Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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so­gar dru­cken las­sen.«

      Der Stadt­rat gab einen Ton von sich, der un­ge­fähr wie »Whu!« klang. Dann brumm­te er:

      »Ja­wohl. Das Ver­gnü­gen habe ich mir und ei­ni­gen an­de­ren ge­macht. Ich dan­ke Ih­nen für die gü­ti­ge Erin­ne­rung, lie­ber Six­tus. Es ist mir frei­lich so, als ob ich das al­les in Ih­nen und dem an­de­ren Herrn da in der an­de­ren Ecke jetzt zum zwei­ten Mal er­le­be; aber Gott sei ge­lobt und ge­prie­sen – zu schrei­ben brau­che ich heu­te nicht mehr dar­über! Also – er­zäh­len Sie nur ru­hig wei­ter von sich und dem Herrn Vet­ter Ever­stein und dem Herrn Dok­tor da – von Schloss Wer­den, dem Förs­ter­hau­se und dem Stein­ho­fe. Die Haupt­sa­che den­ke ich mir sel­ber dann wohl schon dazu. Ja, ich habe es mit vie­lem In­ter­es­se schon auf dem letz­ten Os­ter­markt ge­hört, dass Frau von Reh­len, die frü­he­re Kom­tes­se Ever­stein, nun­mehr ih­ren Auf­ent­halt bei dem Vet­ter Just auf dem Stein­ho­fe ge­nom­men hat. Fräu­lein Schwes­ter be­fin­det sich, un­be­ru­fen, im­mer noch recht wohl, pflegt den al­ten gu­ten Papa und ver­kehrt dann und wann recht freund­schaft­lich mit mei­ner al­ten Freun­din, Frau Si­do­nie Miet­ze in Bo­den­wer­der. Sie wis­sen doch, dass der Spi­ri­tus­fa­bri­kant schon vor fünf­zehn Jah­ren nach der Hei­mat des Frei­herrn von Münch­hau­sen über­sie­del­te?«

      Ich wuss­te das letz­te­re nicht, da es mich im Grun­de auch we­nig in­ter­es­sier­te; aber selt­sa­mer­wei­se wuss­te es der In­ge­nieur und in­ter­es­sier­te sich auch sehr da­für. Sei­ne Kennt­nis der hei­mi­schen Zu­stän­de war in der Tat über­ra­schend, und, was mir als das Auf­fallends­te er­schi­en, nichts von al­lem hat­te sich ihm ir­gend­wie ins Fan­tas­ti­sche ge­zo­gen, wie das lei­der bei mir heu­te der Fall war und im Jah­re acht­zehn­hun­dert­achtund­fünf­zig bei dem heu­ti­gen al­ten, fett und Stadt­rat ge­wor­de­nen Jung­ge­sel­len Dr. Max Bö­sen­berg.

      Es wa­ren die­sel­ben Ge­lei­se, auf de­nen wir mit dem Eil­zu­ge da­hing­lit­ten: ich, der Bio­graf der Leu­te von Schloss Wer­den, heu­te und der Dok­tor Bö­sen­berg, der Bio­graf der Kin­der von Fin­ken­ro­de, da­mals. Ganz wun­der­lich sprach der irisch-deut­sche Bau­künst­ler aus sei­ner Wa­gen­e­cke dar­ein, näm­lich so hell, un­be­fan­gen und ver­nünf­tig, dass ich kaum ein Wort da­zwi­schen­zu­re­den wag­te und dem Stadt­rat dank­bar war, wenn er das mit schwit­zen­der Ge­müt­lich­keit tat.

      »Wes­halb ich nicht häu­fi­ger an die lie­ben An­ge­hö­ri­gen – das gute Ev­chen und den al­ten Papa schrieb? Wes­halb ich ih­nen nicht von Tag zu Tag über mich Nach­richt und Re­chen­schaft gab?« frag­te der In­ge­nieur und jet­zi­ge Be­sit­zer von Schloss Wer­den. »Ein­fach aus dem näm­li­chen Grun­de, aus wel­chem die zärt­lichs­ten Leu­te es ver­ab­säu­men, die ge­wöhn­lichs­ten Pf­lich­ten der Höf­lich­keit zu er­fül­len, gent­le­men. Heu­te ha­ben sie kei­ne Zeit und mor­gen ha­ben sie kei­ne Lust. Ge­wis­sens­bis­se las­sen sich in die­ser Hin­sicht weit leich­ter ver­dau­en als die Är­ger­nis­se, die an al­lem hän­gen, was in der Fer­ne vor­dem un­se­re Be­hag­lich­keit, un­ser Plä­sier und – un­se­re Hoff­nung war. Es quält einen in der Frem­de nichts mehr als das Schöns­te und Liebs­te, was man in der Hei­mat ge­habt hat und hat auf­ge­ben müs­sen! Habe ich nicht recht, Herr Bö­sen­berg?«

      »Na­tür­lich! Von Ihrem Stand­punk­te aus!« brumm­te der Stadt­rat und summ­te da­bei aus Zam­pa: Wenn ein Mäd­chen mir ge­fällt!… »Bit­te um et­was Feu­er, wenn Ihre Zi­gar­re noch brennt. Ich habe so ein Lied­chen von den Zu­stän­den und Ver­hält­nis­sen zu Wer­den sin­gen hö­ren. Bis in un­se­re Ma­gis­trats­sit­zun­gen drang es her­über nach dem Tode des Al­ten – ich mei­ne des al­ten Bie­der­manns und ban­ke­rot­ten Dy­nas­ten von Schloss Wer­den. Man wächst dann und wann nicht un­ge­straft zu­sam­men auf als Jüng­ling und Jung­frau, wenn man nicht zu­fäl­lig Bru­der und Schwes­ter ist. Ken­ne das! Also des­halb ha­ben Sie nicht häu­fi­ger nach Hau­se ge­schrie­ben? Aber fah­ren Sie nur fort! Das an­de­re in­ter­es­siert einen nach den ei­gens­ten per­sön­li­chen Er­leb­nis­sen im­mer noch, selbst wenn man mehr oder we­ni­ger durch Gunst der Göt­ter zu den Höchst­be­steu­er­ten in sei­ner Kom­mu­ne ge­hört und es – zu ei­ner Stel­lung ge­bracht hat wie ich.«

      Wir wa­ren dies­mal mit dem Abend­zu­ge von Ber­lin ab­ge­fah­ren und fuh­ren also auch in die be­gin­nen­de Nacht hin­ein wie der Feuil­le­ton-Re­dak­teur des Cha­mä­le­ons im Jah­re achtund­fünf­zig. Der ein­zi­ge Un­ter­schied be­stand dar­in, dass es Som­mer war und nicht der drei­ßigs­te No­vem­ber wie da­mals. Je­nes Buch von den Kin­dern von Fin­ken­ro­de hat­te aber sei­ner­zeit, we­nigs­tens in un­se­rer Ge­gend, und die­ses selbst­ver­ständ­lich, ein ge­wis­ses drol­li­ges, mit Er­stau­nen ver­misch­tes Auf­se­hen ge­macht, und die Fi­gu­ren und Si­tua­tio­nen haf­te­ten mir auch heu­te noch deut­lich ge­nug im Ge­dächt­nis­se, um mich ih­nen, so­wie dem – ge­gen­wär­ti­gen Stadt­rat Dr. Max Bö­sen­berg mit volls­tem Ver­ständ­nis hin­ge­ben zu kön­nen. Was ich dann und wann aus dem Bu­che zi­tie­re, schrei­be ich frei­lich, wie das nicht an­ders sein kann, nach­träg­lich ab. Aus­wen­dig wuss­te ich es nicht.

      »Zu Hau­se! Je­der auf­blit­zen­de Licht­strahl aus ei­nem Hüt­ten­fens­ter auf der ne­be­li­gen Hei­de er­füll­te mich mit ei­nem Ge­fühl der Verödung, der Ver­ein­sa­mung. Zu Hau­se! Wo ist mein Haus? Wo ist mei­ne Hei­mat?… Mein Blick ver­lor sich in dem dich­ter ge­wor­de­nen Ne­bel drau­ßen. Der Zug flog in die­sem Au­gen­blick über ein al­tes Schlacht­feld, wo vor lan­gen Jah­ren um Lang­ver­ges­se­nes Tau­sen­de und aber Tau­sen­de ge­blu­tet hat­ten. Es schi­en mir, als ob die wo­gen­den, wal­len­den Dunst­mas­sen sich in kämp­fen­de Män­ner und Ros­se ver­wan­del­ten zum Kamp­fe um ein zer­flie­ßen­des Nichts. Im wil­den, geis­ter­haf­ten Ge­tüm­mel dräng­te sich ein Cha­os fan­tas­ti­scher Ge­stal­ten auf bei­den Sei­ten des da­hin­schie­ßen­den Dampfros­ses, zer­schell­te an den Rä­dern, ball­te sich von neu­em, wir­bel­te von neu­em ge­spens­ter­haft durch­ein­an­der. Auch ich kam ja aus ei­ner Schlacht, wil­der, als je eine mit Waf­fen von Stahl und Ei­sen ge­kämpft wur­de. Wie man­chen hat­te ich an mei­ner Sei­te fal­len se­hen, wie man­chen hat­te ich auf dem Schild mit her­aus­tra­gen hel­fen aus dem Ge­tüm­mel:

       at so­cii mul­to ge­mi­tu la­cri­mis­que

       Im­po­si­tum scu­to re­fer­unt –«

      »Sie schnup­fen wirk­lich nicht, Dok­tor?« frag­te der Stadt­rat, mir von neu­em die sil­ber­ne Dose, die je­den­falls auch aus der von ihm be­schrie­be­nen Erb­schaft des wei­land On­kels Bö­sen­berg zu Fin­ken­ro­de stamm­te, an­bie­tend. »Sie soll­ten sich all­ge­mach das doch auch an­ge­wöh­nen. Ein jeg­li­cher be­fin­det sich auf ein­mal, ganz ohne es vor­her be­merkt zu ha­ben, in den Jah­ren, wo er die­ses bei­na­he zu sei­nen äs­the­ti­schen Genüs­sen zählt. Sie soll­ten sich wirk­lich bald gleich­falls eine Dose zu­le­gen, Dok­tor Lan­greu­ter.«

      Nach­her hol­te er, wäh­rend ich – sehr ge­stört durch ihn! – im­mer noch den We­gen, Ge­schi­cken, Er­leuch­tun­gen und Ver­dun­ke­lun­gen des Le­bens nach­zu­sin­nen ver­such­te, aus ei­nem ele­gan­ten und sehr prak­ti­schen Rei­se­fut­te­ral ver­schie­de­nes Trink­ba­re und Ess­ba­re her­vor, von dem er uns höf­lich an­bot, an wel­chem je­doch nur der In­ge­nieur mit un­ver­hoh­le­nem Wohl­be­ha­gen und un­ver­kenn­ba­rem Durs­te sich be­tei­lig­te.

      Nach­her


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