Dr. Daniel Paket 1 – Arztroman. Marie Francoise

Dr. Daniel Paket 1 – Arztroman - Marie Francoise


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arbeitete. Etliche Wochen lang fühlte sich Darinka völlig gesund – so wie alle anderen Mädchen ihres Alters. Aber dann schlug diese schreckliche Krankheit wieder erbarmungslos zu – mit Schmerzen und Blut… mit entsetzlich viel Blut. Und Darinka wagte es nicht, zu einem Arzt zu gehen. Sie wartete darauf, daß sie irgendwann sterben würde… wie ihre Eltern einst ebenso gestorben waren.

      Vati und Mutti hatten auch so schrecklich geblutet. Das war das einzige, woran Darinka sich noch erinnern konnte. Sie war sehr klein gewesen, als der Unfall geschehen war. Aber sie erinnerte sich noch an das viele Blut. Und nun ging es ihr genauso. Nur, daß sie keinen Unfall gehabt hatte. Oder kam die Krankheit vielleicht von ihrem Sturz vom Barren?

      Das war schon ein paar Monate her. Sie hatten im Turnunterricht am Barren gearbeitet, und plötzlich war Darinka gestürzt. Es war so schnell gegangen, daß niemand mehr hatte helfend zugreifen können. Ja, und kurz danach waren dann die Schmerzen gekommen. Und auch das Blut. Es mußte mit diesem Sturz zusammenhängen.

      »Darinka, du bist ja schon zu Hause.«

      Die Stimme ihrer Großmutter riß sie aus ihren Gedanken. Erschrocken fuhr sie hoch und errötete, als hätte sie etwas Verbotenes getan, doch ihre Großmutter bemerkte es nicht.

      »Komm, Kindchen, ich habe dir Milchreis mit Früchten gemacht«, fuhr sie fort. »Den magst du doch so gern.«

      »Ja, Oma«, stimmte Darinka artig zu, dabei verspürte sie nicht den geringsten Appetit.

      Aufmerksam sah Martha Stöber ihre Enkelin an.

      »Was ist denn los, Kleines?« wollte sie wissen. »Du siehst so blaß aus. Fühlst du dich nicht wohl?«

      Darinka erschrak erneut. Konnte man ihr die Krankheit jetzt schon ansehen? Sekundenlang war sie versucht, ihrer Großmutter alles zu erzählen, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Wie sollte sie ihrer Großmutter erklären, wo das viele Blut herkam. Und vor allen Dingen – Oma war alt, und der Arzt sagte immer wieder, sie müsse sich schonen, ihr Herz wäre nicht mehr das gesündeste. Nein, sie durfte Oma auf keinen Fall aufregen.

      »Mit mir ist alles in Ordnung«, zwang sich Darinka zu sagen. »Wir hatten in der Schule ziemlichen Streß, weißt du.«

      Martha Stöber nickte. Sie wußte schon, was von den armen Kindern heutzutage verlangt wurde.

      »Also, dann komm zum Essen, Da­rinka«, meinte sie.

      Mit Mühe unterdrückte das Mädchen einen Seufzer, bevor es der Großmutter nach unten folgte. Die Bauchschmerzen waren so schlimm, daß sie am liebsten geweint hätte, und nur mit Mühe zwang sie sich zu einer Miniportion Milchreis, was Martha Stöber erneut stutzig machte.

      »Mit dir stimmt doch etwas nicht«, behauptete sie. »Milchreis gehört zu deinen Lieblingsspeisen.« Fürsorglich legte sie einen Arm um Darinkas Schultern. »Sag doch, Mädelchen, hast du Sorgen?«

      Darinka schüttelte den Kopf. »Es ist wirklich nichts, Oma. Ich bin nur ein bißchen müde.«

      »Dann leg dich ins Bett«, riet Mar­tha. »Und wenn du dich morgen nicht besser fühlst, wirst du zu Dr. Gärtner gehen.«

      Darinka verzog das Gesicht. Sie mochte den alten Arzt nicht so besonders. Irgendwie hatte sie immer das Gefühl, als würde er gar nicht zuhören, was man ihm erzählte. Und außerdem hatte sie kein großes Vertrauen zu ihm. Er wäre mit Sicherheit der Letzte, dem sie von ihrer Krankheit erzählen würde.

      »Ich bin ganz bestimmt nicht krank«, versicherte sie ihrer Großmutter aus diesen Gedanken heraus, dann stand sie auf. »Ich werde mich ein bißchen ausruhen, Oma.«

      Langsam verließ sie die große Wohnküche und kehrte in ihr Zimmer zurück. Als sie bald darauf im Bett lag und an die Decke starrte, fragte sie sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis sie sterben würde.

      *

      »Was ist los, Robert? Willst du heute Überstunden machen?«

      Dr. Daniel sah von dem Krankenblatt auf, in dem er noch gelesen hatte und genau in Dr. Gebhards Augen. Mit einem tiefen Seufzer lehnte er sich zurück.

      »Ach, weißt du, Kurt, hier in der Praxis, bei meiner Arbeit, da kann ich so schön vergessen«, meinte er. »Und nach Hause zieht es mich überhaupt nicht.«

      Die Worte weckten wieder Mitleid in Dr. Gebhardt. Schon damals – vor fast genau vor fünf Jahren – hatte er sich gefragt, weshalb ein so guter Mensch wie Robert Daniel so hart bestraft wurde. Völlig verzweifelt war er nach München gekommen und hatte seinen einstigen Studienfreund angefleht, ihn aufzunehmen.

      »Seit Karina ausgezogen ist, ist es in meiner Wohnung wie ausgestorben«, fuhr Dr. Daniel fort und riß den Freund damit aus seinen Gedanken.

      Dr. Gebhardt zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Ich weiß, wie es jetzt in dir aussehen muß«, meinte er, und Dr. Daniel spürte, daß seine Anteilnahme echt war. »Als meine Tochter damals zu ihrem Freund gezogen ist, ging es mir ähnlich. Ich habe sie ganz schrecklich vermißt, und so gar heute gehe ich noch ab und zu in ihr Zimmer und denke an die Zeit, als sie noch mein kleines Mädchen war.« Er zwang sich zu einem Grinsen. »Verrückt, was?«

      »Ja, vielleicht…« Dr. Daniel senkte den Kopf. »Nach Christines Tod waren meine Kinder mein einziger Halt. Es war schon schlimm für mich, als Stefan diese kleine Wohnung in Schwabing gefunden hat und ausgezogen ist, aber jetzt… jetzt bin ich ganz allein.« Er schwieg kurz. »Sicher, Karina ruft fast jeden Abend an, und an den Wochenenden besucht sie mich. Manchmal kommt auch Stefan mit, aber… diese verdammte Einsamkeit bringt mich irgendwann um.« Die letzten Worte hatte er nur noch geflüstert.

      »Möchtest du mit zu mir kommen?« fragte Dr. Gebhardt spontan, doch Dr. Daniel schüttelte nur den Kopf.

      »Danke, Kurt, aber du hast eine Frau zu Hause, und ihr habt euch einen ruhigen Feierabend redlich verdient«, entgegnete er. »Ich werde noch ein bißchen arbeiten und dann nach Hause gehen.«

      »Na dann…« Dr. Gebhardt stand auf und ging zur Tür, doch dort drehte er sich noch einmal um. »Glaubst du, es ist wirklich richtig, jetzt schon nach Steinhausen zurückzukehren?«

      »Jetzt schon?« wiederholte Dr. Daniel. »Meine Güte, Kurt, ich habe meine Praxis fünf Jahre lang geschlossen gehalten. Es ist höchste Zeit, daß ich nach Steinhausen zurückgehe.«

      Bedächtig wiegte Dr. Gebhardt seinen Kopf hin und her. »Ich weiß nicht, Robert… du hast Christines Tod längst noch nicht verwunden, und…«

      »Und ich werde es nie verwinden können, daß sie mich so früh verlassen mußte«, vollendete Dr. Daniel niedergeschlagen. »Christine wird immer ein Teil von mir sein, und ich muß lernen, damit zu leben – auch in Steinhausen.«

      *

      Bis kurz vor Mitternacht blieb Dr. Daniel noch in der Praxis, dann machte er sich schweren Herzens auf den Heimweg, Tagsüber, im Gespräch mit seinen Patientinnen und auch in der Sorge um sie, konnte er sein privates Schicksal zurückdrängen, doch abends, da überfiel ihn die Einsamkeit wie ein drohendes Gespenst.

      Mit einem tiefen Seufzer blickte er die Fassade des riesigen Mietshauses empor, in dem er nun schon seit fünf Jahren wohnte. Im Vergleich zu seiner Villa in Steinhausen war es ein winziges Appartement, trotzdem hatte er sich eine Weile sogar ein bißchen wohl gefühlt. Die Erinnerung an seine geliebte Frau, die er viel zu früh hatte hergeben müssen, war hier nicht so erdrückend gewesen.

      Während Dr. Daniel noch vor dem Haus stand, runzelte er plötzlich die Stirn. Das einzige Fenster, das zu dieser späten Stunde noch hell erleuchtet war, gehörte doch zu seiner Wohnung. Dann huschte ein freudiges Lächeln über Dr. Daniels markantes Gesicht. Offensichtlich war Karina gekommen. Wenn er das nur gewußt hätte! Niemals wäre er so lange in der Praxis geblieben, wenn er auch nur geahnt hätte, daß seine Tochter ihn zu Hause erwarten würde.

      In fliegender Hast schloß Dr. Daniel die Haustür auf, dann lief er – immer zwei Stufen auf einmal nehmend – die Treppe hinauf und riß die Wohnungstür auf.

      »Karina?«


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