Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze - Thomas  Wolfe


Скачать книгу
hüpfenden Schritten an Bens Seite. Er konnte seine aufwallende Daseinslust kaum zügeln. Als sie um eine Straßenecke bogen, sprang er mit einem Freudenjuchzer in die Luft: »Squieh!«

      »Du kleiner Idiot!« schalt Ben scharf, »Bist Du verrückt?« Er rückte die Brauen herunter, begegnete dem brüllenden Gelächter der Vorübergehenden mit einem dünnen Lächeln.

      »Halt ihn fest, Ben!« rief Jim Pollock. Er war Übersetzer an der Zeitung, ein totenblasser, kleiner Mann mit schwarzem Schnurrbart, Sozialist.

      »Wenn man ihm die verdammten langen Haxen abschneidet, dann geht er in die Luft wie ein Ballon«, sagte Ben.

      Sie gingen in die große, neue Frühstücksstube und setzten sich an einen Tisch.

      »'ne Tasse Kaffee und ein Stück Mince-Pie«, bestellte Ben.

      »Dasselbe für mich«, sagte Eugen bescheiden.

      »Iß!« befahl Ben wild, »iß!«

      Eugen studierte nachdenklich die Speisekarte.

      »Bringen Sie mir ein paar sanierte Kalbsschnitzel mit Tomatensauce und geröstete Kartoffeln dazu und eine Portion Gelberüben und Erbsen und einen Teller heiße Biskuits«, bestellte er. »Und eine Tasse Kaffee.«

      Er fand sein Herz wieder. Den Rest der Ferien genoß er sehr. Er trieb sich hochgemut auf den Straßen herum, sah Frauen und Mädchen kühn aber ohne Frechheit an. Sie erschienen ihm wie unerwartete, mitten in der Winteröde aufgeblühte Blumen. Ein Feuereifer zum Leben erfüllte ihn. Er war allein. Er hatte keine Angst mehr, denn Angst ist ein Drache, der in der Menge und in Armeen haust. Er war über seine Verzweiflung hinweg. Er war zufrieden und hoffte, daß sein Kampf nicht umsonst sein würde.

      Er fuhr auf die Universität zurück, gewappnet gegen den Hohn und die gemeinen Anpflaumungen seiner Mitstudenten. Er wußte zurückzuschlagen, und seine Hiebe saßen. Sie ließen ihn in Ruhe. Unbehelligt stand er am Fenster des Wagens und sah auf die weite, öde Erde hinaus, die grau in den Banden des Winters lag.

      Der Winter ging vorüber, die frostige Erde taute auf. Kalter Regen fiel, grünes Gras sproß. Die Wege in der Stadt und auf dem Kampus waren aufgeweicht und schmutzig, schwammen von spiegelnden Wasserlachen. Mit großen Känguruhsprüngen kam Eugen die Pfade entlang gerannt; manchmal machte er einen Satz in die Luft, um mit den Zähnen einen herunterhängenden Zweig abzureißen. Er schrie! Ein helles, die Kehle sprengendes Wiehern war sein Schrei, ein Mensch- und Tierschrei, zentaurenhaft, in dem sich sein von Freude, Qual und Leidenschaft erfülltes Herz Luft machte. Und dann wieder kamen Tage, an denen er niedergeschlagen umherschlich, mit einer unnennbaren Trübsinnslast beladen.

      Er rechnete nicht mit Stunden – er hatte überhaupt keinen Sinn für Zeit und Zeiteinteilung, keine regelmäßigen Fristen für Arbeit, Schlaf und Erholung. Seine Kurse besuchte er jedoch pünktlich; und er aß ziemlich regelmäßig, weil der Betrieb in der Studentenküche und im Boardinghouse ihn dazu zwangen.

      Helene und Hugo Barton besuchte er mehrere Male. Sie lebten in der Hauptstadt des Staates, in Sidney, nur 50 Kilometer von Pulpit Hill entfernt. Sidney war eine Stadt von 30000 Einwohnern, verschlafen, mit baumbestandnen, stillen Straßen und einem Kapitolsplatz im Zentrum, von dem die Avenuen strahlenförmig ausgingen. Gegenüber dem Kapitol, am Ende der Hauptstraße, stand ein billiges Hotel, ein braunes, verwittertes, von Flechten bewachsnes Steinhaus: – das bekannteste Bordell in der Stadt. Außerdem gab es drei von Sekten gestiftete Hochschulen, in denen Frauen und Mädchen der speziellen Religionsauffassung ihrer Kirchen entsprechend herangebildet wurden. Die Bartons hatten drei oder vier Zimmer im Erdgeschoß eines alten Hauses gemietet, das in der Nähe des Gouverneurspalasts lag.

      Sidney war die Stadt, zu der Gant als junger Mann auf seinem Zug in den Süden von Baltimore her gekommen war. Sidney war es, wo er zuerst selbständig sein Geschäft betrieb, wo er nach dem Verlust seines ersten Kapitals allen Bodenbesitz zu hassen angefangen hatte. Sidney war es, wo er seine erste Frau gefunden und geheiratet hatte, die heilige Cynthia, jene lungensüchtige, alte Jungfer, die nach zweijähriger Ehe starb.

      Das große Gespenst ihres Vaters suchte sie heim; es schien für immer über dieser Stadt zu brüten. Sie gingen zusammen in das armselige Stadtviertel auf die Suche. Schließlich standen sie vor einem heruntergekommenen Schuppen, der einstmals eine Steinmetzwerkstatt gewesen war.

      »Hier also muß es gewesen sein«, sagte sie. »Hier hat er sein Geschäft gehabt. Und nun ist nichts mehr davon zu sehn.« Sie schwieg eine Weile. »Der arme, alte Papa«, sagte sie dann. Feuchten Auges wandte sie sich ab.

      Es war kein Zeichen von seiner großen Hand an dieser öden Stätte, in dieser schnöden Welt. Nicht einmal Reben rankten ums Haus. Was von Gant hier gelebt hatte, war begraben, war mit der toten Ehefrau zusammen verscharrt, war von der grauen Woge der Zeit verschwemmt. Sie standen da und schwiegen beklommen. Wie fremd der Ort war! Sie standen da, gläubigen Unglaubens in der Erwartung, seine große Stimme zu vernehmen, nicht anders als Menschen, die auf den Straßen Brooklyns nach einem Gott Ausschau halten.

      Im April erklärte das Volk der Vereinigten Staaten dem Deutschen Reich den Krieg. Eh noch der Monat um war, wurden alle jungen Männer in Pulpit Hill, die über einundzwanzig und tauglich befunden waren, zum Heeresdienst eingezogen. Eugen sah zu, als die Ärzte in der Gymnastikhalle Musterung abhielten. Er beneidete die Jünglinge um die bedenkenlose Unschuld, mit der sie sich vor aller Augen auszogen: sie warfen ihre Kleider in ein Bündel zusammen und traten lachend und selbstsicher in ihrer Nacktheit vor die Ärzte: gutgewachsne, saubre Burschen, gesund und gelenkig, mit gesunden, weißen Zähnen.

      Studenten, die in der Musterung für tauglich erklärt worden waren, kamen mit gepackten Handkoffern aus den alten Dormitorien herunter. Sie gingen über den großen Kampus, schritten fort unter den alten Bäumen, die Dorfstraße hinunter. Von Zeit zu Zeit streckten sie die Arme hoch zum Lebwohl:

      »So lang, ihr Jungen! Auf Wiedersehn in Berlin!«

      Das glänzende und trennende Meer schien nun näher und nicht so breit.

      Eugen las sehr viel, – planlos und rein zum Vergnügen. Er las Defoe, Smollet, Sterne und Fielding: das feine Salz des englischen Romans, das unter der Herrschaft der Witwe von Windsor von einem Ozean verzuckerten Tees verschwemmt worden ist. Er las Boccaccio und alles, was von einem zerrissenen Band des Heptameron übrig war. Er las Aeschylos, Sophokles, Euripides. Er verliebte sich in die Welt der Fabulierlust, des Traumgesponnenen, Widerdachten und Freierfundnen vom »Goldnen Esel« bis zu Samuel Taylor Coleridge. Er begeisterte sich für Satiriker: Aristophanes, Voltaire, Swift. Er las »Sir Gawayne and the Grene Knight« und »The Book of Tobit«.

      Er wollte Gespenster und Wunder nicht erklärt haben. Und er sehnte sich nach Gespenstern, nicht nach indianischen, sondern nach Geistern, die in Rüstungen umgehen, den Schemen alter Könige, den Spukgestalten der Damen von einst hoch zu Roß mit hohen konischen Hüten. Damals merkte er zum erstenmal, wie einsam das Stück Erde war, auf dem er wohnte. Und plötzlich erschien es ihm sonderbar, daß er da mitten in der Wildnis hockte und seinen geliebten Euripides las.

      Um ihn war das Dorf, und darüber hinaus war die wellige, häßliche Gegend mit den vereinzelten Farmen, und darüber hinaus war Amerika – noch mehr Land, noch mehr billige, hölzerne Farmhäuser, noch mehr Städte: hart, häßlich und roh. Er saß da und las den Euripides, und ringsum war eine Welt von Weißen und Negern, die von gebacknen Speisen lebte. Er las von dem alten Spuk, den alten Hexereien … aber ging je ein altes Gespenst in diesem Lande um?

      Plötzlich hatte er das vernichtende Gefühl von der Unbeständigkeit seiner Nation. Nur die Erde überdauerte, die gigantische, amerikanische Erde, die eine Welt windiger, fallsüchtiger Baulichkeit an ihren schreckhaften Brüsten trug. Nur die Erde überdauerte, diese breite furchtbare Erde, die von keinen Gespenstern heimgesucht war. Ach, verschollen in der Wüste, verschüttet, verweht, halbzertrümmert unter den geborstnen Säulen verlorner Tempel … da war kein zerbrochnes Bild des Menkaura, kein Alabasterhaupt Echnathons. Nichts war aus Stein. Nur die Erde überdauerte, an deren einsamem Herzen er den Euripides las. In ihren Gebirgen hatte er, ein Gefangner, gehaust; auf ihren Ebnen wanderte er allein, ein Fremdling.

      O Gott! O Gott! Wir sind Verbannte in einem andern


Скачать книгу