Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada
Ablieferung und Nichtablieferung geschwankt haben, das hat er sehr wohl begriffen.«
»Glaubst du, dass noch etwas nach der Sache kommt?«
»Nein, eigentlich nicht. Im schlimmsten Falle eine belanglose Vernehmung, wo und wann und wie du die Karte gefunden hast. Und da gibt es ja nichts zu verheimlichen.«
»Weißt du, Erwin, eigentlich bin ich jetzt ganz froh, aus dieser Stadt eine Weile herauszukommen.«
»Siehst du!«
»Man wird schlecht in dieser Stadt!«
»Man wird es! Man ist es schon! Und das kräftig!«
Unterdes war das Füchslein auf seine Ortsgruppe gefahren. Ein Braunhemd hielt jetzt die Karte in der Hand.
»Das geht nur die Gestapo an«, sagte das Braunhemd. »Du fährst am besten selbst damit hin, Heinz. Warte, ich gebe dir ein paar Zeilen mit. Und die beiden Herren?«
»Völlig außer Frage! Natürlich, politisch zuverlässig sind sie beide nicht. Ich sage dir, sie haben Blut und Wasser geschwitzt, als sie mit der Karte anfangen mussten.«
»Der Harteisen soll bei Minister Goebbels in Ungnade sein«, meinte das Braunhemd nachdenklich.
»Trotzdem!«, sagte das Füchslein. »Er würde so was nie wagen. Hat viel zu viel Angst. Ich habe ihm ins Gesicht sechs Filme genannt, in denen er nie aufgetreten ist, und habe seine Meisterleistung bewundert. Er hat eine Verbeugung nach der anderen gemacht und gestrahlt vor Dankbarkeit. Dabei habe ich direkt gerochen, wie er vor Angst geschwitzt hat!«
»Alle haben sie Angst!«, entschied das Braunhemd verächtlich. »Warum eigentlich? Es ist ihnen doch so leichtgemacht, sie brauchen nur zu tun, was wir ihnen sagen.«
»Das ist, weil die Leute das Denken nicht lassen können. Sie glauben immer, mit Denken kommen sie weiter.«
»Sie sollen bloß gehorchen. Das Denken besorgt der Führer.«
Das Braunhemd tippte auf die Karte: »Und der hier? Was meinst du zu dem, Heinz?«
»Was soll ich dazu sagen? Wahrscheinlich hat er wirklich den Sohn verloren …«
»I wo! Die so was schreiben und tun, das sind immer bloß Hetzer. Die wollen was für sich erreichen. Söhne und ganz Deutschland, das ist ihnen alles ganz egal. Irgend so ein alter Sozi oder Kommunist …«
»Glaube ich nicht. Glaube ich nie und nimmer im Leben. Die können doch von ihren Phrasen nicht lassen, Faschismus und Reaktion und Solidarität und Prolet – aber von all diesen Schlagworten steht nicht eins auf der Karte. I wo, was ein Sozi ist oder ein Kommunist, das rieche ich auf zehn Kilometer gegen den Wind!«
»Und ich glaub’s doch! Die haben sich jetzt alle getarnt …«
Aber die Herren auf der Gestapo waren auch nicht der Meinung des Braunhemdes. Übrigens wurde der Bericht des Füchsleins dort mit heiterer Ruhe aufgenommen. Dort war man immerhin schon andere Dinge gewohnt.
»Na ja«, sagten sie. »Schön und gut. Werden ja sehen. Wenn Sie sich vielleicht noch zu Kommissar Escherich bemühen wollen, wir verständigen ihn telefonisch, der wird die Sache bearbeiten. Geben Sie ihm noch einmal genauen Bericht, wie sich die beiden Herren verhielten. Natürlich geschieht im Augenblick nichts gegen sie, nur als Material für etwaige spätere Fälle kann so was nützlich sein, Sie verstehen doch …?«
Kommissar Escherich, ein langer, schlenkriger Mann mit einem losen, sandfarbenen Schnurrbart, in einem hellgrauen Anzug – alles an diesem Menschen war so farblos, dass man ihn gut für eine Ausgeburt des Aktenstaubes halten konnte –, also, Kommissar Escherich drehte die Karte zwischen den Händen hin und her.
»Eine neue Platte«, meinte er dann. »Die habe ich noch nicht in meiner Sammlung. Schwere Hand, hat nicht viel geschrieben in seinem Leben, immer mit der Hand gearbeitet.«
»Ein Kapediste?«, fragte das Füchslein.
Der Kommissar Escherich kicherte: »Machen Sie doch keine Witze, Herr! So was und ein Kapediste! Sehen Sie, wenn wir eine richtige Polizei hätten und die Sache wäre es wert, so wäre der Schreiber da in vierundzwanzig Stunden hinter Schloss und Riegel.«
»Und wie würden Sie das machen?«
»Das ist doch ganz einfach! Ich ließe überall in Berlin recherchieren, wem in den letzten zwei, drei Wochen ein Sohn gefallen ist, einziger Sohn wohlgemerkt, denn der Schreiber hat nur einen Sohn gehabt!«
»Woran sehen Sie denn das?«
»Das ist doch ganz einfach! Im ersten Satz, wo er von sich spricht, sagt er so. Im zweiten, bei den anderen, spricht er von Söhnen. Na, und auf die das dann zutrifft mit den Recherchen – es können gar nicht so viel sein in Berlin –, auf die hätte ich dann mein Augenmerk, und schon säße der Schreiber drin!«
»Aber warum tun Sie’s nicht?«
»Ich hab’s Ihnen doch schon gesagt, weil wir den Apparat dazu nicht haben und weil’s die Sache nicht wert ist. Sehen Sie, es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder schreibt der noch zwei, drei Karten, und dann hat er’s über. Weil’s ihm zu viele Mühe macht oder weil das Risiko ihm zu groß ist. Dann hat er nicht viel Schaden angerichtet, man hat aber auch nicht viel Arbeit von ihm gehabt.«
»Glauben Sie denn, dass hier alle Karten abgegeben werden?«
»Alle nicht, aber die meisten doch. Das deutsche Volk ist schon recht zuverlässig …«
»Weil sie alle Angst haben!«
»Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass dieser Mann«, er klopfte mit dem Knöchel auf die Karte, »dass dieser Mann Angst hat. Sondern ich glaube, es tritt die zweite Möglichkeit ein: der Mann wird immer weiter schreiben. Lass ihn, je mehr er schreibt, umso mehr verrät er sich. Jetzt hat er nur ein kleines bisschen von sich verraten, nämlich, dass er einen Sohn verloren hat. Aber mit jeder Karte wird er mir ein bisschen mehr von sich verraten. Ich brauche gar nicht viel dazu zu tun. Ich brauche hier nur zu sitzen, ein bisschen aufzupassen, und – schnapp! – habe ich ihn! Wir hier auf unserer Abteilung brauchen nur Geduld zu haben. Manchmal dauert es ein Jahr, manchmal noch mehr, aber schließlich kriegen wir unsere Leute alle. Oder fast alle.«
»Und was dann?«
Der Staubfarbige hatte einen Stadtplan von Berlin vorgeholt und an der Wand festgemacht. Nun steckte er ein rotes Fähnchen ein, genau dort, wo das Bürohaus in der Neuen Königstraße stand. »Sehen Sie, das ist alles, was ich im Augenblick tun kann. Aber in den nächsten Wochen werden immer mehr Fähnchen dazukommen, und dort, wo sie am dicksten sitzen, da steckt mein Klabautermann. Weil er nämlich mit der Zeit abstumpft und weil es ihm den weiten Weg nicht mehr lohnt wegen einer Karte. Sehen Sie, an diese Karte