Dr. Brinkmeier Staffel 1 – Arztroman. Sissi Merz
zu lassen, betrachteten sie als Majestätsbeleidigung. »Ich glaube nicht, daß dieses Gespräch noch sinnvoll ist«, stellte er distanziert fest. »Und was die Patientin Brand betrifft, da werden Sie schon die richtige Therapie anwenden.«
»Einen Moment mal. Sie haben der Frau eine Salbe mischen lassen, die...«
»Das Rezept können Sie bei Frau Stadler in der Rosenapotheke einsehen. Ich gebe ihr Bescheid, daß ich damit einverstanden bin. Guten Tag.« Max legte auf und atmete tief durch.
»Der Haselbeck fürchtet die Konkurrenz«, stellte Christel Brenner fest, die einige Krankenakten herausgesucht hatte. »Das kannst als Kompliment nehmen, Doktor. Und jetzt schick ich dir den ersten Patienten rein.«
Dr. Brinkmeier mußte trotz allem schmunzeln und spürte, wie sein Ärger bereits verflog. Das war etwas, das er an der langjährigen Sprechstundenhilfe wirklich zu schätzen wußte; sie hatte im rechten Moment stets das rechte Wort parat...
Die Sprechstunde zog sich bis zum frühen Abend hin. Max Brinkmeier war beliebt bei den Menschen im Tal, sogar aus den Nachbargemeinden kamen sie, um sich behandeln zu lassen. In gewisser Weise konnte er vor diesem Hintergrund das Verhalten von Martin Haselbeck nun fast verstehen. Nachdem das Wartezimmer sich geleert hatte, verabschiedete Christel sich mit den Worten: »Draußen wartet noch jemand, ich schick sie gleich rein.«
Es war Anna Stadler, wie Max erfreut feststellte. Sie brachte einige homöophathische Präparate mit, die er angefordert hatte, und ließ ihn wissen: »Am Samstag mach ich eine Tour zur Wildenklamm-Alm. Hast net Lust, mitzukommen, Max?«
Er überlegte nicht lang, stimmte spontan zu. »Wenn das Wetter hält, können wir auch ein bisserl kraxeln. Allerdings muß ich dich warnen, ich bin nimmer ganz in Form. Es ist lang her, seit ich das letzte Mal in eine Wand eingestiegen bin.«
»Kein Problem. Ich bin seit meinem zwölften Lebensjahr im Alpenverein. Kannst dich ruhig mir anvertrauen.«
»Das tu ich doch glatt. Bleibst zum Abendessen?«
»Gern.« Sie lächelte ihm strahlend zu. »Dann können wir schon ein bisserl unsere Tour planen.«
*
Christa zuckte zusammen, als
der Vater die Küchentür aufriß. Schwankend stand er da, glotzte sie aus trüben Augen an. Das Madl wich zurück und murmelte mit flacher Stimme: »Das Essen ist gleich fertig, setz dich halt...«
»Essen, Schmarrn! Was kochst da wieder für einen Fraß? Der taugt höchstens für die Schweine!« Er stampfte auf sie zu, stieß sie brutal zur Seite. Dann riß er den Topf vom Herd und warf ihn zu Boden. Der Eintopf ergoß sich auf die abgeschabten Holzdielen. Christa schossen die Tränen in die Augen. Der Bauer brüllte: »Schweinefraß! Los, wisch das auf! Wozu sollen wir essen, hat ja doch alles keinen Sinn. Na los!« Er versetzte ihr eine saftige Watschen, dann griff er sich eine Flasche Enzian und polterte aus der Küche. Das Madl zitterte am ganzen Leib. Es konnte sich einfach nicht beruhigen. Tränen liefen Christa über die Wangen, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Ihr stummes Weinen sprach von übergroßer Verzweiflung. Mit lahmen Bewegungen holte sie einen Eimer und Putzlappen und begann, die verschüttete Suppe aufzuwischen. Sie spürte keinen Hunger mehr, sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Die Angst vor dem Vater, den der Alkohol so unberechenbar gemacht hatte, brachte sie fast um den Verstand. Erst am Vortag hatte er sie brutal geschlagen. Bei der Erinnerung daran schluchzte Christa auf. Hoffnungslosigkeit erfüllte sie, und sie fragte sich, ob es denn immer und immer so weitergehen sollte. In ihrem jungen Leben hatte sie nur Schlechtes erfahren. Oft schon hatte sie daran gedacht, fortzulaufen. Aber die Angst, daß der Vater sie finden würde, war immer zu stark gewesen. Sie fürchtete sich vor seinem Jähzorn, vor der Bestrafung, die unweigerlich folgen würde. Zugleich ahnte sie aber auch, daß es so auf Dauer nicht weitergehen konnte. Wenn sie es nicht schaffte, fortzugehen, bevor etwas noch Schlimmeres geschah als bisher...
Christas Gedankenkette riß, als die Küchentür aufflog. Der Bauer stürmte auf sie zu, packte sie am Arm und zerrte sie ohne ein Wort hinter sich her. Das Madl schrie in Panik auf, doch der Alte kümmerte sich nicht darum. Er stieß sie die Kellertreppe hinunter und lachte dabei hämisch. Christa fiel. Sie erhielt Schläge und Stöße am ganzen Körper. Als ihr Kopf gegen eine Stufe prallte, sah sie kurz Sterne. Halb bewußtlos blieb sie schließlich am Fuß der Kellertreppe liegen. Der Bauer lachte und schrie: »Da gehörst hin, du unnützes Ding!« Dann knallte er die Tür zu und schloß ab. Christa hatte das Gefühl, einen schlimmen Alptraum zu erleben. Sie war fast froh, als sich Dunkelheit über ihr Denken legte und sie von den Schrecken der Wirklichkeit befreite...
Christa wußte nicht, wie lange sie im Keller auf dem kalten Steinboden gelegen hatte. Irgendwann kam sie langsam wieder zu sich. Ihr Kopf tat schrecklich weh, ebenso der ganze Körper. Sie fror, und alles drehte sich vor ihren Augen. Am Hinterkopf spürte sie eine dicke Beule. Mühsam versuchte die Gepeinigte, auf die Beine zu kommen. Laute Geräusche von oben ließen sie zusammenzucken. Der Vater wütete im Haus herum. Christa biß sich auf die Lippen, bis sie Blut schmeckte. Die Panik drohte, sie zu überwältigen. Sie wimmerte leise und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Dann lauschte sie wieder, denn plötzlich blieb es droben still. Mühsam zog sie sich an der Kellertreppe nach oben. Stufe für Stufe stieg sie hinauf, obwohl sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. In ihrem Kopf hämmerte und rauschte das Blut, Stiche wie von Nadeln quälten sie. Und der Schwindel brachte zudem eine zähe Übelkeit mit sich. Christa mußte würgen. Sie hatte nichts im Magen, rang krampfhaft nach Luft. Endlich wurde sie ein bißchen ruhiger. Als sie die oberste Stufe erreichte, legte sich ihre kalte, zitternde Hand mit einer matten Bewegung auf die Klinke. Sie hatte gehört, wie der Vater die Tür abgeschlossen hatte. Doch sie wußte auch, daß das Schloß nicht mehr richtig funktioniert. Es war, wie das meiste in diesem Haus, verrottet, alt und verlottert.
Das geplagte Madl drückte mit der Schulter gegen die Tür, die nachgab. Christa betrat die Diele. Sie lauschte, aber es blieb still. Graues Abendlicht erfüllte bereits das Haus. Sie war also eine ganze Weile bewußtlos gewesen. Sehr vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Wenn sie es schaffte, in ihre Kammer zu kommen, ohne daß der Vater sie bemerkte, war sie relativ sicher. Denn der Riegel an ihrer Tür war noch stabil...
Christa hatte ihr Ziel beinahe erreicht, als sich eine Hand schwer auf ihre Schulter legte. Sie wirbelte herum, zu Tode erschrocken, denn sie hatte niemandem gehört. Der Bauer stand direkt vor ihr. In seinen Augen glitzerte etwas wie Wahnsinn. Sie roch die Alkoholfahne und hatte das Gefühl, diese Qual keine Sekunde länger aushalten zu können. Als der Burger sie an sich ziehen wollte, begann Christa plötzlich, sich zu wehren. Sie wußte selbst nicht, woher sie den Mut oder die Kraft dazu nahm. Aber sie kämpfte verbissen und schaffte es, sich zu befreien. Der betrunkene Mann war langsamer als sie, obwohl sie sich in sehr angeschlagenem Zustand befand. Sie wich zurück, wollte ihre Kammer betreten, doch das ließ der Alte nicht zu.
»Ich bring dich um, du Stück Malheur«, hörte sie ihn keuchen. Und dann sah sie das Messer in seiner Hand blitzen. Entsetzt stolperte Christa nach hinten. Sie schrie, ohne es zu bemerken. Der Alte lachte irre. Dann hob er den Arm und stieß zu. Die scharfe Klinge verfehlte das Madl nur um Zentimeter. Christa meinte, den Lufthauch zu spüren. Sie wich noch weiter zurück, warf sich auf dem Absatz herum und rannte um ihr Leben. Wie sie es schaffte, die Haustür aufzureißen und vor dem Mann, der zwar ihr Vater war, dem der Alkohol aber längst den Verstand geraubt hatte, zu entkommen, wußte sie später nicht mehr. Sie rannte und rannte. Irgendwann brach Christa zusammen. Es war dunkel und still um sie herum, und keine Gefahr drohte ihr mehr. Doch wohin sollte sie sich wenden, zu wem konnte sie gehen? Sie wußte es nicht. In dieser Nacht wußte Christa gar nichts mehr. Ihr Verstand hatte alles, was geschehen war, einfach ausradiert.
*
»Mei, ist das schön!« Max Brinkmeier ließ seinen Blick schweifen und lächelte dabei versonnen. Anna Stadler schaute den Mann an ihrer Seite an, wobei ihr Lächeln nicht anders ausfiel. Sie hatten den Samstag wie geplant mit einer Wandertour zur Wildenklamm-Alm verbracht und befanden sich nun auf dem Abstieg. Es war ein herrlicher Schönwettertag gewesen, obwohl der Herbst sich langsam aber sicher seinem Ende näherte. Die Sonne war bereits in den Westen gewandert, der Himmel klar,