Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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      Das Buch muss­te für sie ein un­er­mess­li­ches In­ter­es­se ha­ben! Dass der Name Sir Hugh Slid­de­ry auf der ers­ten Sei­te stand, war das Al­ler­we­nigs­te. Aber es be­fan­den sich Blei­stift­no­ti­zen man­nig­fal­tigs­ter Art dar­in, und Miss Chri­sta­bel stieß mehr als ein­mal dar­über ein lei­ses Stöh­nen aus. Die gold­ge­rän­der­ten Vi­si­ten­kar­ten ei­ner Ma­de­moi­sel­le Agla­ja Le­mar­ron und ei­ner Ma­da­me Ar­te­mi­sia Ma­bil­li­noff ließ sie zwi­schen den Blät­tern weg auf den Bo­den der Drosch­ke hin­ab­glei­ten und setz­te auf jede Kar­te ver­ächt­lich einen Fuß.

      Sie blät­ter­te im­mer has­ti­ger, und stieß auf ein lose ein­ge­leg­tes Blatt, wel­ches von ei­ner Rei­se­rou­te han­del­te, und in dem Mur­ray selbst war un­ter dem Ar­ti­kel Flo­renz der Name ei­nes Gast­ho­fes un­ter­stri­chen und die No­tiz an den Rand ge­schrie­ben:

      »Cham­bers be­spo­ken for the 15th Ju­ne«, auf Deutsch: Zim­mer ge­mie­tet für den fünf­zehn­ten Juni.

      Da lag die Schlan­ge zu­sam­men­ge­rin­gelt und reck­te höh­nisch den un­heim­li­chen Kopf em­por und zün­gel­te und wies die Gift­zäh­ne! – In dem näm­li­chen Ho­tel hat­te ganz für die näm­li­che Zeit Chri­sta­bel ihr Ab­stei­ge­quar­tier be­stellt – cham­bers be­spo­ken mit dem Si­gnor Wirt – dicht Wand an Wand mit dem Ka­pi­tän im sie­ben­und­sie­ben­zigs­ten In­fan­te­rie­re­gi­ment, Sir Hugh Slid­de­ry! O, grau­sam durf­te das Schick­sal sein, aber so hin­ter­lis­tig scha­den­froh hä­misch grau­sam zu sein – dazu hat­te es nicht das Recht! – Miss Chri­sta­bel Ed­dish neig­te das Ge­sicht, leg­te das Buch lei­se auf den Sitz vor sich hin. Nach ei­nem Nach­den­ken von zwei Mi­nu­ten er­hob sie das Haupt – blick­te ru­hig und kalt ge­rad­aus, sie wuss­te bis an die äu­ßers­ten Gren­zen des Falls, wie sie dran war, wie sie sich zu ver­hal­ten und was sie zu tun und was sie zu las­sen habe: sie hat­te den Fin­ger Got­tes in dem Zu­sam­men­tref­fen im Haup­te der Ba­va­ria er­kannt! Der Fin­ger Got­tes! Ach, wenn nur nicht zu al­len Zei­ten das Ge­biss des Teu­fels dar­über weg das arme Ge­schlecht der Men­schen an­fletsch­te und so sehr häu­fig das kind­li­che Ver­trau­en in un­glaub­lich kur­z­er Frist tot­grins­te!

      Im nächs­ten Mo­ment schon, nach ei­nem neu­en Blick auf den un­glück­se­li­gen Mur­ray, knirsch­te Chri­sta­bel wie­der ih­rer­seits mit ih­ren Zäh­nen dem bö­sen Fein­de ins Ge­sicht, ächz­te:

      »It is a hor­ror! eine Schan­de ist’s!« fass­te das Buch, als ob es wäh­rend der Zeit ih­res de­mü­tig in einen hö­he­ren Wil­len sich fü­gen­den Nach­den­kens noch viel bos­haf­ter und gif­ti­ger ge­wor­den sei, und schleu­der­te es mit un­be­schreib­li­cher Ener­gie hin­aus aus dem Wa­gen­fens­ter, weit hin­aus auf den Karls­platz und ei­nem den Platz ge­ra­de über­schrei­ten­den, an nichts den­ken­den, deut­schen Poe­ten und Rit­ter des Ma­xi­mi­lians­or­dens ge­ra­de vor den Ma­gen. Der Che­va­lier, fast zu Bo­den ge­streckt durch den voll­kräf­ti­gen Wurf, dreh­te sich drei­mal, den Dich­ter in sich na­tür­lich mit sich her­um­rei­ßend, um sei­ne ei­ge­ne Ach­se, griff mit bei­den Hän­den nach dem Lei­be und starr­te – starr­te – starr­te, bis es zu spät war, die Drosch­ke ein­zu­ho­len und um Auf­klä­rung zu bit­ten. Um die­se Stun­de des Ta­ges war der Karls­platz fast eben­so öde wie die The­re­si­en­wie­se, und nichts stör­te den feucht­äu­gi­gen Ly­ri­ker, Epi­ker oder Dra­ma­ti­ker, oder Ly­ri­sche­pi­schen­dra­ma­ti­ker in sei­nem Nach­sin­nen über das höchst ei­gen­tüm­li­che Be­geb­nis. Noch zehn Mi­nu­ten nach­her stand er denn auch, und zwar nicht in der Stel­lung, in wel­cher er der­mal­einst in Erz ge­gos­sen zu wer­den wünsch­te, und blick­te das rote Buch zu sei­nen Fü­ßen scheu zö­gernd an. Zu­letzt wag­te er es, das Ding auf­zu­he­ben; aber er ging sehr vor­sich­tig da­bei zu Wer­ke – fast eben­so vor­sich­tig wie vor­hin Miss Chri­sta­bel Ed­dish am So­ckel der Ba­va­ria. Ob er es der Po­li­zei ab­lie­fer­te, oder es mit sich nach Hau­se nahm, kön­nen wir nicht sa­gen, sind je­doch nach un­sern vor­hin ein­ge­scho­be­nen Be­mer­kun­gen über ge­fun­de­ne Sa­chen in­nigst über­zeugt, dass er es ab­lie­fer­te, und es erst dann poe­tisch ver­wer­te­te, wenn es ihm durch sämt­li­che im Lau­fe der Zeit his­to­risch-po­li­tisch ge­wor­de­nen staat­li­chen und kirch­li­chen Be­hör­den tin­ten­flüs­sig ge­macht wor­den war.

      Was geht uns der deut­sche Rit­ter an? Nicht ein­mal der eng­li­sche zieht uns in die­sem Au­gen­bli­cke auf sei­nem Rei­se­we­ge gen Flo­renz nach sich. Auch als rit­ter­li­cher His­to­rio­graf ha­ben wir im­mer noch un­se­re gan­ze Teil­nah­me und Auf­merk­sam­keit dem bri­ti­schen Fräu­lein zu­zu­wen­den und be­glei­ten sie dem­ge­mäß in ih­ren Gast­hof. Wir se­hen sie vor der Tür des­sel­ben aus­stei­gen, wir fol­gen ihr die Trep­pe hin­auf und se­hen mit Be­dau­ern, wie sie sich bei je­dem Schritt auf­wärts schwer und hin­fäl­lig auf das Ge­län­der zu stüt­zen hat. Wir be­glei­ten sie in ihr Zim­mer und sind Zeu­ge ei­nes wahr­haft über­wäl­ti­gen­den Er­gus­ses üb­ler Lau­ne, der sich auf die un­glück­se­li­ge Vir­gi­ny stürzt, sie von den Fü­ßen hebt und im so­for­ti­gen krampf­haft ei­li­gen Kof­fer­pa­cken um­her­wir­belt.

      Sie pack­ten bei­de – Her­rin und Die­ne­rin. Die letz­te­re in wil­len­lo­ser Über­ra­schung und stu­pi­der Hin­ge­bung in die Be­schlüs­se des Fa­tums; die ers­te­re mit dem töd­lich be­ängs­ti­gen­den Ge­fühl, auch hier in Mün­chen wäh­rend der gan­zen Dau­er ih­res Auf­ent­halts den Ka­pi­tän Sir Hugh zum Wand­nach­bar ge­habt zu ha­ben. Sie ris­sen Schub­la­den auf und scho­ben Schub­la­den zu. Sie stan­den in ei­nem Wel­len­schla­gen viel­far­bi­ger Ge­wän­der al­ler Art; sie quetsch­ten un­aus­sprech­li­che Leib­wä­sche in Hutschach­teln und Pa­ri­ser Hüte in die Rei­se­kof­fer. Sie hat­ten zu­letzt bei­de die Köp­fe ver­lo­ren, und Miss Vir­gi­ny be­kam den ih­ri­gen da­durch, dass ihr ein Dut­zend Spit­zen­ta­schen­tü­cher ins Ge­sicht ge­wor­fen wur­de, durch­aus nicht wie­der. Sie lie­ßen man­ches zu­rück, von dem sie sich nach­her son­der­ba­rer­wei­se ganz und gar nicht er­klä­ren konn­ten, wo es ge­blie­ben war, und es zeugt von ei­nem au­ßer­ge­wöhn­lich gu­ten Her­zen uns­rer­seits, dass wir jetzt ohne wei­te­re aus­ma­len­de Schil­de­rung die Le­se­rin ih­res herz­klop­fen­den zit­tern­den Mit­ge­fühls ent­le­di­gen und das Paar nach aus­ge­gli­che­ner Rech­nung auf den Bahn­hof be­för­dern. Miss Chri­sta­bel Ed­dish fuhr ab von Mün­chen, ohne an die­sem Tage zu Mit­tag zu spei­sen, – sie leis­te­te dem Hil­fe­schrei der säch­si­schen Freun­din in Stutt­gart aus mehr als ei­ge­nem An­trie­be Fol­ge. Sie ver­zich­te­te für dies­mal voll­stän­dig auf Flo­renz, und sie wür­de auch ohne das Post­skrip­tum im Brie­fe ih­rer Freun­din dar­auf ver­zich­tet ha­ben. O hät­te doch der Poet auf dem Karls­plat­ze den Zu­sam­men­hang zwi­schen ih­rer Stim­mung und dem Wurf auf sei­nen Ma­gen ge­kannt! Ach, es ist kei­ne Ge­rech­tig­keit mehr in der Welt, und was die Ver­tei­lung der li­te­ra­ri­schen Gü­ter an­be­trifft, so wird die­sel­be wirk­lich lä­cher­lich will­kür­lich ge­hand­habt; denn wie ge­rie­te sonst der Fa­den die­ses Zu­sam­men­han­ges zwi­schen un­se­re blö­den und un­ge­schickt tas­ten­den Fin­ger?! Wir schä­men uns aber auch sel­ber un­se­res un­ver­dien­ten Glückes, und nur die Hoff­nung, dass man es in der ge­wohn­ten Wei­se – wie der Alte von der Ilm sagt, se­kre­tie­re, hält uns auf­recht


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