Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
dem Reiche Saturns begriffenen Söhne und Töchter des Tages wundern uns gar nicht darüber. Wenn wir auch die Härte und Schärfe der Exklamationen bedauern, so wissen wir nur zu gut, welche Steine, Verhacke, Gräben und Gestrüppe den Weg zur Ruhe, zum Frieden, zum Ideal versperren, um mit unsern Nachbarn und Nachbarinnen auf diesem Wege zu hart ins Gericht zu gehen. Gutmütig blicken wir über die Schultern nach ihnen hin, flüstern: Jo Saturnalia! Bona Saturnalia! und marschieren weiter, behaglich, solange das Behagen dauert. –
Zitternd vor Wut und Aufregung blickte Miss Christabel von neuem durch die Öffnungen im Haupte der Schutzgöttin des Bayerlandes. Sie sah dem Schrecknis nach, welches – soeben vor ihr so merkwürdig entsetzt und so blitzschnell durch den Bauch der Bavaria Reißaus genommen hatte. Rekapitulieren wir, was sie sah!
Wolkenlos, in reinster Bläue, überspannte der Mai-Mittagshimmel die schöne Welt, die Alpen, die Stadt München und vor allen Dingen die Theresienwiese. Aber die blitzenden Zacken am Horizonte hätten sich sämtlich in feuerspeiende Berge verwandeln und schwefelige Flammen bis zum Zenit hinausschleudern können, so würde das kaum die Aufmerksamkeit der britischen Jungfrau auf sich gezogen haben. Da lag der rote Murray ruhig am Rande des Weges, und da hielt die Droschke, welche das englische Fräulein zur bayerischen Ruhmeshalle und ihrer riesigen Wächterin geführt hatte, auf dem Wege, und der Kutscher mit untergeschlagenen Armen und nickendem Haupte schnarchte ruhig auf seinem Bocke. Der Wächter des Bayerischen Ruhmes, der Riesin und des Löwen schnarchte wahrscheinlich ebenfalls in süßer Mittagsruhe im Innern seiner Amtswohnung. Kein Mensch war zu sehen, so weit die Sendlinger Landstraße zu überblicken war. Kein Mensch auf der Sendlinger Landstraße! aber da – da auf dem falben Grün der unermesslichen Wiese – viel näher der Stadt als der Bavaria – jenes hüpfende, helle, von Augenblick zu Augenblick winziger werdende Pünktchen – war das ein Mensch?
Ei ja, – wie auch Miss Christabel Eddish ihrerseits darüber denken mochte – es war ein Mensch und zwar der Besitzer des Reisehandbuches am Rande der Böschung der Theresienwiese! Es war der Kapitän zu Fuß, Sir Hugh Sliddery, und die lange schmale Hand im veilchenblauen Handschuh auf dem Rande des Gucklochs zuckte, und das große grünliche Auge, das durch das Guckloch dem Flüchtling nachsah, schleuderte Blitze ihm nach, bis die Ferne und die Stadt ihn seinen Strahlen entzogen hatten.
Als er verschwunden war, schlossen sich die Augen einen Moment, dann legte sich die lange feinbehandschuhte Hand über die zornig zusammengezogenen Brauen; Miss Christabel Eddish fasste sich, wie eine englische Maid überall sich zu fassen versteht. Sie klemmte das Glas wieder fest auf die Nase und stieg – glitt gleichfalls abwärts durch Busen, Magen, Unterleib usw. der ehernen Jungfrau und kam ebenfalls auf dem festen Boden zu den Füßen des Monuments wieder zum Vorschein.
Da stand sie, sich noch immer mehr fassend, blickte nach dem Riesenhaupte, in welchem ihr soeben das Traumhaft-Fürchterliche begegnet war, zurück und empor, glaubte sogar in dem biederbehaglichen Gesicht des ruhig auf seinem Hinterteil sitzen gebliebenen bayerischen Löwen einen Zug diabolischen Hohnes zu bemerken, wandte sich mit verachtend zuckender Lippe, und sah sich nun auf der Erde um.
Schrill zirpten die Grillen im Grase. Sonst war weiter kein Laut in der heißen Mittagsstunde zwischen zwölf und ein Uhr zu vernehmen. Noch immer schlief der Kutscher auf dem Bocke der Droschke, und der schläfrige Wächter, der dem Fräulein das Loch zu Füßen der Bavaria aufgemacht hatte, schlief gleichfalls im Stehen weiter und zog sich sofort nach getaner Pflicht und über die nicht über die Taxe zahlende Touristin sich wie im Traume ärgernd, brummend in sein kühles Gehäuse zurück.
Noch einen Augenblick, und Christabel spannte den Sonnenschirm auf, – noch ein Zusammenschaudern und dann ein Entschluss! ein fester, eiserner, unumstößlicher, unerschütterlicher Entschluss, den Murray vom Rande des Weges aufzunehmen!
Da lag er freundlich und friedlich im Sonnenschein; und ganz und gar sich fassend, schritt das Fräulein auf das rote Buch zu, sah auf es hin und – ergriff es mit einem blitzschnellen Griff, wie man wohl ein böses, hässliches oder giftiges Tier, eine Kröte oder Schlange im Grase packt. Krampfig klemmten sich die feinen Finger um das unschuldige Reisebuch; aber der größeste Ekel war damit denn doch überwunden. Fest die Beute an sich drückend, schritt die Dame zu ihrer Droschke hin, berührte den Kutscher mit der Spitze ihres Sonnenschirmes, rief dem grunzend aus dem Schlummer Auffahrenden die Adresse ihres Hotels zu, machte ihm endlich klar, wo er sich befinde und was man von ihm verlange, stieg in den Wagen, warf den Murray auf den Vorder- und sich erschöpft auf den Rücksitz und rollte die Landstraße hinab, die Theresienwiese entlang dem Sendlinger Tore zu.
Wahrlich, erschöpft lag sie auf den staubigen Polstern, das rotbraune Buch auf dem Sitze vor sich mit einem wahrhaft grotesk-komischen Gemisch von Widerwillen, Neugier, Wut und erstickten Tränen im Auge haltend. Ehe sie es einer weiteren und näheren Untersuchung unterwarf, musste sie sich noch bedeutend mehr an seinen Anblick gewöhnen, und solange der Wagen im Staube der Landstraße fuhr, war es ihr nicht möglich, das Grauen soweit zu überwinden, um es von neuem aufzunehmen. Sie ging unter in der Betrachtung, und erst als sie in das Tor und die Stadt München hineinrollte und sich wieder von gehenden, reitenden, fahrenden und im Notfall zu Hilfe zu rufenden menschlichen Wesen umgeben sah, wagte sie einen weitern Schritt gegen das sonst so harmlose schriftstellerische Erzeugnis in rotbrauner Leinwand. Sie gab ihm einen Stoß, einen hastig-heftigen Stoß mit dem Sonnenschirm und zeigte dabei eine nicht geringe Ähnlichkeit mit einem den ersten Schnabelhieb auf ein Krokodillenei führenden Ibis weiblichen Geschlechtes. Und wie der Ibis, wenn er seinen Ekel überwunden hat, das Ei mit steigendem Wohlbehagen ausschlürft, so durchblätterte Miss Christabel Eddish das Buch, nachdem sie es, nach dem Stoß, mit spitzigen Fingern aufgenommen hatte, hastig, eilig und mit immer höher steigendem Interesse.
Sie blätterte sich mit ganzer Seele hinein, und das war kein Wunder! Wer würde ein von einem Gespenst zwischen Tür und Angel auf der Flucht verlorenes Reisehandbuch mit geisterhaften Randglossen aus der Nachtseite der Natur heraus, nicht mit zitternder, atemloser, atemanhaltender Spannung durchblättern? Leider wahrscheinlich sehr viele unserer braven Landsgenossen! Drei Viertel der deutschen Nation würden unbedingt ihren Fund getreulich der Polizei überliefern, und es ruhig abwarten, wie diese darüber verfügen werde. Gewissermaßen können wir diese drei Viertel unseres Volkes auch nur darum loben; denn nicht alles, was ein Geist verliert, passt in das intellektuelle