Amerikanische Reise 1799-1804. Alexander von Humboldt
12zölliger Sextant fähig sind.« So konnte er denn die Polhöhe für Salzburg, Berchtesgaden und Reichenhall ermitteln.
Der Aufenthalt in Salzburg erwies sich insgesamt als wichtige Station auf dem Weg nach den südamerikanischen Tropen. Dazu zählen selbstverständlich auch sämtliche Exkursionen, die er von hier aus unternahm:
Am 26. Oktober 1797 war Humboldt in Salzburg eingetroffen. Bereits am 7. November reiste er über Fuschl am See und St. Gilgen am Abersee nach Ischl an der Traun, wo er den originellen Leopold v. Buch traf, der ihn von nun an begleitete. Gemeinsam reisten sie zum Ischler Salzberg, nach Hallstatt zum gleichbenannten Berg, nach Aussee und Altaussee, zum Bergwerk am Sandling und über Aussee und Grisern zurück nach St. Gilgen und waren am 13. November 1797 wieder in Salzburg.
Am 28. November 1797 besuchten beide die Eiskapelle am Fuß des Watzmanns. Am 3. Dezember weilte Alexander in Berchtesgaden. Den Gaisberg bestieg er am 4. März 1798, wie wir gesehen haben. Vom 7. bis zum 17. April 1798 blieb er in Berchtesgaden; sechs Tage davon weilte er auf Schloss Adelsheim beim Administrator des Hauptsalzamtes Joseph v. Utzschneider.
Er glaubte, in Salzburg »ein wahres Klosterleben geführt« zu haben, »aber … ein sehr arbeitsames«. Er vollendete Manuskripte, redigierte, korrigierte, experimentierte intensiv wie nie zuvor, korrespondierte, observierte und charmierte in Wort und Tat. Es war, als wüchsen ihm tausend Hände.
An keinem Ort hat er während seiner sechsjährigen Vorbereitung mehr gearbeitet als hier. In Versuchen und Messungen schuf er sich planmäßig eine Vergleichsgrundlage für die Tropen.
Im Winter 1797/98 hatte er das gesamte Werk H. B. de Saussures erneut gelesen, »Wort für Wort«. Er schrieb später aus Paris: »J’aime à marcher sur les traces d’un grand homme.« [»Ich liebe es, den Spuren eines großen Mannes zu folgen.«] Das instrumentenreiche Genf erschien ihm wie »le foyer du génie«, wie »der Mittelpunkt des Geistes«, wie er am 22. Juni 1798 im gleichen Brief mitteilte.
Kein Wunder, dass er nach den Erfolgen in Salzburg das deutsche Genf erkennt, eine Stadt »nicht minder von der Natur bestimmt …, einst unter begünstigenden politischen Verhältnissen die Schule deutscher Physiker (Naturforscher) zu werden«.121
9. DIE »VERSUCHE ÜBER DIE GEREIZTE
MUSKEL- UND NERVENFASER«
Gegen jede Tierquälerei
In Salzburg hat Alexander den zweiten Band seines Werkes Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser abgeschlossen. Es ist ein Buch, das in überzeugender Fülle Versuchsanordnungen und Experimente beschreibt. Auffallend sind die klare Form der Darbietung und die Methode, die ausdrücklich formuliert und betont wird. Auch muss Humboldts humanes Vorgehen beachtet werden. Bei seinen zahlreichen Tierversuchen hatte er jede Tierquälerei vermieden. Vivisektion lehnte er ab. »Alle Tiere, mit denen ich je experimentirt, habe ich durch Abschneiden des Kopfes und Durchbohren des Rückenmarks zu tödten gesucht. Ich füge diese Anmerkung einmal für immer bei, um den unangenehmen Eindruck zu mildern, den eine Sammlung zootomischer Versuche bei einer gewissen Klasse reizbarer Leser erregen muß. Nach meiner eigenen Art zu empfinden, würde ich ohne diese Vorsicht, die Thiere vorher zu tödten, auch nicht einen einzigen galvanischen Versuch je haben anstellen können.«122
Seit 1792 hatte er galvanische und anatomische Experimente miteinander verknüpft und zunächst einfach die Wirkung des elektrischen Stromes bei steter Änderung der Versuchsanordnung auf das anatomische Präparat erforschen wollen. Die notwendigen Instrumente, einen galvanischen Apparat, ein paar Metallstäbe, Pinzetten, Glastafeln und anatomische Messer hatte er selbst zu Pferde mit sich geführt. Seine jetzigen Versuche betrachtete er als eine Fortsetzung seiner Beobachtungen über die Reizempfänglichkeit der Pflanzen. Von daher erschien ihm das Studium des tierischen Körpers unerlässlich. Er betrachtete die Pflanzen nicht als Tiere wie etwa Baptista Porta, sondern »als Object einer allgemeinen vergleichenden Physiologie und Anatomie«. Er wollte sich nicht zu »falschen Analogien« versteigen, sondern den »thierischen Stoff« genauestens kennenlernen. Diese Studien hatten ihn Bescheidenheit gelehrt. Je tiefer er in die anatomischen Geheimnisse eindrang, desto mehr lockte ihn »der wundersame Bau der menschlichen Organisation an«.123 Hier hatte die Wissenschaft am stärksten vorgearbeitet, und keine andere »thierische Faser« hatte er so leicht erregbar wie die des menschlichen Körpers, den er als Teil des Naturreichs verstand, gefunden. »Wer sich daher irgend einem Theile der Naturbeschreibung ernsthaft widmet, sollte jenes Studium nicht vernachlässigen, wäre es auch nur, um einzusehen, welche unabsehbare Fülle von Kräften in ein Aggregat irdischer Stoffe zusammengedrängt sein kann. Ich habe mich bemüht, bei meinen Versuchen über den Galvanismus von aller Theorie zu abstrahiren, oder vielmehr, ich habe diese Versuche so abgeändert, als wenn gerade das Gegentheil der bisher aufgestellten Gesetze des Metallreizes erwiesen werden müsse. Diese Methode schien mir, so lange ich experimentirte, die fruchtbarste zum Erfinden zu seyn … Freilich ist es dem menschlichen Geiste unmöglich, sich während des Experimentirens aller theoretischen Vermuthungen zu enthalten; freilich ist, wie Darwin sagt, das Denken selbst ein Theoretisiren. Man reiht das Halbgesehene immer an analoge Erscheinungen an und glaubt oft, Gründe in unwesentlichen Nebendingen zu finden. Wohl dem Experimentator aber, den abgeänderte Versuche von einer Theorie zu anderen hinführen, dessen Vermuthungen nicht früh eine Gewißheit erlangen, die von der ferneren Beobachtung zurückscheucht!«124
Es ging Humboldt um Tatsachen und deren scharfe Trennung von der Deutung. Als solche galten ihm nur die Ergebnisse der Experimente. Er war als Empiriker stets darauf bedacht, sie nicht mit ihrer Interpretation zu verquicken oder sie vorgefassten Theorien zu opfern. Scharlatanerie von der Art Mesmers lehnte er ab, unterstrich aber gleichzeitig, dass keineswegs jedes »Manipuliren physisch unwirksam sey«. So verdienten z. B. Johann Nathanel Petzolds Dresdner Versuche größte Aufmerksamkeit bei Naturforschern, »die nicht gewohnt sind facta von sich zu stoßen, um Hypothesen aufzunehmen … Der Naturphilosoph muß alle Erscheinungen in Verbindung setzen; durch diese Verbindung allein schon tritt er den Ursachen näher«125 (Hervorhebung durch HANNO BECK).
Dies alles macht das Buch noch heute lesbar. Es enthält außerdem mehr, als sein Titel verrät. Es muss besonders beachtet werden, weil es das umfangreichste Werk ist, das Humboldt vor seiner großen Reise veröffentlicht hat. Die Versuche selbst stellte er zunächst nur zu seiner eigenen Unterrichtung an. Erst als bedeutende Physiologen ihre Publikation wünschten, arbeitete er systematischer. Wegen seiner Tätigkeit als Bergmann und wegen der häufigen Unterbrechungen seiner Arbeit konnte er die einschlägigen Forschungen anderer nicht verfolgen, so dass er manches Experiment durchführte, das anderen schon vor ihm gelungen war. Die galvanischen Versuche selbst hielt er für einfach. Die Schwierigkeiten entstanden erst durch die Einführung erregender und leitender Substanzen in die Versuchsanordnung. Trotzdem schien es ihm notwendig, die Literatur streng zu überprüfen, um nur diejenigen Untersuchungen in sein Werk aufzunehmen, die über ältere hinausführten und der Erweiterung der Physiologie dienen konnten.
Im Frühjahr 1795 schien sich das Ende seiner Bemühungen abzuzeichnen. Humboldt hatte bereits Teile seines Manuskripts an Soemmerring und Blumenbach geschickt, als ihn Pfaffs Schrift Über thierische Elektricität und Reizbarkeit auf eine angenehme und unangenehme Art überrascht hatte.126 Diese Arbeit fand er ausgezeichnet, sah aber zugleich, dass Pfaff auf anderen Wegen die gleichen Resultate wie er selbst erreicht hatte, und musste sich zu einer »gänzlichen Umschmelzung« seines Buches entschließen. Die Hälfte der Versuche wurde gestrichen. Sein Aufenthalt in der Schweiz und in Italien hinderte die Verwirklichung seines Planes, förderte ihn aber gleichzeitig, weil er nun Jurine, Pictet, Scarpa, Tralles und Volta persönlich kennenlernte und seine Gedanken korrigieren konnte. Er dankte diesen Persönlichkeiten öffentlich, denn ihr Rat befähigte ihn zu neuen Schritten oder veranlasste ihn zu einer streng überwachten Wiederholung älterer Experimente, z. B. auch der Überprüfung der Versuche auf seinem Rücken.
Die hier mitgeteilten Stellen verraten eine auffällige sprachliche Prägnanz. Humboldt pflegte sich sogar zu entschuldigen, wenn er von der Regel abwich, um in der Darstellung schneller zum Ziele zu kommen, und stellte stets fest,