Gesammelte Werke: Romane & Erzählungen. August Sperl
Muttergottes! Maria hilf!«
So lag sie da, bemerkte uns nicht und betete wie eine, die in großer Not ist. Mich beschlich ein Gefühl der Beschämung; denn wir sahen da etwas, wozu der keusche Mensch die Einsamkeit aufsucht. Und dennoch konnte ich den Blick nicht von der betenden Frau abwenden, in deren weißen Haaren ein Strahl vom goldenen Abendhimmel spielte. Ich wußte nicht, was für ein schweres Leid ihr die Kniee gebeugt hatte – aber vor meine Seele drängte sich ein altes Wort. Das hieß nicht »Virgo venit, fugiunt morbi pestesque recedunt« – sondern:
»Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt. Meine Hilfe kommt von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.«
Leise wollte der Vater hinter den Kamin zurücktreten, da knarrte ein loses Brett. Jäh fuhr die alte Frau zusammen, erhob sich langsam, strich ihr Kleid zurecht und wandte sich zu uns. Sie stand im Schatten, aber wir sahen es, sie hatte große Augen in einem schmalen, weißen Antlitz.
Es war schwierig, gerade jetzt die rechten Worte zu finden. Doch der Vater fand sie auch in diesem Augenblick; nach kurzer Zeit saßen wir drunten in der dämmerigen Stube und fragten die Greisin, ob sie etwas wüßte von der Vergangenheit des Geschlechts oder gar von der alten Urkunde.
Aber nur langsam floßen Rede und Antwort. Vor unseren Seelen stand immer noch das Bild von droben, und immer hörten wir noch das flehende, ringende, schmerzvolle »Maria hilf!«; das war kein Abendgebet, es war ein Angstgebet gewesen! Und die Frau redete jetzt leise und gedrückt.
Wir sprachen weiter. Der Vater fragte, sie antwortete. Sie erzählte von ihrem Unglück, von ihren Kämpfen.
»Nicht wahr, Sie haben auch einen Sohn?« warf der Vater ein.
Da stand die alte Frau von ihrem Stuhle auf, faltete ihre Hände, sah aus ihren großen, dunklen Augen zu uns herüber und rief mit zuckenden Lippen: »Barmherzige Mutter Gottes! Sagen Sie mir's gleich, was Sie mir sagen müssen.« Sie hielt sich am Rande des Tisches. »Er ist tot. Sagen Sie's, machen Sie's kurz!«
»Was ist Ihnen, liebe Frau?« fragte der Vater, der sich auch erhoben hatte. »Ich kenne ja Ihren Sohn gar nicht, ich weiß ja gar nichts von ihm.«
»Sagen Sie's um der Jungfrau willen«, flehte die Greisin. »Sind Sie Gerichtsherren?«
»Bei allem, was mir heilig ist, wir sind das, was ich Ihnen gesagt habe, und wissen nicht, was Sie meinen«, erwiderte der Vater mit großem Ernst.
Da ließ sich die alte Frau in den Sessel sinken, und strömende Thränen brachen aus ihren Augen. Immer tiefer wurden die Schatten im Zimmer, und ruhig tickte die Uhr an der Wand.
»Heute früh habe ich einen entsetzlichen Brief bekommen«, sagte sie, zog aus der Tasche ein zerknittertes Papier und reichte es dem Vater hinüber. »Helfen Sie mir, ich bin hier ganz verlassen.«
Wir traten ans Fenster und lasen die Worte, die von einer schweren Faust auf graues Papier gekritzelt waren:
»Wir benachrichtigen Dich, Alte, daß Dein Sohn von uns erschlagen worden ist. Wir haben ihn auch heimlich verscharrt, wo Du den adeligen Herrn Baron nimmer findest. Der Hungerleider, wo den Handwerkstand schadet. Du weißt warum.
† † †«
Der Vater faltete den Zettel ruhig zusammen und sagte:
»Da seien Sie ohne Sorge. Das ist nichts als ein Bubenstreich. Ihr Sohn lebt, und ich bleibe bei Ihnen, bis er da ist.«
Seine überzeugende Gelassenheit machte auf die gebrochene Gestalt vor uns einen sichtlichen Eindruck. So atmet das fieberkranke Kind ruhiger, wenn sich eine feste Hand sanft und liebend auf die glühende Stirne legt.
»Er ist mein Einziges auf dieser bösen Erde«, sagte leise die Frau. »Und wenn er nicht mehr wäre, dann möchte ich gleich sterben. Er muß ja oft in seinen Geschäften über Land, und ich habe auch keine Sorge, wenn er länger ausbleibt. Ich weiß zwar, daß ihn viele hassen. Er ist eben anders als sie.«
»Ist Ihr Sohn diesmal schon länger fort?« fragte der Vater.
»Erst seit gestern.«
»Nun, sehen Sie!« tröstete der Vater und nahm die Hände der Greisin ruhig in die seinigen. – So schnell bringen Not und Mitleid uns Menschen einander nahe!
»Aber heute früh ist ja der Brief gekommen«, klagte die Mutter. Dann lauschte sie, sprang plötzlich auf gleich einem Mädchen, eilte ans Fenster, riß einen Flügel auf, beugte sich weit hinaus über die Blumen. Wir hielten den Atem zurück, und die Wanduhr tickte.
Langsam schloß sie das Fenster, ging an die Kommode, zündete eine kleine Lampe an und stellte sie vor uns auf den Tisch.
»Er ist so gut«, fuhr sie fort, »er thut mir alles, und niemals murrt er über sein kümmerliches Leben. Er ist Geselle drüben beim Schlosser und ernährt auch mich. Jetzt ist er daran, sich selbständig zu machen, aber er hat vieles zu überwinden. Heute habe ich den ganzen Tag um ihn Angst gehabt und den ganzen Tag gebetet.«
Langsam ließ sie sich auf den Stuhl nieder, kreuzte die Arme über der Brust und sah zur Decke empor in den Lichtkreis der Lampe. Ihre Züge waren schlaff und müde.
»Die Luft war so klar, und ich habe ihren heiligen Berg den ganzen Tag gesehen. Ich habe ihr dort oben schon so viel gesagt; denn da hört sie mich besser als unten. Dort bete ich am liebsten zu ihr, wenn auch die Wolken vor ihrem Berg liegen. Ich habe ihr heute alles gesagt. Aber« – und sie blickte auf uns – »als Sie vorhin zu mir traten, da war mir's, als brächten Sie mir seinen Tod, als hätte ich heute vergeblich zu ihr gebetet und ihr die Kerze vergeblich versprochen. – Und da habe ich mich versündigt.«
Wir saßen und wußten nichts zu sagen.
Auf der Treppe tönten Schritte. Wir standen auf und stellten uns in den Hintergrund. Dreimal versuchte die Greisin sich zu erheben, aber ihre Kniee gehorchten dem Willen nicht.
Jetzt ging die Thüre auf, mit zitternden Händen nahm sie den Schirm von der Lampe, und das volle Licht fiel auf ihren Sohn.
Liebe, du hundertblätterige Blume aus der andern Welt, mit deinem viel mißbrauchten Namen! Liebe, die wir mit unsern harten Herzen niemals ganz erfassen und begreifen und üben können, sondern immer nur stückweise, blattweise!
Unbewußt bist du, wenn das Kind jubelnd die Ärmchen um den Hals der Mutter schlingt, glutrot bist du, wenn das junge Weib ihr Haupt an der Brust des Gatten birgt und ihr Leben mit dem seinen verbindet, selbstlos bist du, wenn der Mann freudig sein Blut für das Land der Väter verspritzt, heilig bist du, wenn der Samariter sich in Mitleid herabneigt. Wäre ich aber ein großer Bildhauer, und es sagte mir ein Gewalthaber dieser Erde: »Stelle der Liebe ein Standbild, daß man es weithin sieht in meinen Ländern!« – ich nähme den Marmor und gäbe ihm durch meine Kunst die arme, kümmerliche Gestalt, das faltige Antlitz und die großen Augen jener alten Mutter, wie sie mit ausgebreiteten Armen, mit schwankenden Schritten dem erstaunten Sohn entgegenging und unverständliche, thörichte Worte lallte; und wäre ich in der That der große Bildhauer, so müßte jeder sagen: »Das ist die unbewußte, die glühende, die selbstlose, die heilige – – die Mutterliebe!«
* * *
Zweierlei hat sich mir dann noch an jenem Abend besonders fest ins Gedächtnis gedrückt: das Antlitz, die ganze Gestalt dieses jungen Handwerkers und ein großer, alter Stammbaum.
Vor anderthalb Jahrhunderten hatte sich unser Zweig und der Zweig der Herren vom Walde, aus dem auch dieser Kerdern stammte, in jenem fränkischen Pfarrhaus getrennt, unabhängig von ihrem Blute hatte sich das unsere fortgepflanzt, niemals mehr war es zu einer Vermischung zwischen ihnen und uns gekommen. Ich besitze nun einen nahen Verwandten – er gehört der Generation meines Vaters an – einen Verwandten, den ich besonders verehre. Oft jedoch hatte ich mir im stillen gedacht: der sieht doch gar nicht ins Kerderngeschlecht, weder seiner gedrungenen, kurzen Gestalt noch vor allem seinem Angesicht nach. Als aber damals der Sohn der alten Frau in die Stube kam und der volle Schein der Lampe auf seine offenen, angenehmen Züge fiel, da