Gesammelte Werke: Romane & Erzählungen. August Sperl
ich hatte es damals nur nicht so sehr beachtet. Aber jetzt fiel es mir sofort ein: Als dort die greise Herrin des Schlosses auf uns zutrat, da war mir's, als stünde eines meiner liebsten Bäschen, die lebhafte Tochter meines Vatersbruders, in voller Größe vor mir – verwandelt in eine schöne, alte Frau.
Es sind dies seltsame Thatsachen. Stücke eines mächtigen, unerkannten Naturgesetzes möchte ich sie nennen. Belege für das Dasein dieses Gesetzes würden aber wohl in jedem Geschlechte zu finden sein, das von alten Zeiten herab stolz nach einer guten, eigenen Art gelebt hat. Denn in deinem Antlitz spiegelt sich nicht nur dein eigenes Leben, sondern auch das Leben deiner Väter aus grauer Vergangenheit her.
Kennen wir die geheimnisvolle Kraft des Blutes, das in ununterbrochenen Strömen von unbekannten Vorvätern herab in unsere Adern geflossen ist, von uns zu unbekannten Geschlechtern hinabrinnt und in ewiger Wiedergeburt das Neue aus dem Alten hervorbringt?
Es spielt ein Knabe unter den Augen seiner Eltern; er spielt und wächst, und seine Formen treten hervor. Er gleicht nicht seinem Vater, nicht seiner Mutter, er ist anders als alle seine Geschwister, man sagt: er sieht nicht in die Familie. Die Eltern behüten diesen Knaben, wie man sein Bestes behütet. Er wächst weiter, und aus den fremden Zügen spricht allmählich eine so fremde und rätselhafte Seele, daß alle mit schweren Sorgen erfüllt werden. »Er schlägt ganz aus der Art,« klagt oft der Vater. Da treten mit der Zeit seine Formen noch mehr hervor – droben aber an der Wand hängt ein dunkles Ahnenbild, und ein finsterer Männerkopf schaut ruhig aus seinem hundertjährigen Rahmen in die lärmenden Spiele des Urenkels herab, und sehr seltsam: man wird es endlich gewahr, der Knabe sieht gar wohl in die Familie, er hat die Züge des halbvergessenen Alten da droben an der Wand. Ja, das Blut ist ein geheimnisvoller Saft und nimmer zu ergründen! –
Und das andere, was sich mir an jenem Abend ins Gedächtnis prägte, das war der alte Stammbaum. Ganz zuletzt hatte ihn der Schlosser gebracht, und mit einem Blick hatte der Vater seinen Wert erkannt.
Es war eine Kopie jenes gemalten Stammbaums, den der sterbende Mann vor dem Kaminfeuer einst hatte verstümmeln lassen, und da auch ihm das damals weggeschnittene Stück fehlte, so war er sicher nachträglich erst abgeschrieben worden. Aber in diese Kopie war von dritter Hand aus einem alten, jetzt längst durch Feuer zu Grunde gegangenen Kirchenbuch ein schon zu Ende des sechzehnten Jahrhunderts abgestorbener, uns nur ganz oberflächlich bekannter Zweig, die Pfleger und Richter Kerdern von der Moosburg, ausführlich nachgetragen worden.
Man vertraute uns das Pergament gerne zur näheren Durchsicht an, behutsam machte der Vater eine große Rolle daraus und steckte sie zärtlich unter den Arm. Dann sagten wir der alten Frau und ihrem Sohne Lebewohl und gingen hinunter in die mondhelle Nacht. – –
Wer möchte sich wundern, daß uns auf jener nächtlichen Wanderung durch alle Gedanken und Reden immer und immer wieder tönte der leise Schrei der Todbetrübten: »Maria hilf!«
Im Pfarrhaus meines Oheims.
Es ist eine sehr bescheidene Gegend, durch die wir heute wandern, der Vater und ich, und man muß sie mit großer Liebe anschauen, wenn man sich ihrer erfreuen will – so etwa mit den Augen einer Mutter, die ihr Kind eben auch mit ganz besonderen Augen ansieht.
Es ist ein breites, langes, langes Thal; durch seine Wiesen windet sich ein träges Flüßlein in unzähligen Krümmungen; still und anspruchslos fließt es dahin, und viele graugrüne Erlen stehen an seinen Ufern.
Rechts und links wird das Thal von niederen, mäßig bewaldeten Höhen eingesäumt, und ein Fremder könnte nun vielleicht auf den Gedanken kommen, daß sich in dieser Weise das ganze Land in Thälern und Höhen hebt und senkt. Ich weiß das besser; denn ich kenne ja die Gegend gar wohl: wenn ich auf eine dieser Höhen emporsteige und hinausschaue, dann dehnt sich meilenweit zur Rechten und zur Linken des Thales eine öde, öde Hochebene aus.
Und doch liebe ich dieses Land, es erscheint mir so merkwürdig, unsagbar merkwürdig, es dünkt mir so schön wie nicht viele andere, ich glaube, daß die Mühlen weit und breit nicht mehr so traulich klappern wie die da drunten am Wasser unter den Erlen, ich fühle, daß ich lange nicht mehr so von Herzen froh war wie heute, und wir reden doch so wenig gerade heute, der Vater und ich. Aber ich gehe ja nicht zum erstenmal durch dieses Thal; aus den Flügeln der Erinnerung jagen meine Gedanken zurück, weit zurück, kommen wieder und malen, malen mir herrliche Bilder, jagen wieder zurück und kommen wieder, bringen mir geschäftig neue Farben, und mein Herz thut sich auf, und ich schaue in die strahlende, längst entschwundene, unwiederbringlich versunkene Kindheit.
Wir gehen weiter und weiter. Jetzt steigt vor unsern Augen die Anhöhe mit dem großen Dorf empor und scheint das ganze Thal gleich einem Riegel abzusperren. Von dieser Höhe grüßt er hernieder, der alte, romanische Kirchturm, der mich so oft schon grüßte, wenn ich mit dem leichten Ränzlein auf dem Rücken zum Onkel in die Ferien kam.
Wir gehen durch die engen Gassen empor zum Pfarrhaus. Die Weiber vor den Häusern halten mit ihrer Arbeit inne und schauen uns neugierig an. Sie haben rote Kopftücher und blaue Röcke wie vor Zeiten. Da liegt auch an der Halde rechts der alte, verlassene Kirchhof mit seinen gemauerten Gräbern und seinen eingesunkenen Grabplatten – wie oft haben wir als Kinder durch die Spalten in die dunklen Tiefen geschaut und uns gefürchtet.
Wir gehen weiter, und an jeder Ecke habe ich Erinnerungen.
Wir halten vor dem Pfarrgarten. An dem Thürchen sind ehedem zwei hohe Pappeln auf Schildwacht gestanden – jetzt ragt nur noch die eine von ihnen und streckt ihre kahlen Äste in die Abendluft empor. Vor uns liegen die großen Blumenbeete des Onkels. Späte Astern blühen darauf.
Aus dem Hintergrunde schaut das alte, weitläufige Pfarrhaus mit seinen kleinen Fenstern und seinem hohen, breiten Dache zu uns her. Das ist noch ganz so, wie es vor Zeiten auch war.
Hei, die wohlbekannte Glocke tönt wieder, droben am Fenster der Studierstube bewegt sich der ehrwürdige, liebe Kopf des Oheims; ein paar Schritte, und wir sind in der Wohnstube und grüßen und lassen uns grüßen.
Schlicht und groß stehst du, teure Gestalt, heute, wie ich das schreibe, vor meinem geistigen Auge. Ich habe dich gleich einem Vater geliebt. Du warst ein weiser Mann. Deine Redeart war kurz und rasch; aber alles, was du sprachst, kam fertig, gleichsam gemeißelt aus deinem Munde. Unnötiges habe ich nie von dir gehört.
Schon der Adel deiner äußeren Erscheinung war ehrfurchtgebietend. Auf einem mittelgroßen Körper saß ein bedeutendes, weißhaariges Haupt. Der Schnitt deines Antlitzes war ungemein charakteristisch. Schön stand dir der weißgraue Vollbart, und durchdringend blitzten deine blauen Augen hinter den Gläsern der Brille hervor.
Man fühlte sich so klein und unbedeutend in deiner Nähe, obwohl du mild in deinem Urteil über andere warst und so freundlich für alles Interesse hattest. Oft scheute ich mich, zu sprechen, wenn du zugegen warst, und jedenfalls wog ich alles, ehe ich es aussprach. Oft auch erkannte ich etwas erst dann in seinem wahren Werte, wenn ich mich anschickte, dir davon zu erzählen. Der eitle Flitter, mit dem sich die Dinge so häufig umkleiden und unkenntlich machen, der hielt vor deinem klaren Auge nicht stand.
Die Heimat, in der du dich wohl fühltest, war die lichte Höhe der Spekulation. Durch die philosophischen Systeme aller Zeiten warst du gewandert, hattest alle ihre Weiten durchmessen – aber bei alledem war dir die ewige, einfache Grundwahrheit des Evangeliums das feste Zentrum deiner Gedanken geblieben.
Wer dich in geistiger oder leiblicher Not um Rat ansprach, der ging nicht leer von dir hinweg; denn du warst nicht bloß ein gelehrter, du warst auch ein weiser Mann, und über deinen hohen Gedanken hattest du niemals den Blick für die Fragen des täglichen Lebens verloren.
So steht deine Gestalt vor meinen Augen, du Edler meines Geschlechts. Wenn ich von den Weisen der alten Zeit reden höre, dann tragen sie deine Züge. Segensvoll hast du auf alle gewirkt, die sich deinem Einflusse hingaben, auch auf mich. Ich bin dir dankbar bis an mein Lebensende.
Und