Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada

Hans Fallada – Gesammelte Werke - Hans  Fallada


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er wür­de sich frei­kämp­fen.

      Wäh­rend sie so über­le­gend ne­ben dem schweig­sa­men Man­ne ein­her­geht, sind sie von der Greifs­wal­der in die Neue Kö­nigs­tra­ße hin­ein­ge­kom­men. Sie ist so be­schäf­tigt ge­we­sen mit ih­ren Ge­dan­ken, dass sie nicht dar­auf ge­ach­tet hat, wie wach­sam Otto Quan­gels Au­gen an den Häu­sern ent­langstri­chen. Nun bleibt er plötz­lich ste­hen – sie ha­ben noch ein gu­tes Stück bis zum Alex­an­der­platz – und sagt: »Da, sieh dir da das Schau­fens­ter an, ich bin gleich zu­rück.«

      Schon geht er über die Fahr­bahn auf ein großes, hel­les Bü­ro­haus zu.

      Ihr Herz fängt stark an zu klop­fen. Sie möch­te ihm zu­ru­fen: Nein, nicht, wir ha­ben Alex aus­ge­macht! Lass uns so lan­ge noch zu­sam­men­blei­ben! Und: Sage mir we­nigs­tens Le­be­wohl! Aber die Tür dort schlug schon hin­ter ihm zu.

      Mit ei­nem schwe­ren Seuf­zer wen­det sie sich dem Schau­fens­ter zu. Aber sie sieht nichts von dem Aus­ge­stell­ten. Sie lehnt die Stirn ge­gen die kal­te Schei­be, vor ih­ren Au­gen flirrt und flim­mert es. Ihr Herz klopft so sehr, dass sie kaum at­men kann, al­les Blut scheint ihr in den Kopf zu tre­ten.

      Also habe ich doch Angst, denkt sie. Um Got­tes wil­len, er darf das nie mer­ken, dass ich Angst habe! Sonst nimmt er mich nie wie­der mit. Aber ich habe auch kei­ne rich­ti­ge Angst, über­legt sie wei­ter. Ich habe kei­ne Angst um mich. Ich habe um ihn Angst. Wenn er nun nicht wie­der­kommt!

      Sie kann es nicht las­sen, sie muss sich nach dem Bü­ro­haus um­dre­hen. Die Tür wird auf­ge­sto­ßen, Men­schen kom­men, Men­schen ge­hen; warum kommt Quan­gel nicht? Er muss fünf, nein, zehn Mi­nu­ten fort sein. Wa­rum rennt der Mann, der eben aus dem Haus kam, so? Soll er viel­leicht die Po­li­zei ru­fen? Ha­ben sie Quan­gel gleich beim ers­ten Male ge­fasst?

      Oh, ich hal­te das nicht aus! Was hat er sich vor­ge­nom­men?! Und ich dach­te, es wäre et­was Klei­nes! Jede Wo­che ein­mal, und wenn er erst zwei Kar­ten schreibt, jede Wo­che zwei­mal in Le­bens­ge­fahr! Und er wird mich nicht im­mer mit­neh­men wol­len! Ich habe das heu­te früh schon ge­merkt, ei­gent­lich war ihm mein Mit­kom­men nicht recht. Er wird al­lein ge­hen, al­lein wird er die Kar­ten fort­brin­gen, und von da wird er zur Fa­brik ge­hen (oder er wird auch nie wie­der zur Fa­brik ge­hen!), und ich wer­de zu Hau­se sit­zen, sit­zen und mit Angst auf ihn war­ten. Ich füh­le, die­se Angst wird nie auf­hö­ren, dar­an wer­de ich mich nie ge­wöh­nen. Da kommt Otto! End­lich! Nein, er ist es nicht. Er ist es wie­der nicht! Jetzt gehe ich ihm nach, er kann noch so böse wer­den! Es ist be­stimmt et­was pas­siert, er muss schon eine Vier­tel­stun­de fort sein, so lan­ge kann das nie und nim­mer dau­ern! Jetzt su­che ich ihn!

      Sie macht drei Schrit­te auf das Haus zu – und kehrt wie­der um. Stellt sich vor das Schau­fens­ter, starrt hin­ein.

      Nein, ich wer­de ihm nicht nach­ge­hen, ich wer­de ihn nicht su­chen. Nicht schon gleich beim ers­ten Male kann ich so ver­sa­gen. Ich bil­de mir ja nur ein, dass was ge­sche­hen ist; sie ge­hen in dem Haus ein und aus wie im­mer. Si­cher ist Otto auch noch kei­ne Vier­tel­stun­de fort. Ich will jetzt se­hen, was in die­sem Schau­fens­ter ist. Büs­ten­hal­ter, Gür­tel …

      Un­ter­des war Quan­gel in das Bü­ro­haus ein­ge­tre­ten. Er hat­te sich nur dar­um so rasch dazu ent­schlos­sen, weil die Frau an sei­ner Sei­te war. Sie mach­te ihn un­ru­hig, je­den Au­gen­blick konn­te sie wie­der »da­von« zu re­den an­fan­gen. In ih­rer Ge­gen­wart moch­te er nicht lan­ge su­chen. Sie wür­de si­cher wie­der da­von zu re­den an­fan­gen, die­ses Haus vor­schla­gen, je­nes ab­leh­nen. Nein, nichts mehr da­von! Da ging er lie­ber in das ers­te Bes­te hin­ein, wenn es auch das ers­te Schlech­tes­te war.

      Es war das ers­te Schlech­tes­te. Es war ein hel­les, mo­der­nes Bü­ro­haus, mit vie­len Fir­men wohl, aber auch mit ei­nem Por­tier in grau­er Uni­form. Quan­gel geht, ihn gleich­gül­tig an­se­hend, an ihm vor­über. Er ist dar­auf ge­fasst, nach dem Wo­hin ge­fragt zu wer­den, er hat sich ge­merkt, dass Rechts­an­walt Toll im vier­ten Stock sein Büro hat. Aber der Por­tier fragt ihn nichts, er re­det mit ei­nem Herrn. Er streift den Vor­über­ge­hen­den nur mit ei­nem flüch­ti­gen, gleich­gül­ti­gen Blick. Quan­gel wen­det sich nach links, schickt sich an, die Trep­pe hoch­zu­stei­gen, da hört er einen Fahr­stuhl sur­ren. Sie­he da, da­mit hat er auch nicht ge­rech­net, dass es in ei­nem sol­chen mo­der­nen Haus Fahr­stüh­le gibt, so­dass die Trep­pen kaum be­nutzt wer­den.

      Aber Quan­gel steigt wei­ter die Trep­pe hoch. Der Jun­ge im Lift wird den­ken: Das ist ein al­ter Mann, er miss­traut ei­nem Fahr­stuhl. Oder er wird den­ken, er will nur in den ers­ten Stock. Oder er wird über­haupt nichts den­ken. Je­den­falls sind die­se Trep­pen kaum be­nutzt. Er ist schon auf der zwei­ten, und bis­her ist ihm nur ein Bü­ro­jun­ge be­geg­net, der ei­lig, ein Pa­ket Brie­fe in der Hand, die Trep­pen hin­ab­stürz­te. Er sah Quan­gel gar nicht an. Der könn­te sei­ne Kar­te hier über­all ab­le­gen, aber er ver­gisst nicht einen Au­gen­blick, dass die­ser Fahr­stuhl da ist, durch des­sen blin­ken­de Schei­ben er je­der­zeit be­ob­ach­tet wer­den kann. Er muss noch hö­her, und der Fahr­stuhl muss gra­de in die Tie­fe ver­sun­ken sein, dann wird er es tun.

      Er bleibt an ei­nem der ho­hen Fens­ter zwi­schen zwei Stock­wer­ken ste­hen und starrt auf die Stra­ße hin­un­ter. Da­bei zieht er, gut ge­gen Sicht ge­deckt, den einen Hand­schuh aus der Ta­sche und streift ihn über sei­ne Rech­te. Er steckt die­se Rech­te wie­der in die Ta­sche, vor­sich­tig glei­tet sie an der dort be­reit­lie­gen­den Kar­te vor­bei, vor­sich­tig, um sie nicht zu zer­knit­tern. Er fasst sie mit zwei Fin­gern …

      Wäh­rend Otto Quan­gel all das tut, hat er längst ge­se­hen, dass Anna nicht auf ih­rem Platz am Schau­fens­ter, son­dern dass sie am Ran­de des Fahr­damms steht und höchst auf­fal­lend mit sehr blas­sem Ge­sicht nach dem Bü­ro­haus hin­über­sieht. So hoch, wie er steht, er­hebt sie den Blick nicht, sie mus­tert wohl die Tü­ren im Erd­ge­schoss. Er schüt­telt un­mu­tig den Kopf, fest ent­schlos­sen, die Frau nie wie­der auf einen sol­chen Weg mit­zu­neh­men. Na­tür­lich hat sie Angst um ihn. Aber warum hat sie Angst um ihn? Sie soll­te um sich selbst Angst ha­ben, so falsch wie sie sich be­nimmt. Sie erst bringt sie bei­de in Ge­fahr!

      Er steigt wei­ter trepp­auf. Als er am nächs­ten Fens­ter vor­bei­kommt, schaut er noch ein­mal auf die Stra­ße, aber jetzt sieht Anna wie­der in das Schau­fens­ter hin­ein. Gut, sehr gut, sie hat ihre Angst un­ter­ge­kriegt. Sie ist eine mu­ti­ge Frau. Er wird gar nicht mit ihr dar­über spre­chen. Und plötz­lich nimmt Quan­gel die Kar­te, legt sie vor­sich­tig auf das Fens­ter­brett, reißt, schon im Ge­hen, den Hand­schuh von der Hand und steckt ihn in die Ta­sche.

      Die ers­ten Stu­fen hin­ab­stei­gend, sieht er noch ein­mal zu­rück. Da liegt sie im hel­len Ta­ges­licht, von hier aus kann er noch se­hen, eine wie große, deut­li­che Schrift sei­ne ers­te Kar­te be­deckt! Je­der wird sie le­sen kön­nen! Und ver­ste­hen auch! Quan­gel lä­chelt grim­mig.

      Zu­gleich hört er aber auch, dass eine Tür im Stock­werk über ihm geht. Der Fahr­stuhl ist vor ei­ner Mi­nu­te in die Tie­fe ge­sun­ken. Wenn es dem da oben, der gra­de ein Büro ver­las­sen hat, zu lang­wei­lig ist, auf das Wie­der­her­auf­kom­men des Fahr­stuhls zu war­ten, wenn er die Trep­pe hin­un­ter­steigt, die Kar­te fin­det: Quan­gel ist nur eine Trep­pe tiefer. Wenn der Mann läuft, kann er Quan­gel noch er­wi­schen, viel­leicht erst ganz un­ten, aber krie­gen kann er ihn, denn Quan­gel darf nicht lau­fen. Ein al­ter Mann, der wie ein Schul­jun­ge die Trep­pe hin­un­ter­läuft – nein, das fällt auf. Und er darf nicht auf­fal­len, nie­mand darf sich er­in­nern,


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