Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe
gehabt.«
Einen Augenblick lang wurde ihr Gesicht ganz ruhig; es hatte die strahlende Schlichtheit, die Schönheit des ersten Tageslichts und des Regenwassers. Ihre Augen leuchteten gläubig, wie Kinderaugen. Nichts Arges war in ihr. Sie hatte es nicht gelernt.
»Hast Du es Deinem Papa schon gesagt?« fragte Eliza nach einer Weile.
»Nein«, sagte sie und schwieg wieder.
Sie dachten an Gant. Sie wunderten sich. Stillschweigend. Sie konnten es nicht fassen, daß sie von ihm weggehen würde. Plötzlich sagte Helene ärgerlich:
»Ich hab ein Recht auf mein eignes Leben, genau wie jeder andre Mensch.« Sie tat ganz, als hätte ihr jemand dieses Recht abgestritten. »Guter Gott! Mama! Du und Papa, Ihr habt Euer Leben gelebt, bist Du Dir nicht klar darüber? Oder hältst Du es etwa für recht, daß ich mein ganzes Leben für ihn aufopfere? Was?«
»Wieso denn? Nei-ein! Das hab ich doch nie gesagt«, wandte Eliza versöhnlich ein. Sie war verwirrt.
»Das ko-ko-ko-kommt davon, daß Du immer zuerst an andre gedacht hast, st-st-st-st-statt an Dich«, sagte Lukas zu Helene. »Die andern wissen Dir keinen Dank d-dafür.«
»Na, das hat jetzt aufgehört, soviel ist sicher. Du kannst Dich drauf verlassen. Ich will ein Heim und ein paar Kinder haben. Ja! Ja!! Das will ich!« sagte sie auftrumpfend. Und dann, nach einer langen Pause sagte sie zärtlich vor sich hin: »Der arme, alte Papa! Was wird er wohl dazu sagen?«
Er sagte sehr wenig. Die Gants verstanden es, nach der ersten Überraschung einen Tatbestand schnell in ihre Leben einzubeziehen. Abgrundtiefe Veränderungen weiteten ihre brütend-unbewußten Seelen.
Mister Hugo Barton kam in die Gebirgsmetropolis, um den Angehörigen seiner Braut einen Besuch abzustatten. Er kam – zum großen Entzücken der ihm anverlobten Sippe – in einem staubbraunen Buick-Rennwagen, Sportmodell 1911. Er kam in einer Benzinwolke und mit dem Geknatter großer Maschinen. Er stieg aus: eine hohe, elegante Gestalt, dyseptisch, abgezehrt, ja beinahe ausgezehrt, sehr stutzerhaft angezogen und zurechtgemacht. Er sah langsam, sehr kritisch und prüfend seinen Wagen an, eine lange Zigarre in den Winkel seines saturnischen Munds geklemmt, und zog sich gemächlich die Handschuhe aus. Dann nahm er ebenso gemächlich den riesenhaften, grauen Sombrero ab, der das einzige Auffällige an seiner sonst peinlich korrekten Aufmachung war. Dann schüttelte er einen Augenblick lang delikat sein langes, dürres Bein, und dann schüttelte er das andre. Er tat dies, um die nicht vorhandnen Knicke oder Krumpeln in den Bügelfalten seiner Hose wieder glattzumachen. Dann schritt er gemächlich auf dem Vorgartenweg auf Dixieland zu, wo die versammelten Gants seiner warteten. Als er zur Terrasse kam, nahm er gemächlich die Zigarre aus dem Mund und hielt sie zwischen den Fingern seiner hagern, behaarten Hand. Diese Hand zitterte stark … aber das kam vom Schlagfluß. Er hatte dünnes, feines Haar; eine leichte Brise wehte und versehrte ein wenig die Eleganz seiner Frisur. Er erblickte seine Braut, benahm sich würdig, grinste sardonisch mit goldknolligem Gebiß. Die Verlobten begrüßten und küßten sich.
»Das ist meine Mutter, Hugo«, stellte Helene vor.
Hugo Barton verbeugte sich langsam, sehr höflich, aus seinen schmalen Hüften herab. Mit einem kühnen, durchdringenden Blick, der sie etwas außer Fassung brachte, starrte er Eliza an. Alle spürten nun, daß er etwas sehr, sehr Wichtiges sagen würde.
»Guten Tag«, sagte er und nahm ihre Hand.
Alle spürten nun, daß Hugo Barton etwas sehr, sehr Wichtiges gesagt hatte.
Mit derselben gravitätischen Langsamkeit begrüßte er jeden. Seine herrschaftlichen Allüren flößten den Gants eine gewisse Scheu ein. Der unkontrollierbare Lukas jedoch platzte heraus:
»Sie kriegen ein f-f-f-feines Mädchen, Mister Ba-ba-barton!«
Hugo Barton wandte sich langsam um und fixierte ihn kühn.
»Ganz meine Meinung«, sagte er ernst. Er hatte einen tiefen Baß. Langsam, mit einem sehr eindrucksvollen Raspeln in der Stimme sprach er, … dieser Verkäufer, der seine überzeugende Persönlichkeit an den Mann brachte.
Eine befangne Stille trat ein. Hugo Barton wandte sich freundlich grinsend an Eugen:
»'ne Zigarre?« fragte er, holte drei lange Brazil aus seiner oberen Westentasche und bot sie mit sauberen, zuckenden Fingern an.
»Danke«, sagte Eugen mit einem genüßlichen Seitenblick. »Ich rauche 'ne Zigarette.«
Er zog ein Päckchen Zigaretten, Marke »Camel«, aus der Tasche. Ernst und gewichtig rieb Hugo Barton ein Zündhölzchen an und gab ihm Feuer.
»Warum tragen Sie den Riesensombrero?« fragte Eugen.
»Psychologie!« sagte er. »So was macht die Leute reden.«
»Ich will Euch was sagen«, bemerkte Eliza und fing an zu lachen. »Das ist sehr smart gedacht, nicht wahr?«
»Sicher!« sagte Lukas. »Das ist Reklame. Reklame macht sich bezahlt.«
»Ja«, sagte Mister Barton langsam, »man muß sich auf die Psychologie des andern einstellen.«
Dieser Satz schien die Handlungsweise eines Mannes zu beschreiben, der nie hemmungslos zum Angriff übergeht und sich beim Plündern zurückzuhalten weiß.
Er gefiel ihnen sehr. Sie gingen alle ins Haus.
Hugo Bartons Mutter war vierundsiebzig, aber sie hatte die Kräfte einer Fünfzigerin und den Appetit zweier gesunder Frauen von vierzig. Sie war eine stattliche alte Dame, zwei Meter groß, mit groben Männerknochen. Sie hatte ein volles Gesicht, sinnlich träge, mit starken Kiefern und einem kräftigen, gesunden, gelblichen Pferdegebiß. Wenn sie Mais am Kolben manschte, konnte man Staat mit ihr machen; sie tat es, wie ein andrer Mensch Pudding ißt. Ein kleiner Schlagfluß hatte ihre Zunge leicht gelähmt; sie hatte eine dickzüngige, schwerfällige, äußerst bedächtige Aussprache; sie artikulierte jedes Wort mit gewichtiger Genauigkeit. Der Sprechfehler, den sie vorsichtig verbarg, verstärkte noch das pontifikalische Gewicht ihrer Meinungen. Sie war, im Andenken an ihren verstorbnen Gatten, überzeugte Anhängerin der Republikanischen Partei, und sie haßte jeden, der ihren politischen Überzeugungen zu widersprechen wagte. Wenn sie belästigt wurde, oder wenn sie sich ärgerte, dann machte der Ausdruck behäbigen Wohlwollens auf ihren Mienen einer Gewitterwolke der Mißlaune Platz; sie rollte (ganz so, wie man eine Fensterblende aufrollt) ihre breite, vorgeschobne Unterlippe zur Schnute. – Aber im allgemeinen, wenn sie angeschlingert kam wie ein Lastdampfer, die große Hand um den Griff des dicken Krückstocks gekrallt, auf den sie ihr massives Gewicht stützte, war sie schlichthin eindrucksvoll. Eine Wittib von Stand.
»Sie ist 'ne Lady, 'ne wirkliche Lady. Das sieht jeder«, sagte Helene stolz. »Sie verkehrt mit den feinsten Leuten.«
Hugo Bartons Schwester, Mistress Genevieve (= Veve) Watson, war achtunddreißig, eine sehr lange Person mit einem Kopf wie ein Zaunkönig. Sie war gelblich im Gesicht und dürr, ausgezehrt, dyspeptisch und sehr elegant, ganz wie ihr Bruder. Ihr geschiedner Gatte, der Mister Watson, fiel dadurch auf, daß seiner auch gesprächsweise nicht im geringsten gedacht wurde. Nur ein- oder zweimal entstand schwere Unruhe bei Erwähnung seines Namens, dann folgte eine Stille wie bei einem Leichenbegängnis und schließlich eine gemurmelte Anspielung auf geradezu orientalische Lasterhaftigkeit.
»Er war ein Biest, ein gemeiner Hund«, erklärte Hugo Barton. »Er hat sich sehr übel gegen Schwester Veve benommen.«
Mistress Barton wackelte mit dem Kopf zum Zeichen jener nachdrücklichen Zustimmung, die sie sämtlichen Meinungen ihres Sohns zuteil werden ließ.
»O-o-h!« sagte sie, »er war ein furcht-ba-rer Mensch.«
Mister Watson hatte es – das ließen sie durchblicken – wirklich höllisch getrieben. Er war »hinter anderen Frauen hergewesen«.
Die Schwester Veve mit dem schmalen, unbefriedigten Gesicht bezeigte allenthalben ihr metallisch-lebhaftes, überschwenglich-herzliches Wesen. Sie war stets sehr smart angezogen. Sie hatte irgendwelche ungeklärten Beziehungen zum Immobilienhandel, sprach hochtönend von obskuren Käufen und Verkäufen und war immer gerade dabei, »ein großes Geschäft abzuschließen«.
»Die