Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada
gesagt: Pfarrer! Und was sonst für Anhaltspunkte?«
»Dürftig, Herr Obergruppenführer, sehr dürftig. Ziemlich sicher ist der Mann geizig oder hat irgendwann mal Krach mit dem Winterhilfswerk gehabt. Denn auf den Karten mag stehen, was da will, noch nicht einmal hat er die Mahnung vergessen: Gebt nichts für das WHW!«
»Na, wenn wir nach einem in Berlin suchen sollen, der nicht gerne fürs WHW spendet, Escherich …«
»Sage ich auch, Herr Obergruppenführer. Zu wenig. Zu dürftig.«
»Und sonst?«
Der Kommissar zuckte die Achseln. »Wenig. Nichts«, sagte er. »Wir können vielleicht noch mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass der Kartenableger keinen festen Beruf hat, denn die Karten sind eigentlich zu allen Tageszeiten aufgefunden worden, zwischen morgens acht und abends neun Uhr. Und bei der Belebtheit der Treppenhäuser, die mein Klabautermann benutzt, ist wohl anzunehmen, dass jede Karte ziemlich rasch nach ihrem Ablegen gefunden ist. Sonst? Ein Handarbeiter, der wenig geschrieben hat in seinem Leben, aber nicht mit schlechter Schulbildung, macht kaum je einen Schreibfehler, drückt sich nicht ungewandt aus …«
Escherich schwieg, beide schwiegen sie ziemlich lange, wobei sie gedankenlos auf die Karte mit den roten Fähnchen starrten.
Dann sagte der Obergruppenführer Prall: »Eine harte Nuss, Escherich. Hart für uns beide.«
Der Kommissar meinte tröstend: »Es gibt keine Nuss, die so hart ist – ein Nussknacker schafft sie doch!«
»Mancher klemmt sich auch die Finger dabei, Escherich!«
»Nur Geduld, Herr Obergruppenführer, bloß ein bisschen Geduld!«
»Wenn die anderen oben sie bloß haben, an mir liegt’s nicht, Escherich. Na, martern Sie Ihr Köpfchen mal ein bisschen, Escherich, vielleicht fällt Ihnen doch noch was Besseres ein als diese blöde Warterei. Heil Hitler, Escherich!«
»Heil Hitler, Herr Obergruppenführer!«
Allein geblieben, stand der Kommissar Escherich noch eine Weile vor der Karte, gedankenvoll den hellen Schnurrbart streichelnd. Es war ja nicht ganz so, wie er seinen Vorgesetzten hatte glauben machen wollen. In diesem Falle war er nicht nur der abgebrühte Kriminalist, den nichts mehr aufregen kann. Sondern er hatte Interesse gefunden an diesem stummen, ihm leider noch gänzlich unbekannten Kartenschreiber, der sich da so schonungslos und doch so vorsichtig, so klug berechnend in einen fast aussichtslosen Kampf gestürzt hatte. Dieser Fall Klabautermann war zuerst nur einer von vielen gewesen. Dann hatte er ihn warm gemacht. Er musste diesen Mann finden, der da mit ihm unter den zehntausend Dächern von Berlin saß, er musste ihn von Angesicht zu Angesicht sehen, ihn, der dem Kommissar allwöchentlich mit der Regelmäßigkeit einer Maschine zwei, drei Postkarten am Montagabend, spätestens am Dienstagvormittag auf den Schreibtisch sandte.
Escherich war längst weit entfernt von jener Geduld, die er dem Obergruppenführer eben noch so sehr empfohlen hatte. Escherich jagte – dieser alte Kriminalist war ein echter Jäger. Das steckte ihm im Blut. Er hetzte Menschen, wie andere Jäger Schweine hetzen. Dass die Schweine und die Menschen am Schluss der Jagd sterben mussten, das rührte ihn nicht. Es war dem Schwein bestimmt, auf diese Art zu sterben, wie es auch den Menschen, die solche Karten schrieben, bestimmt war. Er hatte sich längst den Kopf zermartert, wie er schneller an den Klabautermann herankommen könnte – so was brauchte ihm der Obergruppenführer Prall nicht erst zu empfehlen. Aber er fand keinen Weg, denn es gab hier nur Geduld. Man konnte nicht wegen einer solch unbedeutenden Sache den ganzen Polizeiapparat in Bewegung setzen, jede Wohnung in Berlin durchsuchen lassen – ganz abgesehen davon, dass er nicht solche Beunruhigung in die Stadt tragen durfte. Er musste immer weiter Geduld haben …
Und wenn man genug Geduld gehabt hatte, da geschah es dann plötzlich: fast immer geschah etwas. Der Verbrecher beging einen Fehler, oder der Zufall spielte ihm einen Streich. Auf eines von diesen beiden musste man warten, auf den Zufall oder auf den Fehler. Eines geschah immer oder fast immer. Escherich hoffte, dass es in diesem Falle kein »fast immer« geben würde. Er war interessiert, oh, er war stark interessiert. Im Grunde war es ihm ganz egal, ob er hier einem Verbrecher das Handwerk legte oder nicht. Escherich, es ist schon gesagt worden, Escherich jagte. Nicht um des Bratens willen, sondern weil das Jagen eine Lust ist. Er wusste, im gleichen Augenblick, wo das Wild zur Strecke gebracht, der Verbrecher gefangen und ihm seine Verbrechen hinreichend bewiesen waren – in dem gleichen Moment würde Escherichs Interesse an diesem Falle aufhören. Das Wild war erlegt, der Mann saß in Untersuchungshaft – die Jagd war zu Ende. Auf ein Neues!
Escherich hat den farblosen Blick von der Karte gewendet. Er sitzt jetzt an seinem Schreibtisch und isst langsam und gedankenvoll seine Frühstücksstullen. Als das Telefon klingelt, greift er nur zögernd danach. Noch ganz gleichgültig hört er die Meldung: »Hier Polizeirevier Frankfurter Allee. Kommissar Escherich?«
»Am Apparat.«
»Sie bearbeiten den Fall: Karte Unbekannt?«
»Ja. Was gibt’s? Schnell ein bisschen!«
»Wir haben mit ziemlicher Sicherheit den Kartenverteiler gefasst.«
»Bei der Verteilung?«
»Nahezu. Er leugnet natürlich.«
»Wo haben Sie ihn?«
»Noch bei uns auf dem Revier.«
»Behalten Sie ihn dort, ich bin mit meinem Wagen in zehn Minuten bei Ihnen. Und: nicht weiter vernehmen! Den Mann in Ruhe lassen! Ich will mit ihm selber sprechen. Verstanden?«
»Zu Befehl, Herr Kommissar!«
»Ich komme dann!«
Einen Augenblick stand Kommissar Escherich fast reglos über dem Telefon. Der Zufall – der gnädige, gute Zufall! Er hatte es ja gewusst, nur Geduld musste man haben!
Er ging rasch zur ersten Vernehmung des Kartenverteilers.
23. Ein halbes Jahr danach: Enno Kluge
Ein halbes Jahr danach saß der Feinmechaniker Enno Kluge ungeduldig wartend im Vorzimmer eines Arztes. Er saß dort mit noch anderen dreißig oder vierzig Wartenden. Eine stets gereizte Sprechstundenhilfe rief eben die Nummer 18 aus, Enno aber hatte die Nummer 29. Er würde noch über eine Stunde sitzen müssen, und in der Kneipe »Ferner liefen« wartete man schon auf ihn.
Enno Kluge konnte es nicht länger beim Sitzen aushalten. Er wusste gut, er durfte nicht eher gehen, bis der Arzt da vorn