Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada
nicht. Fiel mir so ein. Vielleicht, weil er die Leute graulich machen will.«
»Und wie weit sind wir damit, Escherich?«
»Tja!«, sagte der Kommissar gedehnt. Er sah wieder nachdenklich auf die Karte. »Nach der Verbreitung zu schließen, muss er irgendwo nördlich vom Alexanderplatz sitzen, da sind die meisten Vorkommen. Aber auch Osten und Zentrum sind ganz gut bepflastert. Der Süden gar nicht, im Westen, etwas südlich vom Nollendorfplatz, sind zwei Vorkommen – da muss er irgendwie gelegentlich zu tun haben.«
»Gut deutsch: aus der Karte lässt sich noch gar nichts sagen! Damit kommen wir nicht einen Schritt weiter!«
»Abwarten! Ein halbes Jahr später, wenn mein Klabautermann bis dahin keinen anderen Schwupper macht, wird die Karte schon viel mehr Aufschluss geben.«
»Halbes Jahr! Sie sind ja prächtig, Escherich! Ein halbes Jahr wollen Sie dieses Schwein noch wühlen und grunzen lassen und nichts tun, als in aller Gemütsruhe Ihre Fähnchen einpieken!«
»Bei unserer Arbeit muss man Geduld haben, Herr Obergruppenführer. Das ist, wie wenn Sie auf dem Anstand sitzen und auf den Bock warten. Sie müssen eben warten. Ehe er kommt, können Sie nicht schießen. Aber wenn er kommt, da schieß ich, verlassen Sie sich drauf!«
»Ich hör immerzu Geduld, Escherich! Glauben Sie denn, die Herren über uns haben so viel Geduld? Ich fürchte, wir kriegen bald einen reingehängt, an dem wir lange kauen werden. Bedenken Sie, in einem halben Jahr vierundvierzig Karten, das sind in jeder Woche fast zwei Karten, die bei uns eintrudeln, das sehen doch die Herren. Da fragen sie mich: Na, und? Noch nicht gefasst? Warum noch nicht gefasst? Was tut ihr eigentlich? Fähnchen pieken und Daumen drehen, antworte ich. Und dann kriege ich meinen reingewürgt und den Befehl, den Mann in zwei Wochen zu fassen.«
Kommissar Escherich grinste unter seinem sandfarbenen Bart. »Und dann würgen Sie mir einen rein, Herr Obergruppenführer, und geben mir den dienstlichen Befehl, den Mann in einer Woche zu fassen!«
»Grinsen Sie nicht so albern, Escherich! Über so einen Fall, wenn der zum Beispiel dem Himmler zu Ohren kommt, kann man sich die schönste Karriere verpfuschen, und vielleicht denken wir beide im KZ Sachsenhausen eines Tages noch trübselig darüber nach, wie schön doch die Zeiten waren, als wir noch rote Fähnchen einpieken durften.«
»Keine Bange, Herr Obergruppenführer! Ich bin ein alter Kriminalist und weiß, keiner kann was Besseres machen als wir tun: warten. Die sollen uns doch einen besseren Weg vorschlagen, die Klugscheißer, wie man an meinen Klabautermann rankommt. Aber natürlich wissen die auch keinen.«
»Escherich, bedenken Sie, wenn vierundvierzig bei uns eingetrudelt sind, so heißt das, dass mindestens ebenso viel, vielleicht aber über hundert Karten heute in Berlin umlaufen, Unzufriedenheit säen, Sabotage stiften. Das kann man doch nicht ruhig mit ansehen!«
»Hundert Karten im Umlauf!«, lachte Escherich. »Haben Sie eine Ahnung vom deutschen Volk, Herr Obergruppenführer! Bitte tausendmal um Entschuldigung, Herr Obergruppenführer, so wollte ich es wirklich nicht sagen, es ist mir nur so rausgerutscht! Natürlich haben Herr Obergruppenführer viel Ahnung vom deutschen Volke, mehr als ich wahrscheinlich, aber die Leute haben jetzt doch solche Angst! Die liefern ab – mehr als zehn Karten sind bestimmt nicht im Umlauf!«
Nach seiner zornigen Gebärde wegen des beleidigenden Ausrufes von Escherich (diese Leute, die von der Kripo kamen, waren ein bisschen reichlich dumm und taten viel zu kollegial!), nachdem also der Obergruppenführer Prall den beleidigenden Ausruf Escherichs mit einem Zornblick und einem wütenden Vorschnellen des Armes gerügt hatte, sagte er jetzt: »Aber zehn sind auch noch zu viel! Eine ist noch zu viel! Gar keine darf mehr umlaufen! Sie müssen den Mann fassen, Escherich – und schnell!«
Der Kommissar stand stumm da. Er hob den Blick nicht von den glänzenden Stiefelspitzen des Obergruppenführers, er strich gedankenvoll den Schnurrbart und schwieg hartnäckig.
»Ja, da stehen Sie und schweigen!«, rief Prall ärgerlich. »Und ich weiß auch, was Sie denken. Sie denken nämlich grade, dass ich auch solch ein Klugscheißer bin, der wohl Rüffel austeilen kann, aber nichts Besseres vorzuschlagen weiß.«
Rot werden konnte der Kommissar Escherich schon lange nicht mehr, aber er war in diesem Augenblick, da er genau über seinen heimlichen Gedanken erwischt worden war, dem Erröten so nahe wie nur möglich. Und verlegen war er auch, was ihm seit endlosen Zeiten nicht mehr passiert war.
Obergruppenführer Prall merkte das alles wohl. Heiter sagte er: »Nun, ich will Sie gewiss nicht in Verlegenheit bringen, Escherich, ich gewiss nicht! Und ich will Ihnen auch keine guten Ratschläge geben. Sie wissen, ich bin kein Kriminalist, ich bin in diesen Laden nur kommandiert worden. Aber unterrichten Sie mich mal ein bisschen. Ich werde in den nächsten Tagen bestimmt über diesen Fall berichten müssen, da wüsste ich gerne genau Bescheid. Der Mann ist nie beim Ablegen der Karten beobachtet worden?«
»Nie.«
»Und kein Verdacht geäußert in den Häusern, wo die Karten aufgefunden wurden?«
»Verdacht? Verdacht über Verdacht! Verdacht gibt’s heute überall. Aber es steckt nirgends mehr dahinter als ein bisschen Wut auf den Nachbarn, Spitzeltum, Denunziantenfieber. Nein, daher kommt keine Spur!«
»Und die Auffinder selbst? Alle unverdächtig?«
»Unverdächtig?« Escherich verzog den Mund. »Ach Gott, Herr Obergruppenführer, unverdächtig ist heutzutage keiner.« Und nach einem raschen Blick auf das Gesicht seines Vorgesetzten: »Oder alle. Aber wir haben hier sämtliche Finder gesiebt und noch mal gesiebt. Mit dem Schreiber der Karten hat keiner was zu tun.«
Der Obergruppenführer seufzte. »Sie hätten Pfarrer werden sollen. Sie können so wunderbar trösten, Escherich!«, sagte er. »Bleiben also noch die Karten. Und wie steht es da mit den Anhaltspunkten?«
»Dürftig. Sehr dürftig!«, sagte Escherich. »Nee, lieber nicht Pfarrer, aber die Wahrheit für Sie, Herr Obergruppenführer! Nach dem ersten Schwupper, den er gemacht hat mit dem einzigen Sohn, habe ich gedacht, er würde sich mir selbst ans Messer liefern. Aber das ist ein schlauer Fuchs.«
»Sagen Sie mal, Escherich«, rief Prall plötzlich, »haben Sie je daran gedacht, dass es auch eine Frau sein könnte? Mir fiel das eben so ein, als Sie vom einzigen Sohn sprachen.«
Der Kommissar sah einen Augenblick seinen Vorgesetzten überrascht an. Er dachte nach. Dann sagte er, bekümmert den Kopf schüttelnd: »Damit ist’s auch nichts, Herr Obergruppenführer. Das ist vielmehr grade einer