Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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wir die­se hei­ße Mau­er ent­lang­gin­gen, die sich jetzt da hin­zog, wo frü­her un­se­re grü­ne He­cke un­ser Mär­chen­reich um­schloss, ohne die un­er­mess­li­che üb­ri­ge Welt aus­zu­schlie­ßen, kam mir ein Ge­dan­ke. Näm­lich, dass es Leu­te, die in al­len Din­gen, großen und klei­nen, auf der Stel­le Par­tei neh­men, die Hül­le und Fül­le gibt, dass aber der Leu­te, die im wah­ren Sin­ne des Wor­tes neu­tral zu blei­ben ver­mö­gen, sehr we­ni­ge sind und dass drit­tens die Na­men und Adres­sen der letz­te­ren über­all, mit gol­de­nen Let­tern in ein be­son­de­res Buch ein­ge­tra­gen, zum ei­ligs­ten öf­fent­li­chen Nach­schla­gen auf­zu­le­gen sei­en. Ich, der ich im Grun­de heu­te so sehr Par­tei war, ge­wann aus die­ser Mau­er me­lan­cho­lisch die nicht mehr um­zu­sto­ßen­de Über­zeu­gung, dass mir so­wohl in Schloss und Dorf Wer­den wie auch vor al­len Din­gen auf dem Stein­hof nichts mehr üb­rig­ge­blie­ben sei, als mich – voll­kom­men neu­tral zu ver­hal­ten.

      Das hat­te ich ge­won­nen! Ich, dem die Mühe, et­was Ver­lo­re­nes wie­der­zu­ge­win­nen, er­spart wor­den war, oder bes­ser, der sel­ber sie sich er­spart hat­te.

      »Am si­chers­ten wäre es viel­leicht doch ge­we­sen, wenn wir un­se­ren Ad­vo­ka­ten von Bo­den­wer­der ab­ge­holt hät­ten, um mit sei­ner Hil­fe den Ein­gang in Schloss Wer­den zu fin­den«, brumm­te Ewald. »Nun, gott­lob, hier ha­ben sie we­nigs­tens ein Loch ge­las­sen, und sind wir so­mit drin und – zu Hau­se an­ge­kom­men. Be­gor­ra, eine schö­ne Wirt­schaft scheint das ge­we­sen zu sein! Mei­ner Treu, als ich von der Frem­de aus die Kat­ze im Sa­cke kauf­te, habe ich doch kei­ne Ah­nung da­von ge­habt, wie rup­pig das Vieh sich bei der Oku­la­rin­spek­ti­on aus­wei­sen wür­de. Sieh nur hin, Lan­greu­ter, wie die Ha­lun­ken ge­haust ha­ben! Und ich gebe dir mein Wort dar­auf, Fritz, dass ich län­ge­re Zeit hin­durch in der fes­ten Über­zeu­gung ge­lebt habe, ich hät­te das alte Haus und sei­nen Zu­be­hör zu bil­lig er­stan­den! Oh, oh, oh!«

      Ich konn­te auch nichts wei­ter tun, als in die Seuf­zer des Freun­des be­trübt ein­zu­stim­men. Kahl und ver­wil­dert lag der frü­her so statt­lich schö­ne Park in­ner­halb der neu­en Mau­er vor uns da. Die Al­leen wa­ren nie­der­ge­schla­gen wor­den, die Ge­bü­sche aus­ge­reu­tet. Nur um das Schloss selbst stan­den noch ei­ni­ge der äl­tes­ten Bäu­me auf­recht und hat­ten uns von fer­ne die Täu­schung ge­ge­ben, dass das alte ade­li­ge Haus Wer­den noch aus dem al­ten vol­len Grün auf­ra­ge. Es war nichts als eine Fata Mor­ga­na ge­we­sen, die aus der fer­nen Ju­gend­zeit in die schwü­le Ge­gen­wart her­über­fiel. Die jüngs­ten Be­sit­zer hat­ten auf Schloss Wer­den nur einen Raub­bau in jeg­li­cher Hin­sicht be­trie­ben und wa­ren zu­grun­de dar­auf ge­gan­gen in der Son­ne wie – der Herr Graf in dem vor­neh­men Schat­ten sei­ner hun­dert­jäh­ri­gen Lin­den und Kas­ta­ni­en.

      »Da ste­hen wir!« sag­te der ir­län­di­sche In­ge­nieur grim­mig. »Wenn es dir be­liebt, so kön­nen wir auch wei­ter­ge­hen oder – um­keh­ren. Das letz­te­re wäre mir viel­leicht in die­sem Au­gen­blick das liebs­te.«

      »Du willst doch wohl nicht jetzt den Mut ver­lie­ren?«

      »Den Mut wohl nicht, lie­ber Freund, wohl aber die Lust, mei­ne Rol­le wei­ter­zu­spie­len. Mo­men­tan ist mir mei­ne De­vil-may-care-Stim­mung gründ­lich aus­ge­trie­ben, und ich sehe nach kei­ner Welt­ge­gend mehr hin die Ge­le­gen­heit, mir durch einen mehr oder we­ni­ger frag­wür­di­gen Witz aus der Pat­sche zu hel­fen. Ich sage dir, ich füh­le mich in die­ser Mi­nu­te min­des­tens um ein Jahr­hun­dert äl­ter als der alte Kas­ten dort hin­ter den Kar­tof­fel­fel­dern, das Haus Wer­den mit sei­nen si­cher­lich zer­sprun­ge­nen und ein­ge­schla­ge­nen Fens­ter­schei­ben, sei­nem Schwamm im Par­terre und sei­nem Wurm­fraß im obe­ren Stock. Ach, Fritz, es ist doch wohl gut, dass Ire­ne Ever­stein auf dem Stein­ho­fe wohl auf­ge­ho­ben ist; und ich – ich hät­te bes­ser ge­tan, wenn ich fürs ers­te Schloss Wer­den hät­te links oder rechts lie­gen las­sen und den al­ten Mann in dem Dor­fe und dem Förs­ter­hau­se um sei­ne An­sicht von der Sa­che ge­fragt hät­te! Was dich an­be­trifft, liebs­ter Lan­greu­ter, so wird es mir im­mer kla­rer, dass du mir kaum von Nut­zen bei die­ser miss­li­chen Ge­schich­te sein wirst. Nimm mir das nicht übel.«

      Ich hat­te wahr­lich kei­ne Ur­sa­che, hier ir­gend et­was übel­zu­neh­men. Der Freund hat­te nur zu sehr recht. Mehr so­gar, als er sel­ber zu ah­nen im­stan­de war.

      Ein al­tes Weib, das mit ei­ner Si­chel in der Hand ei­ni­ge Schrit­te wei­ter vor­wärts sich aus dem Kraut und Un­kraut auf­rich­te­te und dem wir, wie es schi­en, einen ge­lin­den Schre­cken ein­jag­ten, gab un­se­ren trüb­sin­ni­gen Ge­dan­ken­läu­fen, we­nigs­tens für einen Au­gen­blick, eine ge­le­ge­ne Ablen­kung. Es war si­cher­lich eine gute Be­kann­te un­se­rer Ju­gend­jah­re; aber wir wa­ren al­le­samt äl­ter ge­wor­den und kann­ten uns nicht mehr.

      Das küm­mer­li­che Müt­ter­chen zog rasch und ängst­lich eine hoch mit Grün­fut­ter voll­ge­stopf­te Kie­pe zu sich her­an und hat­te un­be­dingt die größ­te Lust, ohne sich wei­ter auf Gruß, Ge­gen­gruß und freund­schaft­li­che Un­ter­hal­tung ein­zu­las­sen, Reiß­aus zu neh­men; aber –

      »Halt, Mut­ter! Hier ge­blie­ben, Mrs. Rag­tail! Nur auf ein Wort, Müt­ter­chen!« rief der Herr von Schloss Wer­den. »Ge­hö­ren Wir zu dem Dor­fe oder dort in das graue Haus – Schloss Wa­ckel­burg, oder wie es heißt!?«

      »Schloss Wer­den, liebs­ter Herr! Das ist das Schloss. Ach, Je­ses, liebs­te, bes­te Her­ren, nur ein biss­chen Grü­nes für die Zie­ge und fünf le­ben­di­ge En­kel­kin­der; es wächst ja al­les hier rund­um doch nur dem ar­men Vol­ke und lie­ben Herr­gott in die Hand –«

      »Rich­tig, Mut­ter! Mich aber soll der Teu­fel ho­len, wenn ich Ihr nicht al­les gön­ne«, brumm­te Ewald Six­tus und füg­te ge­gen mich ge­rich­tet hin­zu: »Hät­te ich doch nur das­sel­be Recht an den Nach­lass und die Erb­schaft hier!« Und wie­der der al­ten Frau sich zu­wen­dend: »Es kom­men wohl man­che aus dem Dor­fe, um da her­um das, was dem lie­ben Herr­gott in und aus der Hand wächst und was auch in Hof und Stall nicht zu niet- und na­gel­fest ist, ab­zu­ho­len, he?«

      »O du gu­ter Him­mel, liebs­ter Herr, ich habe ja gar nichts ge­sagt«, win­sel­te die Alte. »Fünf le­ben­di­ge En­kel­kin­der, und mein Jun­ge, der Va­ter dazu, ist zu Scha­den und Tode ge­kom­men in Kol­de­weys Stein­bru­che, und die Mut­ter hat die Lun­gen­sucht mit­ge­nom­men, und ich bin mit den fünf Wür­mern al­lein üb­rig. Nur ein biss­chen Kraut für die Zie­ge; denn das Jüngs­te ist erst drei­vier­tel Jah­re alt, und ich bin an die Sech­zig nahe her­an. Und sie kom­men alle, denn es ist ja kein Herr und Meis­ter da seit Jah­ren, und der Herr No­tar in Bo­den­wer­der, der die Ver­wal­tung hat, kann doch nicht im­mer da­sein und nach dem Rech­ten se­hen. Und wenn Sie auch zu dem Herrn Ad­vo­ka­ten aus Bo­den­wer­der ge­hö­ren und mich vor Ge­richt zie­hen wol­len, so habe ich doch nichts ge­sagt, und den hoch­se­li­gen Herrn Gra­fen habe ich auch noch ge­kannt, und das war ein gu­ter Mensch, so vor­nehm er war; und ich habe auch zu sei­nen Zei­ten schon das Gras an den He­cken schnei­den dür­fen, und aus dem vor­neh­men Schloss hab ich mir kei­nen Na­gel aus der Wand ge­holt. Und die gnä­di­ge Grä­fin, die jetzt bei dem – dem Herrn Vet­ter Just – dem Herrn Ever­stein auf dem Stein­ho­fe wohnt und der es auch so schlimm in der bö­sen Welt er­gan­gen ist, wie man sagt, ja, die habe ich, als ich noch eine jun­ge Frau war, aus dem Dorf­ba­che auf­ge­ho­ben und nass wie eine Kat­ze auf mei­nem Arme


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