Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Harmonie im Weltall wieder herzustellen. Bis tief in die Nacht hinein wogen beide Rosen, Lilien und Vergissmeinnicht ab und zu: versetzen wir uns einmal ihnen gegenüber recht lebhaft in die Stelle dessen, der die Wage hielt!
Das zehnte Kapitel.
Die Tage waren fast zu schön, um sich in und an ihnen zu ärgern, und doch wie viele Leute, die sich jetzt auf Reisen befanden, hatten ihren Ärger, ihre Angst mit auf den Weg genommen! Von dem Exkandidaten der Theologie Herrn Christoph Pechlin aus Waldenbuch konnte man dieses jedoch nicht behaupten, und der, welcher dergleichen erwartete, täuschte sich sehr in seiner Erwartung. Pechle gehörte eben zu den durchaus nicht sparsam über die Welt verstreuten Biedermännern, welche, dem bösesten Gewissen zum Trotz, bei Tage der allergemütlichsten Lebensstimmung und bei Nacht des allerbesten Schlafes sich erfreuen und dadurch wieder einmal eines der land- und weltläufigen Dikta vollständig zuschanden machen. Christoph hatte ein böses Gewissen, allein lästig fiel es ihm nicht. Ja, wenn er einmal an das Weib seines Freundes dachte, wurde der Himmel über ihm womöglich noch klarer, der Wald grüner, die Sonne sonniger und jeglicher über jeglicher Kneipentür ausgehängte Busch ein doppelt verlockender Wink zur Einkehr.
Ein schöner Sommer! Ein recht schöner heißer Sommer! Wer in den ersten Tagen des Juni auf einer Fußwanderung im Schwabenlande sich befand, der hatte, auch ohne gerade genötigt zu sein, die Qualen eines schlechten Gewissens zu ersäufen, mannigfache Gründe und Anlässe, in jeder zweiten Schenke am Wege einzukehren. Auch das Recht, sich in jeglichem Waldrandesschatten, sei es im Tal, sei es auf der Höhe, in das Gras zu strecken und den Rauch der Zigarre in den Duft des Tannendickichts hineinzublasen, konnte ihm unmöglich abgesprochen werden.
»Nektar vom Fass! Ambrosia aus der freien Faust! Schlürfe und schlucke, mein Sohn, es ist Vorrat genug von beiden vorhanden!« rief Pechle jedes Mal, wenn er den Baron zu sich nieder auf das weiche Moos zog. –
»O Gott, was wird meine Frau sagen?« ächzte der Freiherr jedes Mal, wenn er sich neben dem Reisegenossen steif zusammenklappte, die Arme um die Schienbeine schlang und das Kinn auf die Knie legte.
»Asche auf dein Haupt!« brummte dann wohl der Exstiftler. »Potz Tränenfläschle und Aschenkrügle, jedes Mal, wenn ich dich so dasitzen sehe, tut es mir im tiefsten Herzen weh, dass ich kein Geislinger Holzschnitzer bin. Aber den ersten bildenden Naturkünstler, der uns begegnet, rufe ich an und lasse dich Modell hocken. Die Möglichkeit ist doch noch vorhanden, dass dich deine eben wieder einmal von dir erwähnte Gattin mit einem Sohn beschenkt, und dessen Enkel noch sollen dich als Andenken an die schwäbische Alb von ihren Ausflügen mit nach Sachsen heimbringen und auf ihren Schreibtischen aufstellen.«
»O Christoph!« seufzte der reichsunmittelbare Ferdinand durchaus nicht erheitert durch diese Aussicht, in seiner schönsten Situation auf die Nachwelt zu kommen, und Pechle schloss dann gewöhnlich die Unterhaltung mit einem:
»Na, dann lass uns weiter marschiere, ’s wird mir allmählich o’a’g’nem, hier als ein behaglicher Mensch bei dir zu liege.«
Nimmer vernahmen die königlich württembergischen Dryaden und Hamadryaden so viele Zitate aus dem Aristophanes, als während dieser Reisetage der beiden Tübinger Freunde. Es war jedoch nur der eine derselben, welcher zitierte, nämlich der Plato-Übersetzer. Und wenn ein Exkandidat der Theologie und ein Übersetzer des Platon in das Zitieren des Aristophanes hineingerät, so zitiert er gewöhnlich mit vielem Geschmack. Es ging wie ein breites Lächeln – Grinsen durch den Wald und über die sonnigen Hügel. Die Dryaden und die Oreaden taten zwar, als ob sie die Ohren zuhielten, aber sämtliche Faune und Satyre rings in der Umgegend wurden mit einem Male wach und sehr lebendig und hüpften mit Bockssprüngen neben, vor und hinter den beiden Wanderern auf ihrem Pfade durch den reizenden Tag, während alle Bäche vor dem scheuen, errötenden Untertauchen ihrer Nymphen stärker rauschten und ihre Tropfen mutwilliger auf den Weg spritzten. Es ist unglaublich zu sagen, wie lustig sich sämtliche schwäbische Berg- und Waldgötter über den Baron Ferdinand von Rippgen aus Dresden machten, und umso verdrießlicher ist es, dass wir die zwei Herren samt ihrem Gefolge nicht von Stunde zu Stunde durch die holden Tage begleiten konnten. Erst zu Owen (sprich: Auen!) unter Teck legen wir wieder die Hand auf sie. –
Zu Owen unter Teck, in der niedrigen, schwarz gerauchten Gaststube des Wirtshauses zur Krone, saßen der Baron und Christoph Pechlin beim Frühstück und hatten mancherlei hinter sich. Sie hatten den Grünen Felsen, Sankt Johann, den Uracher Wasserfall, Hohen-Urach, die Stadt Urach und den Hohen-Neuffen hinter sich, und als sie an diesem jetzigen Morgen von Erkenbrechtsweiler nach Owen hinuntergestiegen waren, da mochte es wahrlich zweifelhaft erschienen sein, wer dem anderen in Heiterkeit und Selbstzufriedenheit den Rang abgewonnen hatte, der Exstiftler Christoph Pechle aus dem Schönbuch auf dem steilen Bergpfade oder das Lenninger Tal zur Rechten des Wegs, flimmernd im Sonnenschein, und seine Kirschbaumpracht mit berechtigtem Stolz dem blauen Himmel und den Bergen hinbreitend.
»Wird des en Geischt in diesem Jahr geben!« hatte Christoph, den Begleiter auf die Üppigkeit der Natur aufmerksam machend, in Ekstase gerufen; aber der Baron war leider geistig so herunter, dass ihn selbst die Aussicht auf das Lenninger Tal mit allen den verlockenden Hoffnungen und Verheißungen auf ein außergewöhnlich zu lobendes Kirschwasser nicht aufrichten konnte.
»O ja – aber meine Frau! meine arme Lucie!« hatte Ferdinand gestöhnt, und so waren sie nach Owen in die Krone hinabgestiegen, und Pechle hatte das Frühstück bestellt.
Sie befanden sich jetzt auf der Rückreise. Schon wurden die Pferde des Postwagens, der sie nach Kirchheim zur Eisenbahnstation bringen sollte, vor der Tür angeschirrt, und an dem braungemalten Tische in der Gaststube stieß der Freund dem Freunde den Ellenbogen in die Seite und sagte:
»Du! Rippgen! jetzt nimm noch einmal das Gesicht aus den Händen und schau dem Weltenschicksal in die Augen. Heute Abend sehen wir vom Hohenstaufen aus die Sonne untergehen und morgen überliefere ich dich den Armen der zärtlichsten Gattin von neuem und vertrete alles, was wir beide in Kompanie während der letzten Tage gesündigt haben.«
»Du? uh! o!« stöhnte der Baron, das Gesicht zwar erhebend, jedoch nicht dem Weltenschicksal, sondern dem Reisegenossen aschgrau vor Gewissensangst in die Augen starrend. »Ei ja; du wirst die Glocke an meiner Tür ziehen, wirst mich auf meinen Vorsaal schieben, wirst einen Augenblick horchen, wirst zu deiner eigenen Wohnung hinaufsteigen, wirst über meinem