Dr. Brinkmeier Staffel 1 – Arztroman. Sissi Merz
Wenn du net herausfinden kannst, wer das Madl ist, wer soll es dann können?«
*
Dr. Josef Brinkmeier verließ gerade sein Zimmer in der Kurklinik und wollte sich zu einem Spaziergang im Park aufmachen, als eine distinguierte Dame mittleren Alters ihn ansprach. Der alte Landarzt lächelte freundlich und nannte ihr gerne die Uhrzeit. Dann fragte er: »Sind Sie auch Gast hier herinnen? Verzeihen Sie, aber Sie schauen net aus wie jemand, der schon eine Kur braucht.«
Die hübsche Brünette lachte amüsiert. »So jung bin ich auch nimmer. Und eine Kur, die tut doch schließlich in jedem Alter gut, finden Sie nicht?«
»Na ja, eigentlich sollte ich es wissen, ich bin nämlich Arzt. Aber ich hab mich immer so ein bisserl davor gedrückt. Erst jetzt, wo mein Sohn die Praxis übernommen hat, fange ich auch an, mein Leben mehr zu genießen.«
»Ach, Sie haben schon einen so großen Sohn? Mei, das hätte ich net gedacht. Und Ihre Frau...«
»Ich bin verwitwet. Darf ich mich vorstellen? Josef Brinkmeier aus Wildenberg bei Berchtesgaden.«
»Aus dem Berchtesgadener Land? Mei, das ist nett! Ich bin die Valeska Kaiser aus Garmisch. Leider hab ich meinen Mann auch schon hergeben müssen. Tja, was bleibt einem da übrig, als zu reisen, um ein wengerl die Einsamkeit zu vergessen, net wahr?«
Josef neigte den Kopf. »Das stimmt schon, es ist schwer, jemanden herzugeben. Vor allem, wenn es vor der Zeit ist. Aber man wird halt net gefragt.«
Valeska lächelte ihm herzlich zu. »Und man sollte sich auch nicht nur grämen, sondern das Leben noch genießen. Ich wollte eben zum Frühstück gehen. Leisten Sie mir vielleicht eine Weile Gesellschaft? Ich würde mich freuen...«
Der Landarzt zögerte nicht. Wie oft kam es schon vor, daß er die Bekanntschaft einer so hübschen Dame machte? Er fühlte sich richtig geschmeichelt. Und er dankte Max einmal mehr im stillen dafür, daß dieser ihn quasi zu der Reise überredet hatte...
Während sein Vater es sich in Meran gutgehen ließ, hatte Max Brinkmeier viel um die Ohren. Es war Montagnachmittag, und er hatte schon die Sprechstunde hinter sich, ein Gespräch mit Anderl Stumpf geführt und saß nun mit seiner neuen Patientin zusammen in der guten Stube. Das Mädchen trug die viel zu großen Sachen von Christel Brenner, schaute aber trotzdem schon sehr viel besser aus. Die schmalen Wangen waren ein wenig gerötet, in den Augen lag nicht mehr jener Ausdruck von nachtschwarzer Panik, der dem jungen Landarzt an die Nieren gegangen war. Doch an ihrem psychischen Zustand hatte sich nichts geändert. Noch immer wußte sie nicht, woher sie kam oder wie sie hieß.
»Der Stumpf hat nix herausfinden können, noch net. Aber ich denke, über kurz oder lang wird eine Vermißtenanzeige kommen. Schließlich bist ja irgendwo daheim.« Sie hatte Max gebeten, du zu sagen, denn sie fühlte sich fürs Siezen zu jung. Und es sollte dem Mediziner auch zeigen, daß sie ihn vertraute.
»Und wenn net? Wenn mich keiner vermißt?«
»Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Dir ist was Schlimmes zugestoßen, das ist ganz klar. Aber das heißt ja nicht, daß es dir auch vorher schon schlechtgegangen ist.«
Das Mädchen strich sich eine Strähne seines Blondhaares hinters Ohr und seufzte leise. »Heut nacht hab ich von einem dunklen Zimmer geträumt. Es war kalt dort, ich hab sehr gefroren. Dann war ich im Wald. Und einer hat mich verfolgt. Ich hatte furchtbare Angst, wollte weg. Doch es ging net.«
»Hast den Verfolger sehen können? Hat er dich an was erinnert?« forschte Max vorsichtig nach.
Das Madl schüttelte den Kopf. »Er war wie ein Schatten, ohne Gesicht. Als ich aufgewacht bin, hatte ich furchtbare Angst.«
»Du mußt einfach Geduld haben, die Erinnerung kommt wieder. Aber jetzt solltest dich hinlegen. Die Gehirnerschütterung ist noch nicht wieder ganz abgeklungen. Du brauchst Ruhe.«
»Ich fühle mich aber ganz gut. Sagen Sie, Doktor Brinkmeier, wie lange soll ich denn noch hier im Doktorhaus bleiben? Ich kann Ihnen doch net ewig zur Last fallen.«
»Von ewig kann wohl kaum die Rede sein nach zwei Tagen. Du mußt erst wieder gesund werden, dann sehen wir weiter. Was stellst dir denn vor? Eh du dein Gedächtnis net wiedererlangt hast, wäre es freilich nicht gut, woanders hinzugehen.«
Das leuchtete ihr ein. »Ich hab gedacht, daß ich vielleicht hier im Dorf für Kost und Logis arbeiten könnte. Es gibt doch gewiß einen Bauern, der mich aufnehmen tät, oder?«
»Keine schlechte Idee. Wenn dir das lieber ist, höre ich mich mal um. Morgen mache ich Hausbesuche.« Max kam eine Idee. »Wennst dich gut genug fühlst, könntest mich begleiten. Vielleicht kommt dir irgendwo etwas bekannt vor. Was meinst?«
»Ja, das klingt vernünftig.«
Bevor Dr. Brinkmeier am nächsten Nachmittag zu seiner Runde aufbrach, untersuchte er seine Patientin noch einmal gründlich. Er wollte sichergehen, daß sie schon in der Verfassung war, ihn zu begleiten. Da sie weder unter Schwindel, noch unter Übelkeit oder Kopfschmerzen litt, war er beruhigt.
Das Madel genoß die Fahrt über Land. Manch ein bettlägeriger Patient lebte außerhalb des Dorfes auf vereinzelt stehenden Anwesen. Als die Landstraße eine Weile durch einen dunklen Föhrenwald führte, wurde Max’ Begleiterin ganz still. Und beim Auftauchen des Enzminger-Hofes, der auf einer leichten Anhöhe stand, stöhnte sie verhalten auf. Ihre schmalen Hände krallten sich in das Sitzpolster, sie verkrampfte sich völlig. Max bemerkte es und fragte: »Bist schon mal hier gewesen? Kannst dich vielleicht an etwas erinnern?«
Sie starrte mit weit geöffneten Augen auf den Hof, schien in Gedanken ganz woanders zu sein. Als Max sie leicht an der Schulter berührte, stöhnte sie gequält auf und flüsterte: »Ich weiß es net. Irgendwas kommt mir da bekannt vor, aber ich kann mich einfach net entsinnen, es geht nicht...«
»Schon gut. Zwing dich nicht, das bringt nix. Warte bitte hier im Auto auf mich, ich bin bald wieder zurück.«
Sie nickte und senkte den Blick. »Ach, ich wünschte, ich wüßte endlich wieder Bescheid über mich. Das ist so bedrückend...«
Dr. Brinkmeier kümmerte sich um den Altbauern, der vor einigen Monaten einen Schlaganfall erlitten hatte und seither das Bett hüten mußte. Nachdem er seinen Patienten untersucht und versorgt hatte, redete er noch kurz mit dessen Sohn und Schwiegertochter. Er erzählte ihnen von dem Mädchen ohne Namen und bat den Bauern, einen Blick aus dem Fenster zu werfen. »Vielleicht habt ihr das Madl schon mal irgendwo gesehen. Der kleinste Hinweis wäre wichtig. Wir kommen nämlich gar net weiter. Sie kann sich nicht entsinnen. Und der Stumpf hat bislang auch nix herausfinden können. Es ist alles ein großes Rätsel.«
Der Enzminger-Bauer schaute genau hin, schüttelte dann aber den Kopf. »Na, die Dirn kenn ich net. Bist du ihr vielleicht schon mal irgendwo begegnet, Ursel? Was meinst?«
Leider konnte sich auch die Bäuerin nicht erinnern, das Mädchen schon einmal gesehen zu haben. Max bedankte sich, bat die Bauersleute aber gleichzeitig, sich umzuhören, wenn sie die Möglichkeit dazu hatten. Sie versprachen es.
Als der Landarzt wieder in seinen Wagen stieg, hatte seine Begleiterin eine Straßenkarte aus dem Handschuhfach genommen und studierte diese eingehend. Max ließ sie gewähren. Er fragte erst nach einer Weile, ob ihr ein Name auf der Karte bekannt vorkomme, doch auch dieses Mal erntete er nur Kopfschütteln. Die Herkunft des Mädchens ohne Namen war und blieb ein Rätsel.
»Wir fahren jetzt noch bei meinem Bruder vorbei. Ein Knecht hat sich da verletzt. Danach sind wir fertig.«
Sie nickte abwesend. Lukas war schlechter Laune, als sein Bruder aufkreuzte. Er gab sich wieder so zugeknöpft und abweisend wie immer und brummte etwas Unverständliches, als Max ihn wissen ließ, daß sein Knecht am nächsten Tag wieder arbeiten konnte. »Was ist denn los? Stimmt was net?« fragte er.
»Was soll schon net stimmen? Ich hab gedacht, der Vater ruft mal an und meldet sich. Aber ich hab mich wohl selbst überschätzt. Gewiß hat er schon mit dir telefoniert, gelt?«
Der