Amerikanische Reise 1799-1804. Alexander von Humboldt
untersuchten, »was sie mit nach Hause tragen können, weil viele nur an ihrem Schreibtisch mit äußerer Bequemlichkeit arbeiten«, statt die Objekte an Ort und Stelle zu erforschen.127
Die Versuche selbst wurden nicht chronologisch, sondern sinngemäß aneinandergereiht. Der erste Band beschreibt den Einfluss des Galvanismus auf sezierte tierische Körper, der zweite betrachtet dann den Einfluss »chemischer Stoffe auf die erregbare Faser«.128 Mit diesem folgerichtigen Aufbau hoffte er, einer Verallgemeinerung seiner Ergebnisse dienen zu können. Der erste Band bildete eine Vorstufe der Elektrophysiologie, der zweite begründete die »vitale Chemie«. Diese bezeichnete Humboldt selbst auch als eine »Experimental-Physiologie«; sie wurde später von seinem Freund Emil Du Bois-Reymond ehrlich anerkannt und vervollkommnet. Seit Galvani 1791 seine epochemachenden Entdeckungen bekannt gegeben hatte und der Galvanismus in Deutschland spielerisch in Gesellschaftszirkeln und ernsthaft in Kreisen der Wissenschaft diskutiert wurde, bemühte man sich auch, die biologischen Hauptfragen der Zeit – Reizproblem, Erregungstheorie und Vitalismus – wissenschaftlich mit ihm zu verknüpfen. Humboldts eigene Bemühungen gingen weit über den bloßen Galvanismus hinaus. »Er untersuchte systematisch zuerst die Bedingungen, unter denen der galvanische Reiz entsteht, dann die Wirkungen desselben auf Nerv und Muskel. Ebenso ging er dem Einfluss der Wärme, Licht, Wasser, Luft, verschiedenen Gasen und chemischen Substanzen nach, indem er die Reizwirkungen derselben am Nerv-Muskel-Präparat feststellte und besonders die Veränderungen der Reizempfänglichkeit beachtete.«129
Humboldt wies erstmals auf die großen Verschiedenheiten in der Erregbarkeit reizbarer Teile hin und lenkte den Blick auf die Einflüsse, von denen sie abhängen. Sein Buch ist eine Übersicht der Reizerscheinungen in der belebten Natur. Bei den Amphibien untersuchte er beispielsweise die Abhängigkeit der Erregbarkeit von der Jahreszeit. Während des Winterschlafs fand er die Reizempfänglichkeit am größten.130 Die zum Teil schmerzhaften Versuche auf seinem Rücken zeigten wahrscheinlich erstmals in der Geschichte des physiologischen Galvanismus dessen Einfluss auf Blutgefäße und deren Absonderungen.131 Besonders bezeichnend sind die Versuche des zweiten Bandes, die der »Stimmung der Erregbarkeit« gewidmet sind, d. h. der Untersuchung ihrer Änderung unter dem Einfluss physikalischer und chemischer Stoffe. In verschiedenen Experimenten untersuchte er vor allem die Zu- und Abnahme der Herztätigkeit. Er bemerkte wie Fontana, dass schwache elektrische Schläge die Herztätigkeit erhöhten, starke sie verminderten, beobachtete die anregende Wirkung erhöhter Temperatur und den wiederbelebenden Einfluss des Blutes und richtete hauptsächlich seine Aufmerksamkeit auf die »Stimmung der Erregbarkeit« durch Gase.
Am Rand werden noch viele andere Experimente erwähnt, etwa die vergeblichen Bemühungen »durch Einsenken von Thermometern in die geöffneten Brusthöhlen frisch-getödteter Thiere den Unterschied der Temperatur von Frosch-, Kröten-, Fisch- und Eidexen-Blut zu finden«.132
10. DIE ABKEHR VON DER »LEBENSKRAFT«
Erfahrung, keine Spekulation
Bei allen Experimenten erhob sich die grundsätzliche Frage: Was ist das Leben? War eine selbständige Lebenskraft erwiesen? Er hatte an sie geglaubt. Seine Definition war in Lehrbücher übernommen worden, er selbst aber betrachtete sie nun als von Reil, Veit, Ackermann und Röschlaub gründlich widerlegt. Er gab dies offen zu und trennte sich damit von der Vorstellung der Lebenskraft, da er ihr Dasein nicht erweisen konnte. Das Leben betrachtete er als Gleichgewichtszustand und führte drei Ursachen an, die diesen erhalten könnten. Seine Feststellungen gipfelten in der methodischen Forderung, »physische Erscheinungen nicht nur physisch, sondern auch ohne Zuflucht zu einer unbekannten Materie zu erklären«.133 Von Lebenskraft zu sprechen, wagte er nicht mehr, »da sie sich vielleicht bloß durch das Zusammenwirken der im Einzelnen längst bekannten materiellen Kräfte erklärt«, glaubte aber umso sicherer, eine Definition belebter und unbelebter Stoffe ableiten zu können134: »Belebt nenne ich denjenigen Stoff«, schrieb er, »dessen willkührlich getrennte Theile, nach der Trennung, unter den vorigen äußeren Verhältnissen ihren Mischungszustand ändern. Das Gleichgewicht der Elemente in der belebten Materie erhält sich nur so lange und dadurch, daß dieselbe Theil eines Ganzen ist.«135 Humboldts Schlussfolgerungen bezeugen eine materialistische Tendenz, ohne materialistisch zu sein. Er hoffte, durch diese »Versuche« »die Masse unserer empirischen Erkenntnisse vermehrt zu haben«, obgleich er mit ehrlicher Bescheidenheit das große unbekannte Feld überschaute, das die Forschung noch erschließen musste. Aber: »Große und glänzende Entdeckungen können dem menschlichen Geiste nicht entgehen, wenn er kühn auf dem Wege des Experiments und der Beobachtung fortschreitet und unablässig sucht den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht.«136
Die Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser waren bereits von einer Methode geprägt, die Humboldt nun nicht mehr preisgab: Er verband die rationalistische Empirie mit der vor allem von Kant137 herrührenden Überzeugung vom Naturganzen und der vom Geist der aufblühenden deutschen Klassik kommenden Idee der Harmonie eben dieses Ganzen zum kritischen Realismus seiner Naturforschung.138 Dabei bezeichnete die Ablehnung des Begriffs einer selbständigen Lebenskraft eine sehr wichtige Entwicklungsstufe. Der Rhodische Genius 1795 überstieg die Welt der Erfahrung und wurde daher in die Form einer Dichtung eingekleidet. »Die Lebenskraft wird als uralte, ehrwürdige Idee aufgefaßt – aber im Sinne eines Als-Ob. Während die Lebenskraft von vielen als eine fundamentale Neuerung, als Erkenntnisfortschritt gewertet wurde, bedeutete der ›Rhodische Genius‹ für Humboldt den Abschluss einer individuellen Geistesepoche. Die dichterische Fassung eines wissenschaftlichen Problems ist für die Wahrheitsliebe des Forschers die Krise. Es ist der Wendepunkt in Humboldts Leben …«139
All dies drückt sich vor allem in diesen Versuchen … aus, in der Sicherheit der gefällten Entscheidung zwischen Spekulation und Realismus. Humboldt stritt schon jetzt einer Naturphilosophie keine Verdienste ab, aber er selbst wollte sie nicht pflegen und in seiner Forschung auch keine spekulativen Elemente dulden. Er hatte damit eine Entscheidung getroffen, die der Lösung seines Lehrers und Freundes Georg Forster von der Rosenkreuzerei entsprach. Als er später auf die Zeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts zurückblickte, hat er »das Bestreben, die Erscheinung der körperlichen Dinge in ihrem allgemeinen Zusammenhange, die Natur als ein durch innere Kräfte bewegtes Ganzes aufzufassen«, als »Hauptantrieb« bezeichnet.140 »Das Naturganze war für die Forschung Humboldts regulatives Prinzip und Grenzbegriff, in welchem sich die erfahrbare Wirklichkeit und die sie begründende Wahrheit überschneiden und durchkreuzen.«141
Infolge seiner Experimente musste Humboldt auch Stellung beziehen in dem Streit um das Wesen des Galvanismus, der ähnliches Aufsehen erregte wie der Vulkanismusstreit. Galvani meinte, die Elektrizität sei den Muskeln und Nerven eigen, während sein Gegner Volta die gleiche Erscheinung dem Kontakt ungleichartiger Metalle zuschrieb, auf die der Froschschenkel als Elektroskop reagiere. Humboldt wandte sich gegen die Kritik Voltas an den neuen Experimenten Galvanis, dem es gelang, mit einem einzigen an einen Nerv und einen Muskel angelegten Metallbogen Zuckungen zu erregen; das gleiche war ihm sogar ohne Metall bei bloßer Berührung von Nerven und Muskeln geglückt. Er erkannte aber bald, dass die Zuckungen beim Kontakt ungleichartiger Metalle wesentlich stärker waren als in den von Galvani zuletzt angegebenen Fällen. So stand er – ähnlich wie beim Vulkanismusstreit – zwischen den diskutierenden Parteien und war nach Wilhelm Wundts Zeugnis »der richtigen Lösung des Streits vielleicht näher als irgendeiner der Zeitgenossen«.142 »Während Volta das Hauptgewicht auf die physikalische Erklärung des Metall-Reizes legte, war Humboldts Augenmerk hauptsächlich auf die Reizempfänglichkeit des Organismus gerichtet. Der Galvanismus galt ihm in erster Linie als das hervorragende Mittel, die Erregbarkeit zu prüfen. Humboldt unterschied konsequent die Vorgänge, die der tierischen Elektrizität zugehören, von den galvanischen Reizerscheinungen.«143 Er stand zwar schließlich im Lager der Galvanisten, aber nicht als Eiferer, der aus Prinzip nur einen Weg ging, sondern von eigenen Experimenten überzeugt, die er nicht anders deuten konnte. Die galvanische Erscheinung leitete er von einem in den Tieren anwesenden Fluidum ab, das er nicht mit der Elektrizität zu identifizieren wagte. Die Metalle verursachen nicht den Reiz, sondern