Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada

Hans Fallada – Gesammelte Werke - Hans  Fallada


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er ging an ihr vor­bei, die Trep­pe hin­un­ter, ohne sie an­zu­se­hen.

      Kaum war er et­was tiefer, eil­te sie zu dem Fens­ter und nahm die Kar­te in ihre Hand. Sie las nur die ers­ten Wor­te: »Habt ihr noch im­mer nicht be­grif­fen, dass der Füh­rer euch schänd­lich be­lo­gen hat, als er sag­te, Russ­land habe zu ei­nem Über­fall auf Deutsch­land ge­rüs­tet?«

      Dann lief sie Quan­gel nach.

      Sie er­reich­te ihn, als er das Ge­bäu­de ver­ließ, sie dräng­te sich an sei­ne Sei­te und sag­te: »Hast du mich eben nicht er­kannt, Va­ter? Ich bin’s doch, die Tru­del, Ot­to­chens Tru­del!«

      Er dreh­te ihr den Kopf zu, der ihr noch nie so vo­gel­haft hart und böse vor­ge­kom­men war wie in die­sem Au­gen­blick. Ei­nen Mo­ment glaub­te sie, er wer­de sie nicht wie­der­er­ken­nen wol­len, aber dann nick­te er kurz und sag­te: »Siehst wohl aus, Mä­del!«

      »Ja«, sag­te sie, und ihre Au­gen strahl­ten. »Ich füh­le mich auch so kräf­tig und glück­lich wie noch nie. Ich er­war­te ein Kind­chen. Ich habe mich ver­hei­ra­tet. Bist nicht böse, Va­ter?«

      »Wa­rum soll ich dir böse sein? We­gen des Ver­hei­ra­tetseins? Sei nicht al­bern, Tru­del, du bist jung, und Ot­to­chen ist bald zwei Jah­re tot. Nein, nicht ein­mal die Anna wür­de dir das Hei­ra­ten übel­ge­nom­men ha­ben, und die denkt doch noch je­den Tag an ihr Ot­to­chen.«

      »Wie geht’s denn der Mut­ter?«

      »Wie im­mer, Tru­del, ganz wie im­mer. Bei uns al­ten Leu­ten än­dert sich nichts mehr.«

      »Doch!«, sag­te sie und blieb ste­hen. »Doch!« Ihr Ge­sicht war jetzt sehr ernst ge­wor­den. »Doch, es hat sich viel bei euch ge­än­dert. Erin­nerst du dich, wie wir ein­mal im Gang der Uni­form­fa­brik stan­den, un­ter den Pla­ka­ten von den Hin­rich­tun­gen? Da hast du mich ge­warnt …«

      »Ich weiß nicht, wo­von du sprichst, Tru­del. Ein al­ter Mann ver­gisst vie­les.«

      »Heu­te war­ne ich dich, Va­ter«, fuhr sie lei­se, aber umso ein­dring­li­cher fort. »Ich habe dich ge­se­hen, wie du die Kar­te im Trep­pen­haus hin­ge­legt hast, die­se schreck­li­che Kar­te, die jetzt in mei­ner Hand­ta­sche steckt.«

      Er sah sie un­ver­wandt an mit sei­nem kal­ten Auge, das jetzt böse zu leuch­ten schi­en.

      Sie flüs­ter­te: »Va­ter, es geht um dei­nen Kopf. Wie ich kön­nen dich an­de­re be­ob­ach­tet ha­ben. Weiß die Mut­ter da­von, dass du so was tust? Tust du es öf­ters?«

      Er schwieg so lan­ge, dass sie schon mein­te, er wol­le ihr gar nicht ant­wor­ten. Aber dann sag­te er: »Du weißt doch, Tru­del, ich tu nichts ohne die Mut­ter.«

      »Oh!«, stöhn­te sie, und Trä­nen tra­ten in ihre Au­gen. »Das habe ich ge­fürch­tet. Du reißt auch Mut­ter her­ein.«

      »Mut­ter hat ih­ren Sohn ver­lo­ren. Das hat sie noch nicht ver­schmerzt – ver­giss das nicht, Tru­del!«

      Ihre Wan­gen färb­ten sich rot, als habe er ihr einen Vor­wurf ge­macht. »Ich glaub nicht«, mur­mel­te sie, »dass Ot­to­chen ein­ver­stan­den wäre, wenn er sei­ne Mut­ter bei so was sähe.«

      »Je­der geht sei­nen Weg, Tru­del«, ant­wor­te­te Otto Quan­gel kalt. »Du dei­nen, wir un­sern. Ja, wir ge­hen un­sern Weg.« Er warf den Kopf ruck­ar­tig zu­rück und wie­der vor, es war, als hack­te der Vo­gel. »Und jetzt müs­sen wir uns tren­nen. Mach es gut, Tru­del, mit dei­nem Kind­chen. Ich wer­de die Mut­ter grü­ßen von dir – viel­leicht.«

      Er war schon ge­gan­gen.

      Dann kam er noch ein­mal zu­rück. »Die Kar­te da«, sag­te er, »die be­hältst du nicht in der Ta­sche, ver­stehst du? Die legst du ir­gend­wo­hin, wie ich es ge­macht habe. Und dei­nem Mann sagst du kein Wort da­von, ver­sprichst du mir das, Tru­del?«

      Sie nick­te lei­se, sie sah ihn nur angst­voll an.

      »Und dann ver­gisst du uns. Du ver­gisst al­les von den Quan­gels; wenn du mich wie­der ein­mal siehst, kennst du mich nicht, ver­stan­den?«

      Wie­der konn­te sie nur ni­cken.

      »Also, mach’s gut«, sag­te er noch ein­mal und war nun wirk­lich ge­gan­gen, und sie hät­te ihm doch noch so viel zu sa­gen ge­habt.

      Als Tru­del die Kar­te Otto Quan­gels ab­leg­te, emp­fand sie alle Ängs­te ei­nes Ver­bre­chers, der fürch­tet, er­tappt zu wer­den. Sie hat­te sich nicht ent­schlie­ßen kön­nen, die Kar­te wei­ter­zu­le­sen. Tra­gi­sches Schick­sal auch die­ser Kar­te Otto Quan­gels, von ei­nem be­freun­de­ten Men­schen auf­ge­fun­den, auch sie ver­fehl­te ihre Wir­kung. Auch sie war um­sonst ge­schrie­ben, auch bei ihr hat­te die Emp­fän­ge­rin nur den einen Wunsch, sie mög­lichst schnell wie­der los­zu­wer­den.

      Beim An­pro­bie­ren wur­de der Tru­del heiß und kalt, plötz­lich war ihr schwarz vor den Au­gen. Sie muss­te sich im Zim­mer des An­walts – er war auf ei­nem Ter­min – hin­le­gen und spä­ter einen Kaf­fee trin­ken, rich­ti­gen, gu­ten Boh­nen­kaf­fee (in Hol­land von ei­nem an­de­ren Freun­de bei der SS ge­stoh­len).

      Aber wäh­rend das ge­sam­te Bü­ro­per­so­nal sich rüh­rend um sie be­müh­te – ihr Zu­stand war un­schwer zu er­ken­nen, weil sie die gan­ze Last »vor­ne« trug –, wäh­rend­dem dach­te Tru­del Her­ge­sell: Er hat recht, ich darf Karl nie et­was da­von sa­gen. Wenn es nur dem Kind­chen nichts scha­det, es hat mich doch schreck­lich auf­ge­regt. Ach, Va­ter soll­te so et­was nicht ma­chen! Denkt er denn gar nicht dar­an, in wie viel Not und Angst er die Leu­te da­mit stürzt? Das Le­ben ist doch so schon schwer ge­nug!

      Als sie end­lich wie­der die Trep­pen hin­ab­stieg, war die Kar­te ver­schwun­den. Sie at­me­te er­leich­tert auf, aber die­se Er­leich­te­rung hielt nicht an. Son­dern sie konn­te es nicht las­sen, sie muss­te dar­über nach­den­ken, wer jetzt wohl die Kar­te ge­fun­den ha­ben moch­te, ob der auch sol­chen Schreck wie sie dar­über be­kom­men hat­te, was er mit der Kar­te an­fing. Im­mer­zu kreis­ten ihre Ge­dan­ken dar­um.

      So leicht ging sie nicht wie­der zum Alex­an­der­platz zu­rück, wie sie her­ge­gan­gen war. Sie hat­te ei­gent­lich noch ei­ni­ge Be­sor­gun­gen ma­chen wol­len, aber sie fühl­te sich dazu nicht im­stan­de. Sie setz­te sich ganz still in den War­te­saal und hoff­te nur, dass Karl bald kom­men möge. Wenn erst Karl da war, wür­de der Schreck, der ihr im­mer noch in den Glie­dern saß, ver­ge­hen – auch wenn sie ihm nichts sag­te. Schon sein Da-Sein wür­de das be­wir­ken …

      Sie lä­chel­te und schloss die Au­gen.

      Gu­ter Karl! dach­te sie. Mein ein­zi­ger …!

      Sie schlief ein.

      1 Par­t­ei­ge­nos­sen, Mit­glied der NSDAP <<<

      2 Der Si­cher­heits­dienst des


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