Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe
Du Dir noch den Burschen in Kniehosen vorstellen, der vor vier Jahren zu uns kam? Kannst Du es glauben?«
John Dorsey Leonard lachte verlegen, trübselig, leer.
»Man faßt es nicht«, sagte er.
Als Margaret sich wieder an Eugen wandte, war eine Leidenschaft in ihrer Stimme, wie er sie nie zuvor gehört hatte:
»Du nimmst ein Stück von unserm Herzen mit, weißt Da das, Eugen?«
Sie nahm seine zitternde Hand zärtlich in ihre schmalen Finger, Er senkte den Kopf, schloß die Augen.
»Wahrhaftig, Eugen«, sagte sie, »wir könnten Dich nicht mehr lieben, wenn Du unser eignes Kind wärst. Wir hätten Dich so gern noch ein Jahr bei uns behalten, aber nachdem das nicht sein kann, schicken wir Dich mit all unsern guten Hoffnungen fort. Ach, Junge. Du bist fein. Keine Faser ist an Dir, die nicht fein wäre. Und das Licht des Genius liegt hell auf Dir. Gott schütze Dich, die Welt gehört Dir!«
Diese stolzen Worte von Liebe und Ruhm waren Musik für ihn; strahlende Triumphvisionen zogen auf, und heiße Scham über seine verborgnen Wünsche brannte in ihm. Er war begehrlich, aber sein Herz schrak vor der Sünde zurück. Ein Tierschrei zwängte ihm die Kehle, jäh löste er seine Hand ans der ihren und fuhr sich an die Gurgel.
»Sie müssen nicht denken …« stammelte er. »Ich bin ja nicht …« Aber er konnte nicht weitersprechen. Alles in ihm drängte zur Beichte.
Später, als er von ihr weggegangen war, brannte der leise Kuß, der erste, den sie ihm gegeben hatte, wie ein feuriger Ring auf seiner Wange.
In diesem Sommer stand er Ben näher als je zuvor. Sie hausten zusammen im selben Zimmer in der Woodson Street. Lukas war nach Helenes Hochzeit nach Pittsburgh in die Westinghouse-Elektrizitätswerke zurückgekehrt.
Gant wohnte noch im alten Wohnzimmer, aber die übrigen Räume hatte er an eine muntre, grauhaarige Witwe von vierzig Jahren vermietet. Sie besorgte den Haushalt aufs beste; besondere, zärtliche Aufmerksamkeit aber schenkte sie Ben. Nachts fand Eugen die beiden unter den Reben auf der Terrasse; er hörte Bens ruhige Rede und sein kurzes, leises Lachen; er sah den Bogen, den Bens brennende Zigarette im Dunkel beschrieb.
Ben, der Stille, war noch stiller, noch mürrischer geworden. Seine Braue war tiefer, finsterer gerückt. Schweigsamer noch schlich er im Haus umher. Im Gespräch mit Eliza war er kurzangebunden und von bittrer Verächtlichkeit. Mit Gant unterhielt er sich überhaupt nicht. Sie grüßten einander, und das war alles. Und sahen sich dabei nicht in die Augen. Eine große Scham, die Scham zwischen Vater und Sohn, die geheimnisvolle Scham jenseits der Mutterschaft, die allen Männern die Lippen versiegelt, diese Scham hatte sie voreinander stumm gemacht.
Aber mit Eugen sprach Ben nun häufiger und mehr, als er je mit ihm gesprochen hatte. Nachts, vor dem Schlafengehn, lagen sie auf ihren Betten, lasen und rauchten, und all der Schmerz und die Bitterkeit von Benjamin Gants Leben brach in heftigen Anklagen durch. Ben fing mit verstockter Schwerfälligkeit zu sprechen an; langsam und stolpernd, ganz wie beim Lesen, brachte er die Worte hervor, aber seine Stimme wurde schneller und leidenschaftlich, wenn er ins Reden kam.
»Sie haben Dir wohl gesagt, was für arme Leute sie wären, was?« fragte er und warf den Zigarettenstummel weg.
»Ja«, sagte Eugen, »ich muß halt vorsichtig mit dem Geld umgehn.«
»Ah, bah!« lachte Ben fast lautlos und zog einen bittern Mund.
»Papa sagte mir, daß viele Studenten sich als Kellner oder so durchbringen. Vielleicht kann ich da auch Arbeit finden.«
Ben stützte sich auf den dünnen, behaarten Unterarm, wandte sich um und sah Eugen voll ins Gesicht. »Hör mal, Eugen!« sagte er streng. »Sei so kein verdammter Hanswurst! Du wirst jeden Cent nehmen, den Du von ihnen kriegen kannst!« verlangte er grimmig.
»Immerhin«, erklärte Eugen, »ich habe Grund, ihnen dankbar zu sein. Sie tun was für mich. Jedenfalls hängen sie mehr Geld an mich als an Euch andre.«
»Du Idiot!« Ben runzelte verächtlich und angewidert die Stirn. »Bildest Du Dir tatsächlich ein, daß sie das für Dich tun? Sie tun es für sich selber. Sie rechnen damit, daß etwas aus Dir wird, so daß sie eines Tages die Ehre dafür einheimsen können. Ohnehin hetzen sie Dich zwei Jahre zu früh ins Studium. Hör auf mich! Du nimmst jeden Cent, den Du von ihnen bekommen kannst. Wir übrigen Kinder haben ja nie was gekriegt, aber Dir gönn' ich von Herzen alles, was Dir zusteht. Verstanden? Mein Gott!« rief er wütend aus, »ihr Geld nützt keinem Menschen was; da haben sie's auf der Bank liegen, bis es verrottet. Nein, Eugen, wenn Du dort auf der Universität merkst, daß Du schlechter gestellt bist als die andern Studenten, dann schreibst Du dem Alten um mehr Geld. Verdammt nochmal! Hier im Städtchen hast Du den Kopf nie hochtragen können; also fang dort nicht damit an, daß Du auf die Gelegenheit verzichtest.«
Er zündete eine Zigarette an und rauchte in schweigsamer Verbitterung vor sich hin.
»Zur Hölle mit dem ganzen Betrieb«, knurrte er schließlich. »Wozu in Gottes Namen leben wir denn überhaupt?«
XXIX
Eugen war allein, verzweifelt allein.
Aber die Universität war ein bezaubernder, ein unvergeßlicher Ort. Sie lag in dem Dorfe Pulpit Hill, ungefähr in der Mitte des großen Staats. Die Studenten reisten mit der Bahn bis zu der trübseligen Tabakstadt Exeter und fuhren von dort die 18 Kilometer mit dem Bus oder im Auto nach Pulpit Hill. Die Gegend, wellig mit Feld und Wald, war von einer rohen, großartigen Häßlichkeit. Aber die Universität lag herrlich in einer bukolischen Wildnis auf dem langgezognen Tafelberg, der sich steil aus dem flachhügligen Land erhob. Oben angekommen war man plötzlich am äußersten Ende der langen Hauptstraße, die anderthalb Kilometer lang zwischen Fakultätshäusern durchs Dorf zur Universität hinführte. Der zentrale Kampus war ein großer, welliger Parkrasen mit herrlichen alten Bäumen. Ein Karree von schönen, alten Backsteinbauten, kurz nach dem amerikanischen Freiheitskrieg errichtet, stand am äußersten Ende. Um diese Mitte gruppierten sich weitere Bauten in jenem üblen neo-hellenischen Stil, in dem man heutzutage, vermutlich aus pädagogischen Gründen, so gern Schulen ausführt. Und dahinter kam die dichte Waldwildnis: ihr Geruch wehte über den ganzen Ort; man spürte die Entlegenheit, den Zauber des Isoliertseins. Eugen verglich Pulpit Hill einem vorgeschobnen, von der Wildnis umlauerten Vorposten des alten Rom.
In dieser herrlichen Umgebung konnte ein junger Mensch behaglich und vergnügt vier üppige und träge Jahre zubringen. Da war weiß Gott Einsamkeit genug für mönchischen Fleiß, aber die romantische Atmosphäre hätte selbst einen Bücherwurm vom Studieren abgebracht. Die Studenten bummelten und genossen die Freiheit. Mit aller Energie, allem Enthusiasmus ereiferten sie sich für gesellschaftliche Angelegenheiten und die kleine Universitätspolitik. Sie stellten Sportmannschaften zusammen, gründeten Glee-Clubs, Diskussions-Clubs, Amateurtheater-Clubs. Und sie führten große Reden. Immer und überall redeten sie; sie standen unter den Bäumen und schwatzten, sie standen vor den efenüberwucherten Mauern und schwatzten, sie hockten auf ihren Buden und schwatzten. Sie schwatzten den ungegliederten, breiten, trägen, unaufhörlichen, reizvollen, gedankenlosen Schwatz, der in den alten Südstaaten zuhaus ist: – sie redeten großzügig und leichthin über Gott und den Teufel, über Philosophie und Mädchen, über Politik und Sport, über akademische Bruderschaften und nochmals über Mädchen … o Gott ja! wie sie schwatzten, was für Reden sie führten.
Ehe sein erstes Studienjahr um war, hatte Eugen vier- oder fünfmal die Bude gewechselt. Am Schluß des Lehrjahrs hauste er allein in einem großen, kahlen Zimmer ohne Teppich. So zu wohnen war eine Seltenheit in Pulpit Hill, denn die Studenten lebten meist zu zweien oder zu dreien zusammen. In jenem Zimmer begann für Eugen eine räumliche, anfangs schwer zu ertragende Isolation, die ihm später zum unerläßlichen Bedürfnis des Körpers und Geistes wurde.
Eugen lebte in einer kleinen Welt. Aber die Schäden und Mißstände dieser Welt, mochten sie auch noch so unerheblich scheinen, erzeugten tiefgehende, verheerende Wirkungen in seinem Wesen. Er hatte keine Freunde; stolz und hochfahrend zog er sich in seine Zelle zurück, blindlings widersetzte er sich dem Gemeinschaftsleben, das ihn