Din­ge zu über­zeu­gen. Al­ter Freund Tho­mas, ich freue mich un­end­lich, dich end­lich mal wie­der­zu­se­hen!«

      Ich setz­te mich, rede aber von den Lau­ten und Ges­ten der Über­ra­schung nicht wei­ter, sie wie­der­ho­len sich wie al­les üb­ri­ge auf Er­den. Aber al­les, was mir der Vet­ter Just neu­lich von sei­nem Be­su­che in Bel­fast und von die­sem Man­ne er­zählt hat­te, glitt jetzt blitz­schnell durch mein Ge­hirn. Der iri­sche In­ge­nieur aus Bel­fast, Herr Ewald Six­tus aus Wer­den, nahm auch einen Stuhl und setz­te sich gleich­falls und – sah mich von der Sei­te an.

      Ei­nes hat­te ich in mei­ner Ein­sam­keit zu ei­ner ge­wis­sen Voll­kom­men­heit ge­bracht: die große Kunst, auf Bli­cke zu ach­ten, und die­ser hob mir nur den Vor­hang von ei­ner ur­al­ten Leh­re weg:

      »Nun, dies ist aber groß­ar­tig! Er ist ganz der alte ge­blie­ben, und er hat den Vet­ter Just und uns alle jetzt nur ge­ra­de­so zum Nar­ren ge­hal­ten wie vor zehn, fünf­zehn oder zwan­zig Jah­ren!…«

      Wie ein Schlei­er sank es aber­mals nie­der vor der Zeit, die vor zehn, zwan­zig und noch mehr Jah­ren war. Schloss und Dorf Wer­den, die We­ser und der Stein­hof la­gen aber­mals im Son­nen­lich­te; aber durch das Son­nen­licht lie­f’s wie ein son­ni­ges, mut­wil­li­ges Grin­sen, und – Ewald Six­tus hieß ei­ner der Haupt­zü­ge der schö­nen Ge­gend!

      »O Ewald!… Will­kom­men! Sei mir herz­lich will­kom­men zu Hau­se!… Der Vet­ter Just – un­ser Just Ever­stein hat mich neu­lich schon von dir ge­grüßt!«

      »Un­mög­lich!« sprach die­ser voll­kom­men ir­län­di­sche Land- und Was­ser­bau­künst­ler tro­cken. »Och ho­ney, ich er­in­ne­re mich nicht, ir­gend­je­mand einen Gruß an Euch mit­ge­ge­ben zu ha­ben.«

      Eine sol­che Mi­schung von grü­nem Erin und den grüns­ten Wald- und Wie­sen­ge­he­gen rund um Schloss und Dorf Wer­den war seit An­fang der Din­ge noch nicht da­ge­we­sen und kam viel­leicht auch bis zum Ende der­sel­bi­gen nicht wie­der! Bei al­lem, was je die Schu­le schwänz­te, den bie­ders­ten Nach­bar zum bes­ten hat­te und je in die wei­te Welt auf Aben­teu­er durch­ging, was war denn dies?

      Und der Vet­ter Just war doch ein Mann, der auch all­mäh­lich al­ler­lei Men­schen ge­se­hen hat­te und auf des­sen Beo­b­ach­tungs­ga­be und Ur­teils­kraft man sich jetzt doch so ziem­lich ver­las­sen konn­te! Soll­te der Vet­ter Just, der sich so lan­ge un­ter den schlau­en Ame­ri­ka­nern auf­ge­hal­ten hat­te, die­ser Vet­ter, der es durch mehr als eine Tat be­wie­sen hat­te, dass man sei­nen Er­fah­run­gen so ziem­lich trau­en durf­te, – sich so sehr ge­irrt ha­ben? Soll­te er wirk­lich von dem lus­ti­gen Wer­de­ner Vo­gel aus den al­ten Nes­tern im Baum an der Gar­ten­he­cke so ganz in der al­ten Wei­se an der Nase her­um­ge­zo­gen wor­den sein?

      »Der?!« frag­te der deutsch-ir­län­di­sche En­gi­neer, jetzt umso ver­schmitz­ter grin­send, als er im Mo­ment vor­her tro­cken ge­tan hat­te. »Al­ter Jun­ge, dich hät­te ich doch we­nigs­tens für um ein Atom klü­ger ge­hal­ten. Men­schen, ihr seid doch zu gött­lich!… Oh, oh, ah, der Vet­ter Just! Der Vet­ter Just vom Stein­ho­fe! – Da las­se ich ihn, als ich, aus der sü­ßen Hei­mat halb weg­ge­jagt, durch­ge­he, mir vor­an­ge­hen, um in der öden Frem­de we­nigs­tens einen fi­de­len Trost an et­was aus dem al­ten Nes­te zu ha­ben, – und was pas­siert? Habe ich ihn dar­um auf sei­nem Stein­ho­fe in sei­ner gan­zen ab­son­der­li­chen Glo­rie gel­ten las­sen und mich mei­ne gan­zen hei­mat­li­chen Fle­gel­jah­re hin­durch himm­lisch über ihn amü­siert, dass er auf ein­mal in Bel­fast wie ein Pas­tor, der die Tisch­glo­cke über­hört hat, vor mir steht und mir Moral, Tu­gend, hei­mat­li­che Ge­füh­le und wer weiß was sonst noch pre­digt – durch sein Bei­spiel? – Kommt man Pad­dy so?… Ganz ge­wiss nicht! Der Va­ga­bon­den­kö­nig von Itha­ka – wie heißt er doch, Lan­greu­ter? – ist gar nichts ge­gen ihn, den Vet­ter Just, so­wohl was sei­ne Aben­teu­er wie sei­ne un­mensch­li­che Weis­heit, Klug­heit und Phi­lo­so­phie an­be­trifft. O, und so her­zens­gut ist der Kerl – ge­blie­ben! Und den Stein­hof hat er


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