Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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Mal sehr und im­mer bes­ser. Ich hat­te mich nun schon nach und nach in das We­sen des Man­nes mit mehr Ver­ständ­nis hin­ein­ge­fun­den. An die »Tür­me der ver­sun­ke­nen Ju­lin«, wie der schnar­chen­de Stadt­rat vor­einst in sei­nem Bu­che, dach­te er un­be­dingt nicht: er lä­chel­te zu hei­ter und hell dazu in die vor­bei­flie­gen­de Som­mer­nachts­land­schaft hin­ein; aber es war doch auch ein le­ben­di­ger Ernst in die­sem Wer­de­ner Ir­län­der. Er glaub­te sich un­be­ach­tet ge­nug in der Däm­me­rung, um län­ge­re Zeit auch ein­mal ein sehr erns­tes Ge­sicht ma­chen zu dür­fen, und nim­mer hat­te ich ein ver­trackt un­le­ser­lich Per­ga­ment-Ma­nu­skript mit grö­ße­rem In­ter­es­se zu ent­rät­seln ge­sucht wie jetzt im röt­li­chen Schein der Wa­gen­la­ter­ne die männ­lich schö­nen Züge mei­nes Ju­gend­freun­des.

      Eine Erb­schaft, wie die des On­kels Bö­sen­berg dem Re­dak­teur des Cha­mä­le­ons, war ihm nicht in den Schoß ge­fal­len; Ewald Six­tus kam nicht heim wie der Bau­er vom Stein­ho­fe, der Vet­ter Just Ever­stein; aber was wir auch an ihm noch in der nächs­ten Zeit auf Schloss Wer­den, im Dor­fe, in Bo­den­wer­der, auf dem Stein­ho­fe und in der Um­ge­gend er­le­ben moch­ten, ich hat­te für ih­n kei­ne Sor­ge mehr.

      Wis­sen kann man es ja nicht, was die nächs­te Stun­de brin­gen wird, und nur die Nar­ren pfle­gen das ganz ge­nau vor­aus­zu­sa­gen; aber für die­sen ge­fes­te­ten, hel­len, hei­te­ren Men­schen brach­te sie nichts, was er nicht im Gu­ten wie im Schlim­men mit in sei­ne Rech­nung ge­zo­gen hat­te, und das ist im­mer viel und be­deu­tet im Bö­sen wie im Gu­ten die Haupt­sa­che und Haupt­waf­fe im bit­te­ren Kamp­fe der Ver­wir­run­gen die­ses ver­zwick­ten Da­seins auf der Erde.

      Da war die be­rühm­te Fes­tungs­stadt, die wir auch dies­mal, wie einst der Dok­tor Bö­sen­berg, ru­hig seit­wärts lie­gen­lie­ßen. Kei­ne Jung­frau ließ den ge­ho­be­nen Schlei­er wie­der sin­ken in un­se­rem Ku­pee und schlüpf­te zier­lich aus dem Wa­gen. Kein al­ter, zu ei­nem Tau­ge­nichts von Soh­ne rei­sen­der Herr sag­te grim­mig: der wird sich wun­dern! Wir hat­ten kei­ne Kin­der zärt­lich har­ren­den Vä­tern aus dem Wa­gen zu­zu­rei­chen.

      »Wahr­haf­tig, wie­der mal das ver­damm­te Nest!« schnurr­te der Fin­ken­ro­den­er Stadt­rat, aus dem Schlum­mer auf­ge­rüt­telt und ver­drieß­lich sich deh­nend und die Au­gen rei­bend. »Je­des Mal, wenn ich hier hal­te, schwö­re ich mir zu, dass es das letz­te­mal ge­we­sen sein soll, und – weiß der Hen­ker, da sind wir doch wie­der! und na­tür­lich nicht eine Idee von ei­nem Kell­ner am gan­zen Zuge!«…

      Wir fuh­ren wei­ter, und es war kurz vor Son­nen­auf­gang, als der Schaff­ner, von neu­em die Tür auf­rei­ßend, »Sta­ti­on Sauin­gen!« schrie. Statt ei­ner an ei­ner lan­gen Stan­ge schwan­ken­den La­ter­ne glimm­te eine gan­ze Rei­he der­glei­chen den brei­ten »Bahn­steig« und die statt­li­chen Bahn­hofs­ge­bäu­de ent­lang und in die ro­si­ge Eos hin­ein. Der Ort hat­te sich in den letz­ten zwan­zig Jah­ren fast nicht we­ni­ger als der Dr. Max Bö­sen­berg ver­än­dert. Wenn die­ser Stadt­rat, so war je­ner ein le­ben­digs­ter Ei­sen­bahnk­no­ten­punkt ge­wor­den; und die Bahn nach Fin­ken­ro­de war seit mehr denn zehn Jah­ren eben­falls wei­ter­ge­baut wor­den. Wir er­leb­ten dies­mal nicht die ge­rings­ten tra­gi­schen und hei­te­ren Aben­teu­er zum Bes­ten ei­nes er­staun­ten Le­ser­krei­ses in Sauin­gen als viel­leicht das Wort des Bio­gra­fen der Kin­der von Fin­ken­ro­de:

      »Soll­ten Sie es für mög­lich hal­ten, mei­ne Her­ren, dass ich mich noch im­mer nicht an­ders als mit auf­ge­klapp­tem Rock­kra­gen und dem Ta­schen­tu­che vor der Phy­sio­gno­mie durch den Ort schlei­chen darf? Vor ei­nem Jah­re hat­te man hier eine Pro­vin­zi­al-Vie­haus­stel­lung mit Preis­ver­tei­lung ar­ran­giert, und ich war als Ver­tre­ter un­se­res Ge­mein­we­sens her­ge­schickt wor­den. Ich sage Ih­nen, das nächs­te Mal las­se ich si­cher­lich ei­nem an­de­ren die Ehre und das Ver­gnü­gen. Sie hat­ten nichts ver­ges­sen! Wohl ver­korkt hat­ten sie ihre gan­ze Ran­kü­ne, wie auf Fla­schen ge­zo­gen, zur Hand, ein jeg­li­cher von ih­nen die sei­ni­ge bei sei­nem Tel­ler; und was das Ver­ges­sen mei­ner­seits an­be­trifft, so ist es durch­aus kei­ne Kunst, den ver­gnüg­ten Tag, wel­chen ich da­mals un­ter ih­nen hin­zu­brin­gen hat­te, in alle Ewig­keit nicht zu ver­ges­sen. Gott sei Dank, dies­mal fah­ren wir mit ei­nem Auf­ent­halt von fünf Mi­nu­ten durch. In ei­ner Stun­de sind wir in Fin­ken­ro­de; ein we­nig über­näch­tig füh­len wir uns doch alle; ich lade Sie hier­mit freund­schaft­lichst zum Früh­stück. Nach­her schla­fe ich aus, und nichts hin­dert Sie, das­sel­be zu tun oder das Dampf­schiff strom­ab­wärts nach Münch­hau­sen­burg zu be­nut­zen. Von Bo­den­wer­der aus wer­den Sie ja dann wohl schon ohne Füh­rer die alte lie­be Hei­mat er­rei­chen, und wün­sche ich viel Plä­sier dazu. Soll­te Ih­nen zu­fäl­lig da­selbst mein gu­ter al­ter Freund Alex­an­der be­geg­nen, so bit­te ich, ihn recht schön von mir zu grü­ßen.«

      Die Son­ne ging auf. Wir er­reich­ten Fin­ken­ro­de und früh­stück­ten wirk­lich da­selbst in dem Hau­se des wei­land On­kels Bö­sen­berg. Mir roch es recht mo­de­rig und un­be­hag­lich drin. Mit wel­chen mo­der­nen Ge­füh­len, Stim­mun­gen und »Me­lio­ra­ti­ons­in­ten­tio­nen« der heu­ti­ge In­ha­ber vor zwan­zig Jah­ren hin­ein­ge­zo­gen sein moch­te und, sei­nem Bu­che nach, hin­ein­ge­zo­gen war: er hat­te sich all­ge­mach ge­ra­de­so dar­in ver­puppt wie der alte Herr, und er war noch dazu ein recht al­ter Jung­ge­sell dar­in ge­wor­den. Das Bild der Frau mit dem Kin­de auf dem Arme sah je­doch auf einen un­ge­mein ver­ständ­nis­reich be­setz­ten Tisch her­ab. Der Stadt­rat war fett ge­wor­den in dem al­ten Hau­se und wur­de noch im­mer fet­ter drin; dies schi­en mir so ziem­lich der ein­zi­ge Un­ter­schied ge­gen die Tage der Ver­gan­gen­heit zu sein.

      Dass aber ein wohl­ge­mein­tes Wort häu­fig viel mehr Ver­druss an­rich­tet als die über­leg­tes­te Bos­heit in Wort und Tat, das soll­te ich auch jetzt ein­mal wie­der er­fah­ren.

      Ganz harm­los er­kun­dig­te ich mich des nä­he­ren nach Wei­ten­we­ber, und so­fort leg­te un­ser gast­freund­li­cher Wirt Mes­ser und Ga­bel nie­der, blies eine Men­ge über­flüs­si­gen Atems über die breit vor­ge­steck­te Ser­vi­et­te fort und keuch­te:

      »Uh, der alte Sün­der! Au­ßer­dem dass er be­haup­te­te, längst vor der Ent­de­ckung des Dok­tors Scho­pen­hau­er durch das deut­sche Pub­li­kum den Scho­pen­haue­ria­nis­mus gründ­lich weg­ge­habt zu ha­ben, hat er noch viel gründ­li­cher mei­nen ge­sam­ten Vor­rat von Le­ben­s­idea­lis­mus mit sich hin­über nach Ber­lin in das alte Le­ben ge­nom­men. Ja­wohl, das sind die Ker­le, die in ih­rer Säu­re und Kno­chen­tro­cken­heit hun­dert Jah­re lang sich kon­ser­vie­ren und dann sich ins Jen­seits hin­über­grin­sen, wäh­rend un­serei­ner in sei­ner – Lie­bens­wür­dig­keit – Weich­heit – Ly­rik – kurz, wie Sie das nen­nen wol­len – – – na, ver­der­ben wir uns den Ap­pe­tit nicht; und Sie, lie­ber Six­tus, se­hen Sie nur nicht nach der Uhr – Sie kom­men noch früh ge­nug aufs Schiff. Der Ka­pi­tän war­tet mit Ver­gnü­gen auf je­den, der mit­will, und Hann­chen trägt Ih­nen die Rei­se­ta­schen an den Fluss hin­un­ter.«

      Hann­chen war ein sehr hüb­sches und un­ge­mein freund­li­ches Haus­mäd­chen des al­ten Hau­ses Bö­sen­berg und nicht un­ge­recht­fer­tig­ter­wei­se, wie es schi­en, ein großer Lieb­ling des eins­ti­gen Feuil­le­ton-Re­dak­teurs des eins­ti­gen re­gnan­te Man­teuf­fe­lio be­rühm­ten, oft kon­fis­zier­ten


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