Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada
der Blick des starren, scharfen Auges, jetzt flackerte er, irrte ab, senkte sich zur Erde und hob sich wieder wie gebannt zu den Fähnchen.
»Und noch eines, Quangel: Haben Sie je einmal darüber nachgedacht, wie viel Angst und Not Sie mit diesen Karten über die Menschen gebracht haben? Die Leute sind ja vor Angst vergangen, manche sind verhaftet worden, und von einem weiß ich bestimmt, dass er wegen dieser Karten Selbstmord verübt hat …«
»Nein! Nein!«, schrie Quangel. »Das habe ich nie gewollt! Das habe ich nie geahnt! Ich hab’s gewollt, dass es besser wird, dass die Leute die Wahrheit kennenlernen, dass der Krieg schneller zu Ende geht, dass dies Morden endlich aufhört – das habe ich gewollt! Aber ich habe doch nicht Angst und Schrecken säen wollen, ich hab’s doch nicht noch schlimmer machen wollen! Die armen Menschen – und ich habe sie noch ärmer gemacht! Wer war’s denn, der Selbstmord verübt hat?«
»Ach, so ein kleiner Nichtstuer, ein Rennwetter, der ist nicht wichtig, um den machen Sie sich das Herz nicht schwer!«
»Jeder ist wichtig. Sein Blut wird von mir gefordert werden.«
»Sehen Sie, Herr Quangel«, sagte der Kommissar zu dem düster neben ihm stehenden Manne. »Nun haben Sie es doch gestanden, Ihr Verbrechen, und haben es nicht einmal gemerkt!«
»Mein Verbrechen? Ich habe kein Verbrechen begangen, wenigstens nicht das, was Sie meinen. Mein Verbrechen ist es, dass ich mich für zu schlau hielt, dass ich es allein machen wollte, und ich weiß doch, einer ist nichts. Nein, ich habe nichts getan, weswegen ich mich schämen muss, aber wie ich es getan habe, das war falsch. Dafür verdiene ich die Strafe, und darum sterbe ich gerne …«
»Nun, so schlimm wird’s ja nicht gleich werden«, bemerkte der Kommissar tröstlich.
Quangel hörte nicht auf ihn. Vor sich hin sagte er: »Ich hab nie richtig was von den Menschen gehalten, sonst hätte ich es wissen müssen.«
Escherich fragte: »Wissen Sie denn, Quangel, wie viel Briefe und Karten Sie eigentlich geschrieben haben?«
»276 Karten, 9 Briefe.«
»… sodass ganze 18 Stück nicht abgeliefert worden sind.«
»18 Stück, das ist meine Arbeit von über zwei Jahren, das ist all meine Hoffnung. 18 Stück mit dem Leben bezahlt, aber immer doch 18 Stück!«
»Glauben Sie nur nicht, Quangel«, sagte der Kommissar, »dass diese 18 Stück immer weitergegeben sind. Nein, die sind von Leuten gefunden, die selbst so viel Dreck am Stecken hatten, dass sie die Karten nicht abzugeben wagten. Auch diese 18 sind ohne jede Wirkung geblieben, wir haben nie etwas aus dem Publikum von ihrer Wirkung gehört …«
»Sodass ich nichts erreicht habe?«
»Sodass Sie nichts erreicht haben, wenigstens nichts von dem, was Sie wollten! Seien Sie doch froh darüber, Quangel, das wird Ihnen bestimmt als strafmildernd angerechnet werden! Vielleicht kommen Sie mit fünfzehn oder zwanzig Jahren Zuchthaus weg!«
Quangel schauderte. »Nein«, sagte er. »Nein!«
»Was haben Sie sich denn eigentlich auch gedacht, Quangel? Sie, ein einfacher Arbeiter, haben gegen den Führer kämpfen wollen, hinter dem die Partei, die Wehrmacht, die SS, die SA stehen? Gegen den Führer, der schon die halbe Welt besiegt hat und in ein, zwei Jahren unsern letzten Feind besiegt haben wird? Das ist doch lächerlich! Das mussten Sie sich doch von vornherein sagen, dass das schief gehen musste! Das ist, wie wenn eine Mücke gegen einen Elefanten kämpfen will. Das verstehe ich nicht, Sie, ein vernünftiger Mann!«
»Nein, das werden Sie nie verstehen. Es ist egal, ob nur einer kämpft oder zehntausend; wenn der eine merkt, er muss kämpfen, so kämpft er, ob er Mitkämpfer hat oder nicht. Ich habe kämpfen müssen, und ich würde es immer wieder tun. Nur anders, ganz anders.«
Er wendete seinen wieder ruhigen Blick zum Kommissar: »Übrigens, meine Frau hat nichts mit diesen Dingen zu schaffen. Sie müssen sie wieder freilassen!«
»Jetzt lügen Sie, Quangel! Ihre Frau hat die Karten diktiert, sie hat es selbst gestanden.«
»Jetzt lügen Sie! Sehe ich aus wie ein Mann, der sich von seiner Frau diktieren lässt? Womöglich sagen Sie noch, sie hat sich die ganze Sache ausgedacht. Aber ich bin es gewesen, ich allein. Ich bin darauf gekommen, ich habe die Karten geschrieben, ich habe sie ausgetragen, ich will meine Strafe! Sie nicht! Meine Frau nicht!«
»Sie hat gestanden …«
»Sie hat nichts gestanden! Ich will solche Lügen nicht mehr hören! Sie sollen mir meine Frau nicht schlechtmachen!«
Einen Augenblick standen sich die beiden gegenüber, der Mann mit dem scharfen Vogelkopf und dem harten Blick und der farblose, graue Kommissar mit dem semmelblonden Bart und den hellen Augen.
Dann senkte Escherich den Blick und sagte: »Ich rufe jetzt jemand herein, wir werden ein kleines Protokoll aufnehmen. Ich hoffe, Sie bleiben bei Ihrer Aussage?«
»Ich bleibe dabei.«
»Und Sie sind sich klar darüber, was Sie erwartet? Hohe Zuchthausstrafe, vielleicht der Tod?«
»Jawohl, ich weiß, was ich getan habe. Und ich hoffe, auch Sie wissen, was Sie tun, Herr Kommissar?«
»Was tue ich denn?«
»Sie arbeiten für einen Mörder, und Sie liefern dem Mörder stets neue Beute. Sie tun’s für Geld, vielleicht glauben Sie nicht mal an den Mann. Nein, Sie glauben bestimmt nicht an ihn. Bloß für Geld …«
Wieder standen sie sich schweigend gegenüber, und wieder senkte der Kommissar nach einer Weile überwunden den Blick.
»Ich gehe dann«, sagte er fast verlegen, »und hole einen Schreiber.«
Er ging.
51. Kommissar Escherich
Um Mitternacht sitzt Kommissar Escherich noch oder vielmehr schon wieder in seinem Dienstzimmer. Er hockt da ganz in sich zusammengesunken, aber so viel Alkohol er auch getrunken hat, die schreckliche Szene, die er hat mitmachen müssen, hat er nicht vergessen.
Diesmal hat sein hoher Vorgesetzter, der schwarze Scheißbock Prall, kein Kriegsverdienstkreuz für seinen so erfolgreichen, so tüchtigen, so lieben Kommissar gehabt, aber eine Einladung zu einer kleinen Siegesfeier hatte er doch. Da hatten sie zusammengesessen, sie hatten vielen scharfen Armagnac aus gar nicht kleinen Gläsern getrunken, sie hatten über den erwischten Klabautermann geprahlt, und unter allgemeinem Beifall hatte Kommissar Escherich das Protokoll mit dem Geständnis Quangels vorlesen müssen …
Mühsame, sorgfältige kriminalistische Arbeit vor die Schweine geworfen!
Aber