Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada

Hans Fallada – Gesammelte Werke - Hans  Fallada


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      Anna Quan­gel spür­te, dass sie zit­ter­te. Dann sah sie rasch wie­der zu Otto hin­über. Er hat­te viel­leicht recht, ob we­nig oder viel, nie­mand konn­te mehr als sein Le­ben wa­gen. Je­der nach sei­nen Kräf­ten und An­la­gen – die Haupt­sa­che: man wi­der­stand.

      Noch im­mer sah Quan­gel sie stumm an, als be­ob­ach­te er den Kampf, den sie in sich kämpf­te. Nun wur­de sein Blick hel­ler, er nahm die Hän­de aus dem Se­kre­tär, rich­te­te sich auf und sag­te fast lä­chelnd: »Aber so leicht sol­len die uns nicht krie­gen! Wenn die schlau sind, wir kön­nen auch schlau sein. Schlau und vor­sich­tig. Vor­sich­tig, Anna, im­mer auf der Hut – je län­ger wir kämp­fen, umso län­ger wer­den wir wir­ken. Es nützt nichts, zu früh zu ster­ben. Wir wol­len le­ben, es noch er­le­ben, dass die fal­len. Wir wol­len dann sa­gen kön­nen, wir sind auch da­bei ge­we­sen, Anna!«

      Er hat­te die­se Wor­te leicht, fast scher­zend ge­spro­chen. Nun, wäh­rend er wie­der kram­te, lehn­te sich Anna er­leich­tert in das Sofa zu­rück. Eine Last war ihr ab­ge­nom­men, jetzt war sie auch da­von über­zeugt, dass Otto et­was Gro­ßes vor­hat­te.

      Er trug sein Fläsch­chen Tin­te, sei­ne in ei­nem Um­schlag be­find­li­chen Post­kar­ten, die wei­ßen, rie­si­gen Hand­schu­he an den Tisch. Er zog den Pfrop­fen aus der Fla­sche, glüh­te mit ei­nem Streich­holz die Fe­der aus und steck­te sie in die Tin­te. Es zisch­te lei­se, er be­sah auf­merk­sam die Fe­der und nick­te dann. Nun zog er um­ständ­lich die Hand­schu­he an, nahm eine Kar­te aus dem Um­schlag, leg­te sie vor sich hin. Er nick­te Anna lang­sam zu. Sie hat­te je­den die­ser be­hut­sa­men, lan­ge vor­be­rei­te­ten Grif­fe mit auf­merk­sa­mem Auge ver­folgt. Nun deu­te­te er auf die Hand­schu­he und sag­te: »We­gen Fin­ger­ab­drücken – du ver­stehst!«

      Dann nahm er die Fe­der zur Hand und sag­te lei­se, aber mit Nach­druck: »Der ers­te Satz un­se­rer ers­ten Kar­te wird lau­ten: ›Mut­ter! Der Füh­rer hat mir mei­nen Sohn er­mor­det‹ …«

      Und wie­der er­schau­er­te sie. Es lag et­was so Un­heil­vol­les, so Düs­te­res, so Ent­schlos­se­nes in die­sen Wor­ten, die Otto eben ge­spro­chen hat­te. Sie be­griff in ei­nem Au­gen­blick, dass er mit die­sem ers­ten Satz für heu­te und ewig den Krieg an­ge­sagt hat­te, und sie er­fass­te auch dun­kel, was das hieß: Krieg zwi­schen ih­nen bei­den, den ar­men, klei­nen, be­deu­tungs­lo­sen Ar­bei­tern, die we­gen ei­nes Wor­tes für im­mer aus­ge­löscht wer­den konn­ten, und auf der an­de­ren Sei­te der Füh­rer, die Par­tei, die­ser gan­ze un­ge­heu­re Ap­pa­rat mit all sei­ner Macht und sei­nem Glanz und drei Vier­tel, ja vier Fünf­tel des gan­zen deut­schen Vol­kes da­hin­ter. Und sie bei­de hier in die­sem klei­nen Zim­mer in der Ja­blons­ki­stra­ße al­lein!

      Sie sieht zu dem Man­ne hin­über. Wäh­rend sie dies al­les ge­dacht hat, ist er erst beim drit­ten Wort des ers­ten Sat­zes an­ge­kom­men. Unend­lich ge­dul­dig malt er das »F« von Füh­rer hin. »Lass mich doch schrei­ben, Otto!«, bit­tet sie. »Bei mir geht das viel schnel­ler!«

      Erst knurrt er wie­der nur. Aber dann gibt er ihr doch eine Er­klä­rung. »Dei­ne Hand­schrift«, sagt er. »Sie wür­den uns frü­her oder spä­ter durch dei­ne Hand­schrift er­wi­schen. Dies ist eine Kunst­schrift, Block­schrift – du siehst, eine Art Druck­buch­sta­ben …«

      Er ver­stummt wie­der, malt wei­ter. Ja, so hat er es sich aus­ge­dacht. Er glaubt nicht, dass er was ver­ges­sen hat. Die­se Kunst­schrift kann­te er von den Mö­bel­zeich­nun­gen der In­nen­ar­chi­tek­ten her, nie­mand kann ei­ner sol­chen Schrift an­se­hen, von wem sie stammt. Na­tür­lich fällt sie bei Otto Quan­gels schrei­bun­ge­wohn­ten Hän­den sehr grob und klo­big aus. Aber das scha­det nichts, das ver­rät ihn nicht. Es ist eher gut, so be­kommt die Kar­te et­was Pla­kat­ar­ti­ges, das so­fort das Auge auf sich zieht. Er malt ge­dul­dig wei­ter.

      Und sie ist auch ge­dul­dig ge­wor­den. Sie fängt an, sich dar­ein­zu­den­ken, dass dies ein lan­ger Krieg wird. Es ist jetzt Ruhe in ihr, Otto hat al­les be­dacht, auf Otto ist Ver­lass, im­mer und im­mer. Wie er al­les über­legt hat! Die ers­te Kar­te in die­sem Krie­ge, sie hat im ge­fal­le­nen Soh­ne ih­ren Ur­sprung, sie spricht von ihm. Ein­mal hat­ten sie einen Sohn, der Füh­rer hat ihn er­mor­det, jetzt schrei­ben sie Kar­ten. Ein neu­er Le­bens­ab­schnitt. Äu­ßer­lich hat sich nichts ge­än­dert. Ruhe um die Quan­gels. In­ner­lich ist al­les ganz an­ders ge­wor­den, da ist Krieg …

      Sie holt sich ih­ren Stopf­korb und fängt an, St­rümp­fe zu stop­fen. Ab und zu sieht sie zu Otto hin­über, der lang­sam, ohne je das Tem­po zu be­schleu­ni­gen, sei­ne Buch­sta­ben malt. Fast nach je­dem Buch­sta­ben hält er die Kar­te in Ar­mes­län­ge vor sich und be­trach­tet sie mit ein­ge­knif­fe­nen Au­gen. Dann nickt er.

      Schließ­lich zeigt er ihr die­sen ers­ten fer­ti­gen Satz. Er nimmt an­dert­halb sehr große Zei­len der Kar­te ein.

      Sie sagt: »Du wirst nicht viel her­auf­be­kom­men auf so eine Kar­te!«

      Er ant­wor­tet: »Ganz egal! Ich wer­de noch vie­le sol­che Kar­ten schrei­ben!«

      »Und sol­che Kar­te dau­ert lan­ge.«

      »Ich wer­de eine, spä­ter viel­leicht zwei Kar­ten an ei­nem Sonn­tag schrei­ben. Der Krieg ist noch nicht zu Ende, das Mor­den geht im­mer wei­ter.«

      Er ist nicht zu er­schüt­tern. Er hat einen Ent­schluss ge­fasst, und er wird nach die­sem Ent­schluss han­deln. Nichts kann ihn um­sto­ßen, nie­mand wird Otto Quan­gel auf sei­nem Wege Halt ge­bie­ten.

      Er sagt: »Der zwei­te Satz: ›Mut­ter! Der Füh­rer wird auch dei­ne Söh­ne er­mor­den, er wird noch nicht auf­hö­ren, wenn er Trau­er in je­des Haus auf der Welt ge­bracht hat‹ …«

      Sie wie­der­holt: »Mut­ter, der Füh­rer wird auch dei­ne Söh­ne er­mor­den!«

      Sie denkt an die Vor­stands­da­me in der Frau­en­schaft, an die Weiß­haa­ri­ge mit dem Mut­ter­kreuz, die ihr ge­sagt hat, man sol­le eben nicht nur einen Sohn, man sol­le vie­le Söh­ne ha­ben. Sie hat­te die hef­ti­ge Ant­wort auf den Lip­pen ge­habt: ›Da­mit mir das Herz Stück um Stück zer­ris­sen wird, nicht wahr? Nein, lie­ber will ich al­les auf ein­mal ver­lie­ren.‹ Sie hat die­se Ant­wort un­ter­drückt, jetzt gibt Otto sie: ›Mut­ter! Der Füh­rer wird auch dei­ne Söh­ne er­mor­den!‹

      Sie nickt, sie sagt: »Das schreib!« Sie über­legt: »Man müss­te die­se Kar­te dort­hin le­gen, wo­hin Frau­en kom­men!«

      Er denkt nach, dann schüt­telt er den Kopf: »Nein. Bei Frau­en, die einen Schreck be­kom­men, weiß man nie, was sie tun. Ein Mann wird sol­che Kar­te schnell in die Ta­sche ste­cken, auf der Trep­pe. Spä­ter wird er sie dann gründ­lich le­sen. Au­ßer­dem: alle Män­ner sind Söh­ne von Müt­tern.«

      Er schweigt wie­der, er fängt von Neu­em mit Ma­len an. Der Nach­mit­tag ver­geht, sie den­ken nicht an das Ve­s­per­brot. Schließ­lich, der Abend ist da, wird auch die Kar­te fer­tig. Er steht auf. Er sieht sie noch ein­mal an.

      »So!«, sagt er. »Das wäre ge­schafft. Nächs­ten Sonn­tag die zwei­te.«

      Sie nickt.

      »Wann trägst du sie weg?«, flüs­tert sie.

      Er sieht sie an. »Mor­gen Vor­mit­tag.«

      Sie bit­tet: »Lass mich da­bei sein, die­ses ers­te Mal!«

      Er schüt­telt den Kopf. »Nein«, sagt er. »Gra­de


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