Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada

Hans Fallada – Gesammelte Werke - Hans  Fallada


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möch­te das doch ein­mal se­hen, ein ein­zi­ges Mal! Was kann mir denn ge­sche­hen? Ich bin hier ei­ner von acht­zig Ar­bei­tern, alle sind eben­so in Ver­dacht wie ich, ja mehr noch, weil mich je­der als al­tes Ar­beit­s­tier kennt, fern von al­ler Po­li­tik. Ich ris­kie­re es, ich muss es ein­mal er­le­ben.

      Und ehe er sich noch recht be­son­nen hat, ruft er einen Ar­bei­ter an: »Du da! Heb das mal auf! Die Din­ger muss ei­ner ver­lo­ren ha­ben. Was ist das? Was glotzt du?«

      Er nimmt dem Ar­bei­ter die eine Kar­te aus der Hand, er tut, als läse er sie. Aber er kann jetzt nicht le­sen, sei­ne ei­ge­ne große Schrift in Block­buch­sta­ben kann er nicht le­sen. Es ist ihm nicht mög­lich, den Blick vom Ge­sicht des Ar­bei­ters ab­zu­wen­den, der auf die Kar­te starrt. Der Mann liest auch nicht mehr, aber sei­ne Hand zit­tert, in sei­nem Blick ist Angst.

      Quan­gel starrt ihn an. Also Angst, nichts wie Angst. Der Mann hat die Kar­te nicht ein­mal zu Ende ge­le­sen, er ist kaum über die ers­te Zei­le hin­aus­ge­kom­men, da über­wäl­tigt ihn schon die Angst.

      Ki­chern lässt Quan­gel auf­mer­ken. Er blickt auf und sieht, dass die hal­be Werk­statt auf die­se bei­den Män­ner starrt, die da in der Ar­beits­zeit her­um­ste­hen, Post­kar­ten le­send … Oder füh­len sie schon, dass et­was Schreck­li­ches ge­sche­hen ist?

      Quan­gel nimmt dem an­de­ren die Kar­te aus der Hand. Die­ses Spiel muss er jetzt al­lein wei­ter­spie­len, der Mann ist so ver­schüch­tert, dass er zu nichts mehr im­stan­de ist.

      »Wo ist hier der Ob­mann von der Ar­beits­front? Der in den Man­che­s­ter­ho­sen an dem Sä­ge­gat­ter? Gut! Geh an dei­ne Ar­beit, und dass du mir nicht schwatzt, sonst er­geht es dir schlecht!«

      »Höre!«, sagt Quan­gel zu dem Mann am Sä­ge­gat­ter. »Komm mal einen Au­gen­blick auf den Gang. Ich will dir was ge­ben.« Und als die bei­den drau­ßen ste­hen: »Hier die­se bei­den Kar­ten! Der Mann da­hin­ten hat sie auf­ge­ho­ben. Ich sah sie. Ich glau­be, du musst sie der Ge­schäfts­füh­rung brin­gen. Oder?«

      Der an­de­re liest. Auch er liest nur ein paar Sät­ze. »Was ist das?«, fragt er er­schro­cken. »Die ha­ben hier bei uns in der Werk­statt ge­le­gen? O Gott, das kann uns Kopf und Kra­gen kos­ten! Wer, sagst du, hat die Din­ger auf­ge­ho­ben? Hast du ge­se­hen, wie er sie auf­hob?«

      »Ich sage, ich habe ihm ge­sagt, er soll sie auf­he­ben! Ich habe sie viel­leicht zu­erst ge­se­hen. Vi­el­leicht!«

      »O Gott, was soll ich nur tun mit den Din­gern? Ver­fluch­te Schei­ße! Ich schmei­ße sie ein­fach in den Ab­tritt!«

      »Du musst sie auf der Di­rek­ti­on ab­lie­fern, sonst wirst du für schul­dig an­ge­se­hen. Der Mann, der sie fand, wird nicht im­mer den Mund hal­ten. Lauf gleich, ich gehe un­ter­des für dich ans Gat­ter.«

      Der Mann geht zö­gernd. Er hält die Kar­ten so in der Hand, als ver­seng­ten sie ihm die Fin­ger.

      Quan­gel kehrt in die Werk­statt zu­rück. Aber er kann sich nicht so­fort ans Sä­ge­gat­ter stel­len: die gan­ze Werk­statt ist voll Un­ru­he. Noch weiß nie­mand et­was Be­stimm­tes, aber dass et­was ge­sche­hen ist, das wis­sen sie alle. Sie ste­cken die Köp­fe zu­sam­men, sie wis­pern, und dies­mal hilft nicht vo­gel­haft star­res Bli­cken und Schwei­gen des Werk­meis­ters, um Ruhe zu schaf­fen. Er muss, was er seit Jah­ren nicht mehr ge­tan hat, laut schimp­fen, er muss Stra­fen an­dro­hen, den Zor­ni­gen spie­len.

      Und wenn es in der einen Ecke der Werk­statt ru­hig ge­wor­den ist, so ist es in der an­de­ren umso lau­ter, und läuft wie­der al­les so ei­ni­ger­ma­ßen, ent­deckt er, dass zwei, drei Ma­schi­nen nicht voll be­setzt sind: auf dem Ab­tritt steckt die Ban­de! Er jagt sie dort auf, ei­ner hat die Frech­heit, ihn zu fra­gen: »Was ha­ben Sie da vor­hin ei­gent­lich ge­le­sen, Meis­ter? War’s wirk­lich ein Flug­blatt vom Eng­län­der?«

      »Tu dei­ne Ar­beit!«, knurrt Quan­gel und treibt die Bur­schen vor sich her in die Werk­statt.

      Dort schwat­zen sie schon wie­der. Sie ha­ben sich zu Trüpp­chen ver­sam­melt, eine nie da­ge­we­se­ne Un­ru­he herrscht. Quan­gel muss hin und her, muss schimp­fen, dro­hen, schel­ten – der Schweiß steht auf sei­ner Stir­ne …

      Und da­bei denkt es im­mer wei­ter in ihm: Das also ist die ers­te Wir­kung. Nur Angst. So viel Angst, dass sie nicht ein­mal wei­ter­le­sen! Aber das hat nichts zu sa­gen. Sie füh­len sich hier be­ob­ach­tet. Mei­ne Kar­ten hat meist ei­ner al­lein ge­fun­den. Der konn­te sie in Ruhe le­sen, über­den­ken, da ta­ten sie ganz an­de­re Wir­kung. Ich habe ein blö­des Ex­pe­ri­ment ge­macht. Mal se­hen, wie es ab­läuft. Ei­gent­lich ist es gut, dass ich als Meis­ter die Kar­ten ge­fun­den und ab­ge­lie­fert habe, das wird mich ent­las­ten. Nein, ich habe nichts ris­kiert. Und selbst wenn sie Haus­su­chung bei mir ma­chen, sie fin­den nichts. Anna wird frei­lich einen Schreck krie­gen – aber nein, ehe sie Haus­su­chung ma­chen, bin ich schon wie­der dort und be­rei­te Anna vor … 14 Uhr 2 Mi­nu­ten – es müss­te doch Schicht­wech­sel sein, jetzt kommt mei­ne Schicht dran.

      Aber nichts von Schicht­wech­sel. Das Glo­cken­zei­chen er­tönt nicht in der Werk­statt, die ab­lö­sen­de Be­leg­schaft (Quan­gels ei­gent­li­che Be­leg­schaft) er­scheint nicht, die Ma­schi­nen sur­ren wei­ter. Jetzt wer­den die Leu­te wirk­lich un­ru­hig, im­mer häu­fi­ger ste­cken sie die Köp­fe zu­sam­men, se­hen auf die Uhren.

      Quan­gel muss es auf­ge­ben, ih­rem Schwat­zen Ein­halt zu ge­bie­ten, er ist nur ei­ner ge­gen acht­zig Mann, er schafft es nicht mehr.

      Dann plötz­lich er­scheint ein Herr aus den Bü­ros, ein fei­ner Herr mit scharf­ge­bü­gel­ten Ho­sen und mit dem Par­tei­ab­zei­chen. Er stellt sich ne­ben Quan­gel und ruft in den Ma­schi­nen­lärm: »Be­leg­schaft! Her­hö­ren!«

      Alle Ge­sich­ter wen­den sich ihm zu, bloß neu­gie­ri­ge, er­war­tungs­vol­le, fins­te­re, ab­leh­nen­de, gleich­gül­ti­ge.

      »Die Be­leg­schaft ar­bei­tet aus be­son­de­ren Grün­den vor­läu­fig wei­ter. Über­stun­den­lohn wird be­zahlt!«

      Er macht eine Pau­se, alle se­hen ihn starr an. Ist das al­les? Aus be­son­de­ren Grün­den! Sie er­war­ten mehr!

      Aber er schreit nur: »Wei­ter­ar­bei­ten die Be­leg­schaft!«

      Und zu Quan­gel ge­wen­det: »Sie sor­gen für ab­so­lu­te Ruhe und Fleiß, Meis­ter! Wer ist der Mann, der die­se Kar­ten auf­ge­ho­ben hat?«

      »Ich habe sie zu­erst ge­se­hen, glau­be ich.«

      »Ich weiß schon. Also der da? Schön, Na­men wis­sen Sie doch?«

      »Nein. Dies ist nicht mei­ne Be­leg­schaft.«

      »Ich weiß schon. Ach, sa­gen Sie der Be­leg­schaft doch noch, dass das Be­tre­ten der Ab­or­te vor­läu­fig nicht mög­lich ist, je­des Ver­las­sen des Ar­beits­rau­mes ist ver­bo­ten. An je­der Tür ste­hen zwei Pos­ten – drau­ßen!«

      Und der scharf­ge­bü­gel­te Herr nickt Quan­gel flüch­tig zu und geht.

      Quan­gel geht von Ar­beits­platz zu Ar­beits­platz. Ei­nen Au­gen­blick sieht er auf die Ar­beit, auf die Hän­de der Ar­bei­ten­den. Dann sagt er: »Das Ver­las­sen des Ar­beits­rau­mes und das Be­tre­ten der Ab­or­te ist vor­läu­fig ver­bo­ten. An je­der Tür ste­hen zwei Pos­ten – drau­ßen!«

      Und ehe sie noch et­was ha­ben fra­gen kön­nen,


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