Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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die Baro­nin ließ ihn nach ei­ner kur­z­en Ver­beu­gung re­den und sah ihn nur an. Sie sah ihn an!

      Wenn die Frau Baro­nin je­man­den, der sich ihr vor­stel­len ließ oder sich sel­ber ihr vor­stell­te, lan­ge an­sah, so war es kaum nö­tig, dass er sich in ein gu­tes oder so­gar sehr gu­tes Licht zu stel­len such­te; die gnä­di­ge Frau fand schon al­lein her­aus, was er für sie be­deu­te, und er kam sel­ten auf die Kos­ten sei­nes Ei­gen­lo­bes. Und welch ein Schlei­er war in die­sem be­son­de­ren Fal­le so­fort von den Au­gen der Gnä­di­gen ab­ge­fal­len! Lu­cie von Ripp­gen hat­te be­reits seit fünf Mi­nu­ten den Dok­tor Pech­lin sei­nem gan­zen Wer­te nach er­kannt, wuss­te ganz ge­nau, wie sie sich von jetzt an ihm ge­gen­über zu ver­hal­ten habe, und hat­te im In­ners­ten ih­rer See­le ihre Maß­re­geln be­reits ge­nom­men. Wenn sie sich dies­mal, was die letz­te­ren an­be­traf, ein we­nig ver­rech­ne­te, so lag die Schuld wahr­lich nicht auf ih­rer Sei­te. Die Be­deu­tung und der Wert des Pla­ton­über­set­zers la­gen zwar auf der Hand; je­doch die Art und Wei­se, wie er als Herr Chri­stoph Pech­lin be­han­delt wer­den muss­te, war doch nicht so leicht her­aus­zu­fin­den. Dass dem Mon­strum bei­zu­kom­men war, stand fest; las­sen wir also der gnä­di­gen Frau die fes­te Über­zeu­gung, dass sie ihm bei­kom­men wer­de, un­er­schüt­tert. Die Men­schen le­ben eben des­halb in Hau­fen auf der Erde, um ein­an­der Ge­le­gen­heit zu ge­ben, ih­ren Scharf­sinn an­ein­an­der zu er­pro­ben, ihr Müt­chen an­ein­an­der zu küh­len und sich das Le­ben so an­ge­nehm als mög­lich zu ma­chen.

      Fürs ers­te be­trug sich Lu­cie au­ßer­ge­wöhn­lich im­per­ti­nent.

      Fürs zwei­te log der Ex-Stift­ler, wie er glaub­te, mit aus­neh­men­dem Ge­schick, und – drit­tens – ver­fehl­te bei­des ganz und gar sei­nen ge­wünsch­ten Zweck, – ganz und gar dem ge­wöhn­li­chen Ver­lauf der Din­ge auf die­ser Er­den zu­wi­der.

      Die gnä­di­ge Frau glaub­te nicht, dass Pechle in der ver­gan­ge­nen Nacht durch ein schril­les Hil­fe­ru­fen Ka­tha­ri­nens er­weckt wor­den und für sein ei­lig gut­mü­ti­ges Zu­hil­fe­ei­len durch ein Er­ken­nen des Freun­des in dem un­be­kann­ten, so plötz­lich er­krank­ten Haus­ge­nos­sen be­lohnt wor­den sei. Die gnä­di­ge Frau glaub­te nicht an die­ses plötz­li­che Un­wohl­sein ih­res Man­nes und noch viel we­ni­ger dar­an, dass nur der Ju­gend­freund durch sein schleu­ni­ges Ein- und Bei­sprin­gen den Gat­ten ge­ret­tet habe. Sie konn­te sich auf ihre Nase ver­las­sen und blick­te zu­gleich auf die lee­re und die halb­vol­le Wein­fla­sche ne­ben dem Ses­sel des Dok­tors, doch lei­der im­po­nier­te die­ser Blick dem freund­li­chen Men­schen ge­gen­über gar nicht.

      Was ein be­lei­dig­tes Weib an Ver­ach­tung in ein Ach­sel­zu­cken zu­sam­men­fas­sen kann, das raff­te Lu­cia von Ripp­gen zu­sam­men und zeig­te es Herrn Chri­stoph Pechle aus Wal­den­buch. Der Dok­tor Pech­lin aber über­sah die Ge­bär­de voll­kom­men und wur­de nur um ei­ni­ge Schat­ten­stu­fen lie­bens­wür­di­ger und zu­tun­li­cher; in sei­ner Wi­der­lich­keit furcht­bar, sah er so­gar nach sei­ner Uhr und freu­te sich, die herr­li­chen Genüs­se freund­schaft­li­chen See­len­aus­tau­sches noch eine Wei­le aus­nut­zen zu dür­fen. Und als dar­auf die Baro­nin sich er­hob, ihm den Rücken wand­te und an das Fens­ter trat, und er doch nicht ging, hielt sie ihn für dumm, und da­mit hat­te Pech­lin – für dies­mal we­nigs­tens – den Sieg ge­won­nen und be­herrsch­te die Si­tua­ti­on.

      Der Held auf dem Sofa stand Höl­len­qua­len geis­ti­ger und kör­per­li­cher Angst aus. Sei­ne Fan­ta­sie zer­ar­bei­te­te sich, nicht ohne Grund, in der Aus­ma­lung des­sen, was ge­sche­hen wer­de, wenn der Freund nach ge­mach­ter Be­kannt­schaft von sei­ner Haus­ge­nos­sin Ab­schied ge­nom­men ha­ben und in hei­te­rer Si­cher­heit oben auf sei­ner Stu­be sit­zen wer­de. Ach, der Baron wuss­te, dass er sel­ber nicht in Si­cher­heit auf sei­nem Mar­ter­kis­sen lie­ge! Ver­stoh­len hielt er un­ter der über­hän­gen­den Tisch­de­cke den schänd­li­chen Ver­füh­rer an ei­nem Scho­ße sei­nes schwar­zen kan­di­dät­li­chen Frackes, und Pechle ver­stand den krampf­haf­ten Griff ganz gut, hat­te Er­bar­men mit dem wehr­los Da­nie­der­lie­gen­den und ging noch nicht.

      Nein, er ging noch nicht. Er wur­de lie­bens­wür­di­ger und lie­bens­wür­di­ger, und die gnä­di­ge Frau ge­wann von Mi­nu­te zu Mi­nu­te mehr die Über­zeu­gung, dass sie ihm ohne die ge­rings­ten Ge­wis­sens­bis­se den Hals um­dre­hen kön­ne. Sie kam vom Fens­ter zu­rück und setz­te sich von neu­em. Sie rausch­te von neu­em em­por und woll­te mehr als ein­mal al­les auf­ge­ben und hin­aus­rau­schen; aber der ur­al­te un­heim­li­che Kit­zel, zu se­hen, wie weit ein Mensch sei­ne Un­ver­schämt­heit trei­ben kön­ne, hielt sie dann doch wie­der zu­rück. Sie blieb und wur­de, als Pechle auch blieb, ge­spens­ter­haft ru­hig; aber der Stu­dio­sus der Theo­lo­gie Chri­stoph Pech­lin war nicht um­sonst aus dem Tü­bin­ger Stift aus­ge­bro­chen, – er blieb, er hat­te sich längst vor­ge­nom­men, jeg­li­cher Ge­s­pens­ter-, Geis­ter-, und Geist-Er­schei­nung ge­gen­über – zu blei­ben. Gera­de­so wie er sich vor­ge­nom­men hat­te, nach dem Pla­to den Ari­sto­pha­nes zu über­set­zen. –

      Pechle trieb sei­ne Un­ver­schämt­heit sehr weit, wäh­rend die Baro­nin sich im­mer tiefer in den Cha­rak­ter und die Le­bens­füh­rung der be­rüch­tigs­ten Gift­mi­sche­rin­nen hin­ein­fand und in ih­rem stills­ten Her­zen der Frau Lu­cre­tia Bor­gia ein ma­kel­lo­ses Leu­munds­zeug­nis aus­stell­te. In ganz ge­hal­te­nem, ele­gisch-zärt­li­chem Tone sprach er von je­nem schö­nen un­schul­di­gen Tage, an wel­chem ihm der Freund zum ers­ten Mal be­geg­ne­te, und selbst­ver­ständ­lich be­nutz­te er die Ge­le­gen­heit, sei­nen Schwur, dem Freun­de bis in den Tod Freund zu blei­ben, nun auch vor der Gat­tin des Freun­des zu wie­der­ho­len.

      Er zi­tier­te eine gan­ze Rei­he wohl oder übel auf das Ver­hält­nis pas­sen­der Ver­se aus ei­ge­nen und aus frem­den Poe­si­en, und dann kam er auf den heu­ti­gen Tag.

      Ru­hig, ru­hig – ru­hig hör­te ihn die Baro­nin an. Sie ver­zog jetzt kei­ne Mie­ne mehr.

      Das nach dem gest­ri­gen wun­der­hol­den Tage! Das nach dem Son­nen­un­ter­gang und dem nächt­li­chen See­len­aus­tausch in Hei­del­berg! Das nach den Trä­nen des Wie­der­se­hens und des Ab­schie­des! Das nach dem gest­ri­gen Zu­sam­men­sein mit Miss Chri­sta­bel Ed­dish! –

      Nicht eine Mie­ne ver­zog Lu­cia von Ripp­gen; der Ex­stift­ler Chri­stoph Pechle hat­te kei­ne Ah­nung da­von, was sich un­ter der wei­ßen olym­pi­schen Stirn be­weg­te, was da­selbst durch­ein­an­der­wog­te, und wie der hil­fe­ru­fen­de Schrei, gleich ei­ner auf­ge­scheuch­ten, er­schreck­ten Möve über den wir­beln­den Was­sern im Kreis um­her­fuhr.

      »Chri­sta­bel! Chri­sta­bel! o Chri­sta­bel!« Ja, Lu­cia schrie im In­ners­ten ih­res Da­seins! Sie schrie nach Luft – nach Ra­che – nach Miss Chri­sta­bel Ed­dish, und Pechle wur­de im­mer ge­müt­li­cher, im­mer noch ge­müt­li­cher! Noch kann­te er Miss Chri­sta­bel nicht, er konn­te also auch nicht wis­sen, wen die gnä­di­ge Frau sich zur Hil­fe her­bei­rief.

      Ru­hig, ru­hig, ru­hig sah Lu­cia den Freund ih­res Man­nes an; aber von Zeit zu Zeit glitt ein Blick der Gat­tin auf den Gat­ten – auch ein ru­hi­ger Blick, und doch ent­setz­lich in sei­nem kla­ren, küh­len Glan­ze.

      Fer­di­nand er­wi­der­te ihn nicht zum zwei­ten Mal. Dass sein Haupt auf dem Blo­cke lag, wuss­te er


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