Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada
als früher, nicht größer als damals, als ich die erste Karte in der Neuen Königstraße ablegte. Gefahr ist immer, Anna, für jeden, der das tut, was wir tun. Oder möchtest du, dass wir ganz damit aufhören?«
»Nein!«, rief sie laut. »Nein, ich hielte es keine zwei Wochen ohne diese Karten aus! Wozu leben wir dann noch? Das ist ja unser Leben, diese Karten!«
Er lächelte düster, mit einem düsteren Stolz sah er sie an.
»Siehst du, Anna«, sagte er dann. »So mag ich dich. Wir haben keine Angst. Wir wissen, was uns droht, und wir sind bereit, zu jeder Stunde sind wir bereit – aber hoffentlich geschieht es zu einer möglichst späten Stunde.«
»Nein«, sagte sie. »Nein. Ich denke immer, es geschieht nie. Wir überleben den Krieg, wir überleben die Nazis, und dann …«
»Dann?«, fragte auch er, denn plötzlich sahen sie – nach dem endlich errungenen Sieg – ein völlig leeres Leben vor sich.
»Nun«, sagte sie, »ich denke, wir werden auch dann noch etwas finden, für das es sich lohnt zu kämpfen. Vielleicht ganz offen, ohne so viel Gefahren.«
»Gefahr«, sagte er, »Gefahr ist immer, Anna, sonst ist es ja kein Kampf. Manchmal weiß ich, dass sie mich so nicht kriegen werden, und dann liege ich Stunden und Stunden und grüble, wo sonst Gefahr ist, was ich vielleicht übersehen habe. Ich grüble, ich finde nichts. Und doch ist irgendwo Gefahr, ich fühle das. Was können wir vergessen haben, Anna?«
»Nichts«, sagte sie. »Nichts. Wenn du mit dem Kartenverteilen vorsichtig bist …«
Er schüttelte unmutig den Kopf. »Nein, Anna«, sagte er, »so meine ich es nicht. Die Gefahr steht nicht auf der Treppe und nicht beim Schreiben. Die Gefahr steht ganz woanders, wo ich nicht hinsehen kann. Plötzlich werden wir aufwachen und wissen, da hat sie immer gestanden, aber wir haben sie nicht gesehen. Und dann wird es zu spät sein.«
Sie verstand ihn noch immer nicht. »Ich weiß nicht, warum du dir plötzlich Sorgen machst, Otto«, sagte sie. »Wir haben doch alles hundertmal überlegt und erprobt. Wenn wir nur vorsichtig sind …«
»Vorsichtig!«, rief er, unmutig über ihr fehlendes Verständnis, aus. »Wie kann man sich vor etwas vorsehen, das man nicht sieht! Ach, Anna, du verstehst mich nicht! Man kann nicht alles ausrechnen im Leben!«
»Nein, ich versteh dich nicht«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich glaube, du machst dir unnötige Sorge, Vater. Ich glaube, du solltest mehr schlafen in der Nacht, Otto. Du schläfst zu wenig.«
Er schwieg.
Nach einer Weile fragte sie: »Weißt du, wie die Trudel Baumann jetzt heißt und wo sie wohnt?«
Er schüttelte den Kopf. Er sagte: »Ich weiß es nicht, und ich will es auch nicht wissen.«
»Ich möchte es aber wissen«, sagte sie hartnäckig. »Ich will es mit meinen eigenen Ohren hören, dass es mit dem Ablegen der Karte glattgegangen ist. Du hättest ihr das nicht überlassen sollen, Otto! Was weiß so ’n Kind, was sie da tut. Vielleicht hat sie die Karte ganz offen hingelegt, und die haben sie dabei gekitscht. Und wenn die erst einmal so eine junge Frau in den Fängen haben, dann wissen sie auch bald den Namen Quangel.«
Er schüttelte den Kopf: »Ich weiß, von der Trudel droht uns keine Gefahr.«
»Ich möchte es aber sicher wissen!«, rief Frau Quangel. »Ich werde in ihre Fabrik gehen und mich erkundigen.«
»Du wirst nicht gehen, Mutter! Trudel gibt es nicht mehr für uns. Nein, rede nicht, du bleibst hier. Ich will kein Wort mehr davon hören.« Dann, als er sie noch immer widerspenstig sah, sagte er: »Glaube mir schon, Anna, es ist alles richtig, wie ich es dir sage. Von der Trudel brauchen wir nicht mehr zu sprechen, das ist alles erledigt. Aber«, fuhr er leiser fort, »aber wenn ich nachts wach liege, dann denke ich oft, dass wir doch nicht heil durchkommen werden, Anna.«
Sie sah ihn mit großen Augen an.
»Und dann male ich mir alles aus, wie es werden wird. Es ist gut, sich so etwas vorher auszumalen, dann kann einen nichts mehr überraschen. Denkst du manchmal daran?«
»Ich weiß nicht genau, wovon du sprichst, Otto«, sagte Anna Quangel abweisend.
Er stand mit dem Rücken gegen das Bücherbrett Ottochens gelehnt, eine Schulter von ihm berührte das Radiobastelbuch des Jungen. Er sah sie durchdringend an.
»Sobald sie uns verhaftet haben, werden wir getrennt sein, Anna. Wir werden uns vielleicht noch zwei- oder dreimal sehen, beim Verhör, bei der Verhandlung, vielleicht später noch einmal eine halbe Stunde vor der Hinrichtung …«
»Nein! Nein! Nein!« Sie schrie es. »Ich will nicht, dass du davon sprichst! Wir werden durchkommen, Otto, wir müssen durchkommen!«
Er legte seine große, verarbeitete Hand beruhigend auf ihre kleine, warme, zitternde.
»Und wenn wir nicht durchkommen? Würdest du irgendetwas bereuen? Möchtest du etwas ungetan wissen von dem, was wir getan haben?«
»Nein, nichts! Aber wir werden unentdeckt durchkommen, Otto, ich fühle das!«
»Siehst du, Anna«, sagte er, ohne auf ihre letzte Versicherung zu achten. »Das wollte ich hören. Wir werden nie etwas bereuen. Wir werden zu dem stehen, was wir getan haben, auch wenn sie uns sehr quälen.«
Sie sah ihn an, sie versuchte, ein Zittern zu unterdrücken. Vergeblich. »Ach, Otto!«, rief sie schluchzend. »Warum musst du so reden? So ziehst du das Unglück ja nur auf uns. Nie hast du noch so geredet!«
»Ich weiß nicht, warum ich so heute mit dir reden muss«, sagte er und ging von dem Bücherbrett fort. »Ich muss es, einmal. Wahrscheinlich werde ich nie wieder mit dir darüber sprechen. Aber einmal musste ich es. Denn du musst wissen, wir werden dann sehr allein sein in unsern Zellen, ohne ein Wort zueinander, die wir viel über zwanzig Jahre nicht einen Tag ohne das andere gelebt haben. Es wird uns sehr schwerfallen. Aber wir werden voneinander wissen, dass keines je schlappmacht, dass wir uns aufeinander verlassen können, wie im ganzen Leben, so auch im Tode. Wir werden auch allein sterben müssen, Anna.«
»Otto, du sprichst, als wäre es schon so weit! Und wir sind doch ganz frei und außer Verdacht. Wir könnten jeden Tag damit aufhören, wenn wir wollten …«
»Aber wollen wir? Können wir überhaupt wollen?«
»Nein, ich sage nicht, dass wir aufhören wollen. Ich will’s nicht, das weißt du! Aber ich will auch nicht, dass du sprichst, als hätten sie uns schon gefasst und als bliebe uns nur noch das Sterben. Ich will noch nicht sterben, Otto, ich möchte mit dir leben!«
»Wer will denn sterben?«, fragte er. »Alle wollen sie doch leben, alle, alle – auch das armseligste Würmlein schreit nach Leben. Auch ich will noch leben. Aber es ist vielleicht gut, Anna, schon im ruhigen Leben