Im Sonnenwinkel Staffel 5 – Familienroman. Patricia Vandenberg
Hände tätschelten Veronicas Wangen. Dann schien sie sich wieder auf den wehen Arm zu besinnen, suchte die Narbe und begann zu pusten.
»Wird bald heile, wenn Jill pustet«, versicherte sie.
»Du bist süß«, bemerkte Veronica innig.
»Papis Satzilein«, sagte Jill. »Teffi und Tini slafen lange.«
»Und wir beide werden aufstehen, ja?«
Jill nickte. Sie war zu allem bereit. Außerdem war sie gewöhnt, sehr früh ihre erste Mahlzeit zu bekommen. Das begriff Veronica rasch, als sie mit ihr in die Küche ging und Jill gleich zum Kühlschrank trippelte.
Otti lachte und hob sie empor.
»Hast wohl Hunger?«, fragte sie.
»Durst auch«, erklärte Jill.
Otti setzte sich mit ihr an den Tisch. Jill griff gleich nach einem Hörnchen, die Otti selbst gebacken hatte. Sie tunkte es in den Kakao und aß mit großem Appetit. Dann streichelte sie sich den Magen und zeigte lachend ihre weißen Zähne.
»Alles prima«, behauptete sie.
Veronica und Otti mussten auch lachen, und dann kam Paul.
»Ihr seid ja schon mächtig vergnügt. Vögel, die am Morgen singen, holt am Mittag die Katze.«
»Wir singen ja nicht, wir lachen nur«, erwiderte Veronica.
»Alter Brummbär«, sagte Ottilie.
»Brummbär«, jauchzte Jill, und Paul hatte seinen Namen weg, wie sich herausstellen sollte. Aber für sie schien es ein Kosename zu sein, denn sie glitt von Ottis Schoß und lief zu ihm. »Mit Brummbär Garten gehen!«, verlangte sie. Dann schien ihr einzufallen, dass er Hunger haben könnte. Sie lief wieder zum Tisch, angelte sich ein Hörnchen und brachte es ihm. »Da, Brummbär.«
Paul grinste Veronica verlegen zu, und als Jill ihm ihre Ärmchen entgegenstreckte, hob er sie empor.
»Na, dann gehen wir eben in den Garten«, brummte er, »aber du musst noch was überziehen.«
Veronica stieg die Treppe empor, um nach Steffi und Tini zu sehen. Sie hörte, wie die beiden sich unterhielten.
»Nun braucht Papi sich nicht mehr über die Griebel zu ärgern«, bemerkte Steffi. »Veronica petzt bestimmt nicht.«
»Wir müssen ihm aber sagen, dass er nett zu ihr ist«, meinte Martina. »Ich bin froh, dass wir hier sind. Es ist so schön. Wir müssen ganz lange hierbleiben. Das müssen wir Papi auch sagen.«
Veronica machte sich nun bemerkbar. Sie klopfte laut an die Tür und wurde jubelnd empfangen.
»Wir haben dich nicht gehört, und wir wollten dich nicht stören«, sagte Steffi.
»Jill auch nicht, damit sie dir nicht auf den Wecker fällt«, schloss Martina sich an.
»Jill geht schon mit Paul im Garten spazieren, und ihr werdet ja wohl Hunger haben«, meinte Veronica.
Den hatten sie allerdings, und Veronica aß mit ihnen um die Wette. Sie hatte Appetit wie schon lange nicht mehr, und als Paul die kleine Jill wieder hereinbrachte, weil sie Sehnsucht nach Veronica hatte, aß sie auch noch ein zweites Hörnchen.
Veronica fand es himmlisch. Ihr Leben hatte wieder einen Inhalt bekommen. Sie brauchte nicht mehr zu grübeln und auch nicht zu rechnen. Sie brauchte nicht mehr darüber nachzudenken, wie sie das Haus halten könnten und was aus Paul und Otti werden würde.
Sie hatte nur den einen Wunsch, dass es auch so bleiben würde, wenn Arndt in dieses Haus einzog.
*
Das geschah bereits am Sonntag. Er kam sogar schon am frühen Vormittag.
Veronica spielte mit den Kindern Ball auf der Wiese unten am See, als er plötzlich dastand. Sie wusste nicht, wie lange er ihnen zugeschaut hatte.
»Papi da!«, jauchzte Jill, und dann sprangen ihm alle drei entgegen.
Er wurde umarmt und abgeküsst, aber Martina lief gleich zu Veronica und zog sie mit sich zu ihm hin.
»Roni ist mächtig lieb«, bemerkte sie.
»Und schimpft nicht«, fügte Steffi hinzu.
»Bin ihr Satzilein auch«, rief Jill und streckte die Ärmchen nach ihr aus.
Arndts Augen ruhten mit einem forschenden Ausdruck auf Veronicas frischem Gesicht, so als wolle er ihr bis ins Innerste schauen.
»Ich muss mich bei Ihnen bedanken, Fräulein Veronica«, erklärte er höflich.
»Sag doch nicht Fräulein«, meinte Steffi.
»Sag auch Roni, ist doch besser«, behauptete Martina.
»Nun mal langsam, ihr Rangen«, entgegnete Arndt leicht verlegen.
»Sind aber keine Rangen!«, protestierte Martina.
»Frag Roni«, verlangte Steffi. »Wir haben sie nicht geärgert.«
»Nein, sie machen uns viel Freude«, versicherte Veronica voller Wärme. »Herzlich willkommen, Herr Doktor.«
»Herr Doktor sagt sie«, äußerte Steffi kopfschüttelnd. »Das mag Papi gar nicht.«
Darauf erklärte Arndt, dass es ihm lieber wäre, mit seinem Namen angesprochen zu werden.
*
Arndt hatte seinen Wagen und den Kofferraum vollgeladen. Außer dem Spielzeug der Kinder hatte er ein flaches, in eine Wolldecke gehülltes Paket mitgebracht. Er trug es selbst ins Haus, während Paul und die Kinder ihm halfen, die übrigen Sachen hineinzutragen.
»Morgen kommt noch ein Lieferwagen«, sagte er erklärend. »Nur ganz persönliche Dinge. Mein Haus habe ich vorerst einem Kollegen überlassen.
Früher hätte Veronica sich nie vorstellen können, dass einmal ein anderer Mann von dem Arbeitszimmer ihres Vaters Besitz ergreifen könne.
Aber Arndt schien dort hineinzupassen, in diese schweren Renaissancemöbel, die so kostbar waren, vor dem großen Schreibtisch, der vor dem breiten Fenster stand, das den Blick auf den Park und den See freigab.
Es war der Lieblingsplatz ihres Vaters gewesen.
Ein seltsames Gefühl bewegte Veronica, als sie Arndt durch die offenstehende Tür betrachtete. Nun drehte er sich um, und sie fühlte sich ertappt.
»Das Haus zu verkaufen, könnte Frau Hellwege sich wohl nicht entschließen«, sagte Arndt gedankenvoll.
»Vielleicht wird ihr eines Tages nichts anderes übrigbleiben«, erwiderte sie leise.
»Es muss sehr schwer sein, sich von einem so herrlichen Besitz zu trennen«, fuhr er sinnend fort. »Ich kann mir vorstellen, wie schmerzlich es für Frau Hellwege sein muss, Fremde in diesem Haus zu wissen.«
»Sie ist froh, dass Paul und Otti hierbleiben durften«, erklärte Veronica, nachdem sie ein paar Sekunden nach Fassung gerungen hatte.
»Und Sie«, sagte Arndt.
»Ich bin immer nur vorübergehend hier gewesen«, stieß Veronica hervor.
»Und wollen auch nicht ständig hierbleiben?«, fragte er fast erschrocken.
»Vorerst schon. Ich bin durch einen Armbruch gehandikapt.« Hoffentlich verheddere ich mich jetzt nicht restlos, dachte sie und mahnte sich zur Sachlichkeit. Aber es war nicht so einfach, bei diesen Fragen sachlich zu bleiben.
»Dann sollten Sie Jill auch nicht so viel tragen«, meinte Arndt.
»Sie ist ja federleicht und sitzt auf dem anderen Arm«, erwiderte Veronica.
»Sie haben die Herzen meiner Kinder schnell gewonnen«, bemerkte Arndt verhalten. »Ich kann nur staunen.«
»Ich habe nicht viel dazu getan. Es ist einfach Zuneigung auf Gegenseitigkeit«, äußerte Veronica schlicht.