Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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sich voll­kom­men in der welt­be­kann­ten Stim­mung Ro­bin­son Cru­soes, nach­dem er die Spu­ren der men­schen­fres­se­ri­schen Ka­rai­ben im San­de am Mee­res­ufer ent­deckt hat­te und, au­ßer sich dar­über, einen Tag lang auf sei­ner In­sel im Krei­se her­um­ge­lau­fen war. Er­schöpft, be­täubt, re­gungs­los lag er dann un­ter ei­nem Bu­sche, und er­schöpft, be­täubt und re­gungs­los lag Miss Chri­sta­bel Ed­dish in der Stutt­gar­ter Drosch­ke, durch wel­che sie samt Ge­päck und Kam­mer­jung­fer der Woh­nung der Freun­din zu­ge­führt wur­de. Wenn es mög­lich wäre, dass je­mand re­gungs- und be­we­gungs­los aus ei­nem Wa­gen stie­ge, so wür­de sie das vor der Tür des Herrn von Ripp­gen gleich­falls fer­tig ge­bracht ha­ben.

      Sie stieg aus. Sie stieg die Trep­pe hin­auf, ge­folgt von Vir­gi­ny und dem das Ge­päck nach­schlep­pen­den Kut­scher. Aus star­ren Au­gen sah sie eine Mi­nu­te lang den Na­men des Barons auf dem Me­tall­tä­fel­chen an der Glas­tür im Schein der Gas­flam­me an. Dann zog sie ei­gen­hän­dig die Glo­cke. Sie zog sie nicht has­tig, nicht ruck­ar­tig, son­dern sie zog sie wie eine To­ten­glo­cke, eine Be­gräb­nis­glo­cke und fuhr trotz ih­rer Be­täu­bung zu­sam­men, als das hel­le Ge­bim­mel ih­rer Stim­mung durch­aus nicht ent­sprach. Wie die Mar­qui­se von Brin­vil­liers ei­nem lang­wei­lig ge­wor­de­nen Freun­de den Gift­be­cher zu rei­chen pfleg­te, so reich­te mit öder Gleich­gül­tig­keit Miss Chri­sta­bel dem Fuhr­mann Fahr­geld und Trink­geld, und dann kam Ka­tha­ri­na und öff­ne­te die Glas­tür.

      »O yes!« sag­te Miss Chri­sta­bel Ed­dish und schritt, ohne wei­te­re Auf­klä­rung über ihre Per­sön­lich­keit, ihre Wün­sche und Ab­sich­ten zu ge­ben, an der er­staun­ten schwä­bi­schen Jung­frau vor­über. »Ja was denn? mei Frau ischt sehr übel auf!« rief Ka­tha­ri­na, von ih­rem Er­stau­nen sich er­ho­lend, und mit ei­nem Ver­such, den spä­ten Be­such und Ein­fall zu­rück­zu­hal­ten, sich an Miss Vir­gi­ny wen­dend.

      »O yes!« sag­te Miss Vir­gi­ny gleich­falls an der schwä­bi­schen Maid vor­über­schrei­tend und ih­rer Her­rin auf dem Fuße fol­gend. Ka­tha­ri­na, je­den Ver­such des Wi­der­stan­des nun­mehr auf­ge­bend und den Leuch­ter hoch über das Haupt er­he­bend, sah bei­den nach und gab nur noch eine War­nung mit auf den Weg:

      »Sie! da rechts geht es aber auf –« vollen­de­te je­doch ih­ren Satz nicht. Miss Chri­sta­bel, durch ein­ge­bo­rens­ten bri­ti­schen In­stinkt ge­lei­tet, wand­te sich schon von sel­ber nach links und fand, ohne da­nach ge­fragt zu ha­ben, so­fort die rich­ti­ge Tür. In der­sel­ben trat ihr Char­lot­te mit ei­nem an­de­ren Leuch­ter in der Hand ent­ge­gen und vor Über­ra­schung meh­re­re Schrit­te zu­rück.

      »Ich bin es!« sprach Chri­sta­bel. »Wo ist die Lady? Wie geht es ihr?«

      Da setz­te Char­lot­te das Licht auf den Tisch in­mit­ten des Sa­lons und deu­te­te tra­gisch-wort­los auf die Tür wie­der­um zur Lin­ken, also nicht auf die Tür, wel­che in das Ge­mach des Barons führ­te. Rasch schritt die Eng­län­de­rin über den blu­men­bun­ten Tep­pich dem deu­ten­den Fin­ger nach, und hin­ter ih­rem Rücken glitt die deut­sche Kam­mer­jung­fer an die Sei­te der bri­ti­schen, schmieg­te sich mit ei­ner un­be­schreib­lich aus­drucks­vol­len in­ter­na­tio­na­len El­len­bo­gen­be­we­gung an sie, zog die Au­gen­brau­en her­auf, die Na­sen­flü­gel her­ab und den Mund in eine wie zu ei­nem Pfiff ge­spitz­te Spit­ze, und sag­te wie­der nichts. Die bri­tan­ni­sche Maid ver­stand je­doch den Blick wie das kur­ze schnel­le Kopf­ni­cken ganz aus­ge­zeich­net, schüt­tel­te in eben­falls stum­mer Ant­wort den Kopf und ent­blö­ßte ein un­ge­mein glän­zen­des Ge­biss! Miss Vir­gi­ny wag­te es, hin­ter ih­rer Her­rin drein zu grin­sen. Ei­nen echt deut­schen Frau­en­schrei je­doch stieß die Baro­nin Lu­cia von Ripp­gen aus, als ihre see­len­vol­le Freun­din auf der Schwel­le ih­res Ge­ma­ches er­schi­en und einen Au­gen­blick wie zwei­felnd stand und um­her­sah und um­her­roch.

      Miss Chri­sta­bel Ed­dish frag­te nicht: »O lord, wie riecht es denn hier?« denn sie kann­te den Duft und wuss­te ihn zu deu­ten. Trä­nen, Zorn, Verzweif­lung, flüch­ti­ge Sal­ze und wohl­rie­chen­de Kraft­was­ser, wenn sie sich bei nie­der­ge­las­se­nen Vor­hän­gen und ver­hüll­ter Lam­pe mit­ein­an­der ver­mi­schen und den Auf­ent­halts­ort des Wei­bes er­fül­len, wer­den von je­dem ein­tre­ten­den Wei­be so­fort che­misch rich­tig ana­ly­siert, und eine Freun­din – eine Fein­din na­tür­lich auch – weiß auf der Stel­le in sol­chem Fal­le, welch ein Be­stand­teil im Mo­ment in der At­mo­sphä­re vor­wiegt.

      Au­gen­blick­lich hat­ten ohn­mäch­ti­ge Wut, vi­nai­g­re de Bul­ly und lait an­ti­phlo­go­se die Ober­hand. Au­ßer­dem war es aber auch aus ein­fach me­teo­ro­lo­gi­schen Grund­ur­sa­chen schwül im Zim­mer; denn eine schwü­le, schwü­le Vor­som­mer­nacht lag über der schwä­bi­schen Me­tro­po­le und hielt ihre Le­bens­geis­ter zu­sam­men oder viel­mehr nie­der.

      »Chri­sta­bel!« rief Lu­cia halb sich aus den Kis­sen ih­res Di­wans em­por­rich­tend und die aus­ge­brei­te­ten Arme der Freun­din ent­ge­gen­stre­ckend. Und schon beug­te die Bri­tin sich über die un­glück­li­che Frau und drück­te ihr, wäh­rend sie zu glei­cher Zeit die Hand­schu­he ab­zog, einen Kuss auf die glü­hen­de Stirn und sag­te:

      »Siehst du, ich bin so­gleich ge­kom­men.«

      »Ich wuss­te es«, schluchz­te Lucy an ih­rem Hal­se hän­gend. »Du muss­test kom­men! Ich habe dich dei­ne Sa­chen pa­cken se­hen, ich habe dich zum Bahn­hof be­glei­tet! Mein ar­mes Herz saß dir ge­gen­über im Ku­pee, und sieh, da liegt das Ei­sen­bahn­kurs­buch – mei­ne ein­zi­ge Lek­tü­re seit Ta­gen, und ich bin ru­hi­ger und ru­hi­ger ge­wor­den in der Über­zeu­gung, mei­nen Brief hat sie be­kom­men – und jetzt hält der Zug in Ga­bel­bach­ge­reuth, und jetzt in Günz­burg und nun in Lei­pheim, und da ist sie in Ulm, und in vier Stun­den wirst du sie in den Ar­men hal­ten und sie nicht wie­der los­las­sen, bis du dich an ih­rem Her­zen aus­ge­weint, bis du dir in al­lem – al­lem Luft ge­macht hast!«

      »Yes!« sag­te Miss Chri­sta­bel Ed­dish, in die ers­te Wind­pau­se des Stur­mes der Ge­füh­le der Freun­din mit der Fra­ge sich ein­schie­bend: »Und wo ist dein Mann, dein Ge­mahl, der Baron?«

      »Den­ke dir, er ist da­von­ge­gan­gen!« schrill­te Lu­cie, kramp­fi­ger sich an der Schul­ter der ho­hen eng­li­schen Jung­frau fest­kral­lend.

      »Was?! Da­von­ge­gan­gen? C’est à dire – run away? Durch – ge – gan – gen?!«

      »Ja, ja und drei­mal ja! Ich bin al­lein im Hau­se! Er hat es ge­wagt, der Elen­de! Er ist da­von­ge­gan­gen mit dem gräss­li­chen Bar­ba­ren, dem Men­schen, der sich, wie ich dir schrieb, in mein Le­ben, mei­ne Ruhe, mein Glück ein­ge­drängt hat, der mit uns in die­sem Hau­se wohnt, der sich wie ein Fels­block auf mich ge­wälzt hat, der all­nächt­lich über mei­nem Haup­te die Maul­trom­mel spielt, und ge­gen den ich macht­los, kraft­los und ohn­mäch­tig bin! Pechle hat mei­nen Mann ver­führt! Stel­le dir vor – stel­le es dir recht leb­haft vor: Fer­di­nand macht mit ihm – die­sem Pechle, ge­gen mei­nen Wil­len – Chri­sta­bel, ge­gen mei­nen aus­ge­spro­che­nen Wil­len, eine Tour in der Um­ge­gend!«

      »Das ist ihre Art so!« sprach Miss Chri­sta­bel Ed­dish mit ei­ner dump­fen Ener­gie, die nur aus a pos­te­rio­ri, aus ei­ge­ner Er­fah­rung ge­won­ne­ner Über­zeu­gung her­vor­bre­chen konn­te. Zu glei­cher Zeit mach­te sie sanft die


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