Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada
Schweigen sagte er leise: »Ich traue mich nicht. Ich habe in den letzten Tagen schon mehrfach das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Tu mir den Gefallen und zerreiß die Karte. Wirf sie unter das andere Zeug in deinem Papierkorb!«
»Zu gefährlich, mein Lieber! Der Bürobote oder eine schnüffelnde Reinmachefrau, und ich säße drin!«
»Verbrenne sie!«
»Du vergisst, dass wir hier Zentralheizung haben!«
»Nimm ein Streichholz, verbrenne sie über deinem Aschenbecher. Niemand würde es wissen.«
»Du würdest es wissen.«
Mit blassen Gesichtern starrten sie sich an. Sie waren alte Freunde, schon seit der Schulzeit, aber nun war die Angst zwischen sie gekommen, und die Angst hatte das Misstrauen mit sich gebracht. Sie sahen einander stumm an.
Er ist ein Schauspieler, dachte der Anwalt. Vielleicht hat er mir hier was vorgespielt, will mich hineinreißen. Kommt im Auftrag, meine Zuverlässigkeit auf die Probe zu stellen. Neulich, bei dieser unglückseligen Verteidigung vor dem Volksgerichtshof, bin ich mit knapper Not noch durchgekommen. Aber seitdem wird mir misstraut …
Inwiefern ist Erwin eigentlich mein Anwalt?, dachte unterdes finster der Schauspieler. In der Sache mit dem Minister will er mir nicht helfen, und jetzt will er sogar gegen die Wahrheit aussagen, er hätte die Karte nie gesehen. Er nimmt nicht meine Interessen wahr. Er handelt gegen mich. Wer weiß, ob nicht diese Karte – überall hört man von Fallen, die den Leuten gestellt werden. Aber Unsinn, er ist immer mein Freund gewesen, ein zuverlässiger Mensch …
Und beide besannen sich, beide sahen sich an. Beide fingen an zu lächeln.
»Wir sind wahnsinnig gewesen, wir haben einander misstraut!«
»Wir, die wir uns über zwanzig Jahre kennen!«
»Die ganze Penne miteinander!«
»Ja, wir haben es herrlich weit gebracht!«
»Wie stehen wir da? Der Sohn verrät die Mutter, die Schwester den Bruder, der Freund die Freundin …«
»Aber wir uns nicht!«
»Wir wollen überlegen, was am besten mit dieser Karte geschieht. Es wäre wirklich unvernünftig, wenn du mit ihr in der Tasche auf die Straße gingest, da du dich beobachtet fühlst.«
»Es kann reine Nervosität gewesen sein. Gib mir die Karte, ich schaffe sie schon irgendwie fort!«
»Du mit deinem unheilvollen Hang zu Unbesonnenheiten! Nein, die Karte bleibt hier!«
»Du hast Frau und zwei Kinder, Erwin. Dein Büropersonal ist vielleicht auch nicht durchweg zuverlässig. Wer ist denn heute noch zuverlässig? Gib mir die Karte. Ich rufe dich in einer Viertelstunde an und melde dir, dass sie fort ist.«
»Um Gottes willen! Das bist wieder einmal du, Max. Wegen so etwas ein Telefongespräch führen! Warum rufst du nicht gleich Himmler2 an? Das geht dann doch schneller!«
Und wieder sehen sie sich an, ein wenig getröstet, dass sie noch nicht ganz allein sind, dass sie doch noch einen zuverlässigen Freund besitzen.
Plötzlich schlägt der Anwalt zornig auf die Karte. »Was dieser Idiot sich wohl gedacht hat, als er dieses Dings schrieb und hier ins Treppenhaus legte! Andere Leute aufs Schafott bringen!«
»Und wegen was? Was schreibt er eigentlich? Nichts, was jeder von uns nicht schon weiß! Es muss ein Wahnsinniger sein!«
»Dieses ganze Volk ist ein Volk von Wahnsinnigen geworden, einer steckt den anderen an!«
»Wenn man diesen Kerl erwischte, der andere in solche Schwierigkeiten bringt! Ich würde mich direkt freuen …«
»Ach, lass doch! Du würdest dich bestimmt nicht freuen, wenn noch einer mehr sterben würde. Aber wie kommen wir aus diesen Schwierigkeiten heraus?«
Der Anwalt sah nachdenklich wieder auf die Karte. Dann griff er zum Telefon. »Wir haben hier irgend so einen Politischen Leiter im Hause«, sagte er erklärend zum Freunde. »Ich werde ihm die Karte offiziell übergeben, den Sachverhalt schildern, wie er tatsächlich war, im Übrigen aber der Sache keine große Wichtigkeit beimessen. Du bist deiner Aussage sicher?«
»Völlig.«
»Und deiner Nerven?«
»Ganz gewiss, mein Lieber. Auf der Bühne habe ich noch nie Lampenfieber gehabt. Vorher immer! Was für eine Art Mann ist dieser Politische Leiter?«
»Keine Ahnung. Ich erinnere mich nicht, ihn je gesehen zu haben. Wahrscheinlich irgend so ein kleiner Bonze. Jedenfalls rufe ich ihn jetzt an.«
Aber das Männlein, das kam, sah nicht sehr nach Bonze aus, eher nach einem Fuchs, der sich aber sehr geschmeichelt fühlte, als er den berühmten Schauspieler kennenlernte, den er so oft schon im Film gesehen. Und aus dem Stegreif nannte er sechs Filme; in deren keinem der Schauspieler je mitgespielt hatte. Max Harteisen bewunderte das Gedächtnis des Männleins, dann gingen sie zum geschäftlichen Teil dieses Besuches über.
Das Füchslein las die Karte, und seinem Gesicht war nicht abzulesen, was der Mann dabei empfand. Es war nur schlau. Dann hörte er den Bericht von dem Auffinden der Karte, der Ablieferung hier auf dem Büro.
»Sehr gut. Sehr korrekt!«, lobte der Leiter. »Und wann war das etwa?«
Einen Augenblick stutzte der Anwalt, warf einen raschen Blick auf den Freund. Besser nicht lügen, dachte er. Sie haben ihn mit der Karte in der Hand sehr erregt hereinkommen sehen.
»Vor einer guten halben Stunde«, meinte der Anwalt.
Das Männlein zog die Augenbrauen hoch. »So lange?«, fragte er mit leisem Erstaunen.
»Wir hatten noch anderes zu besprechen«, erklärte der Anwalt. »Wir legten der Sache keine große Wichtigkeit bei. Oder ist sie wichtig?«
»Wichtig ist alles. Wichtig wäre es gewesen, diesen Burschen, der die Karte niederlegte, zu fangen. Aber jetzt nach einer halben Stunde ist es dafür natürlich viel zu spät.«
Jedes seiner Worte klang von einem leichten Vorwurf gegen dieses »Zuspät« wider.
»Ich bedaure diese Verspätung«, sagte der Schauspieler Harteisen tönend. »Sie entstand durch meine Schuld. Ich nahm meine Angelegenheiten wichtiger als dieses – Geschmier!«
»Ich hätte es besser wissen müssen«, sagte der Anwalt.
Das Füchslein lächelte beschwichtigend. »Nun, meine Herren, was zu spät