Griechische Mythologie. Ludwig Preller
für den religiösen Glauben und für die Sagenbildung. Und in diesen vielverzweigten und nach bestimmten Naturbedingungen immer von neuem gespaltenen und eng begrenzten Landschaften welche Menge verschiedener Stämme, jeder mit seinen besonderen Eigenthümlichkeiten der Anschauung, der Gemüthsbildung, der Erinnerung.
Dazu kamen zweitens viele und frühe Berührungen mit dem Auslande, welche man häufig in Abrede gestellt hat, die aber von der Sage selbst und in den ältesten uns bekannten Gedichten so bestimmt angedeutet werden und sich überdies, wenn man die ganze Natur und Lage des griechischen Landes ins Auge faßt, so von selbst verstehen, daß länger kein Zweifel daran sein sollte. Ueberall mußte das Meer, mußten die vielen Inseln die Völker, welche vor den Griechen in diesen Gewässern die herrschenden waren, an die griechischen Küsten führen, und da diese Völker den Griechen damals an Bildung und Unternehmungsgeist überlegen waren, so werden sie sich nicht allein unter ihnen niedergelassen, sondern auch mit ihrem Handel und mit ihren Waaren die Elemente ihrer Bildung und ihres Götterdienstes ihnen mitgetheilt haben. Vorzüglich ist dabei auf die Volksstämme zu achten, welche wir in dieser Zeit über die Inseln und Küsten sowohl von Griechenland als von Kleinasien, ja theilweise bis hinüber nach Italien und Sicilien ausgebreitet finden, die Leleger und Karer, die Tyrrhener und unter welchen Namen sie sonst auftreten. Es leidet keinen Zweifel daß diese Völker zugleich mit den Culturstaaten des Orients in lebhaftem Verkehre standen und viele Bildungselemente von ihnen angenommen hatten, namentlich mit den Phöniciern und den ihnen verwandten canaanitischen Stämmen, welche durch ihren Betrieb zur See an alle Küsten und Inseln des Mittelmeeres geführt wurden und sich mit jenen Stämmen häufig zu gemeinschaftlichen Unternehmungen vereinigten. Dazu kommt daß in manchen Gegenden von Griechenland und gewöhnlich gerade dort, wo die Cultur und die Sage am frühesten thätig ist, an den Küsten des Peloponnes, unter den Inseln vorzüglich auf Kreta, in den nördlicheren Theilen in Theben, so manche eigentümliche Sagen und wahrscheinlich ausländische Culte auftauchen; man achte besonders auf den Cult der Aphrodite und auf die orientalischen Elemente der Heraklessage. Nur erscheinen alle diese Niederlassungen in der späteren Zeit so ganz wie weggewaschen von der Strömung des wahren hellenischen Volksthums, alle Elemente der ausländischen Gottesdienste und Sagenbildung so ganz in den griechischen Volksgeist aufgelöst und durch denselben umgebildet, daß diese Einwirkungen jedenfalls nur periodisch vorübergehende gewesen sein können. Gleichsam die ersten Anregungen welche die griechische Nation, so lange sie noch mehr in der Passivität verharrte, von außen her empfangen hat, wie jedes Volk und jedes Individuum, so begabt und eigentümlich wir es uns denken mögen, doch solchen Einwirkungen ausgesetzt bleibt, ja ohne dieselben sich niemals nach seiner Eigenthümlichkeit wird entwickeln können.
Endlich die vielen Kriege und Wanderungen und Ansiedelungen übers Meer, wie sich diese gleichfalls in der Sage deutlich ausdrücken und großentheils auch schon durch die Geschichte bekannt sind. Denn auf jene Zeiten der Passivität, in denen die Griechen als ackerbauende oder waldbewohnende Pelasger und in patriarchalischen Zuständen erscheinen, folgte eine Periode der Erregung, welche zunächst von den kräftigeren und von dem Auslande weniger berührten Gebirgsstämmen des Nordens ausging, sich aber allmälig der ganzen Nation von einer Landschaft zur andern mittheilte, endlich über die Grenzen und Küsten des griechischen Mutterlandes hinausgriff, so daß zuletzt dieser ganze Complex von Ländern dadurch vollkommen umgestaltet wurde: wie in späteren Zeiten der europäische Norden durch gleichartige Bewegungen und Wanderungen mehr als einmal erneuert wurde. Die Folge dieser Bewegungen war aber nicht blos eine Unterwerfung der früheren Bewohner durch die Eroberer, sondern auch eine Mischung der verschiedenen Bildungsstufen und Bildungselemente, welche Mischungen von der geschichtlichen Ueberlieferung zwar weniger als jene Eroberungen hervorgehoben werden, in culturgeschichtlicher Hinsicht aber noch wichtiger als diese sind. So sind damals namentlich auch die Culte und Sagen der verschiedenen Völker und Stämme gründlich durch einander geschüttet und auf neue Formen und Bedingungen der Natur und noch mehr der ethischen Lebensauffassung übertragen worden. Z. B. die Phönicier verschwanden nun allmälig aus den griechischen Gewässern und die Karer und Leleger in den Küstenländern und auf den Inseln wurden bis hinüber nach Asien von den Griechen unterworfen, aber es blieb die Aphrodite auf Kythera, auf Akrokorinth, in Theben und in anderen Gegenden, es blieben die Dioskuren und andere Culte, deren Ursprung wahrscheinlich lelegisch ist, und es spannen sich ihre mythologischen Kreise unter den neuen Stämmen und Staaten weiter fort, in eigenthümlicher Umbildung der darin gegebenen religiösen und symbolischen Motive, die nun meistens einseitig in ethischer und praktischer Bedeutung aufgefaßt wurden. Auch die alten pelasgischen Naturgötter der centralen Landschaften wurden weniger unterdrückt als im Sinne des hellenischen Volksthums umgebildet, indem sie in der Gestalt von ethisch bedeutenden Göttern oder in der von Heroen wieder auftauchten. Die allgemeine Folge aber von allen diesen Bewegungen mußte diese sein, daß sowohl das System der griechischen Götter als das der heroischen Sagen immer verwickelter wurde.
Wirkten also diese und andere Umstände dahin der griechischen Mythologie immer mehr den Character der Mannichfaltigkeit zu verleihen, so daß der Sinn zuletzt in der Fülle des mythischen Stoffes zu ersticken drohte, so fehlte es andererseits nicht an solchen Umständen, Thätigkeiten und Mittelpunkten der Sagenbildung, welche diesem Triebe entgegenwirkten, die wuchernde Menge von Bildern und bildlichen Gestalten schlichteten und unter einander ausglichen und bei aller Differenz der localen Culte und Sagen doch immer wieder eine nationale Einheit behaupteten oder wiederherstellten.
Namentlich waren solche Mittelpunkte der Sagenbildung die größeren Staaten, im Peloponnes besonders der von Argos, welcher damals über einen großen Theil der Halbinsel dominirte und zugleich weitreichende Verbindungen zur See hatte, unter den alten mythischen Dynastieen der Persiden zu Tirynth, der Pelopiden zu Mycen, welche durch höchst alterthümliche Baudenkmäler an Ort und Stelle noch jetzt von sich zeugen. Ferner das alte Theben und der Staat der Kadmeionen in Boeotien, von dessen streitbarer Macht und großer Herrlichkeit die Thebais sammt vielen anderen Sagen Zeugniß ablegt. Desgleichen die weit verbreiteten Minyer mit den alten Mittelpunkten ihrer Macht, Orchomenos in Boeotien und Jolkos am pagasetischen Meerbusen, wo die Argonauten ihre Fahrt beginnen, das nicht weniger weit verzweigte Geschlecht der Aeaciden, an die sich die ältesten Erinnerungen des Hellenenstammes knüpften, unter den Inseln das Minoische Kreta, ein alter Mittelpunkt der lelegischen und karischen Bevölkerung, in Asien das trojanische Reich, welches in einem ziemlich weiten Umfange über die benachbarten Völker und Landschaften in Asien und Europa geherrscht zu haben scheint. Lauter alte Mittelpunkte des Götterdienstes und der heroischen Sage, welche das Andenken dieser Staaten und Völker allerdings durch viele mythische Ueberlieferungen entstellt haben, von denen man aber dennoch behaupten darf daß sie in jener frühen Zeit, wo sich die meisten Sagen gebildet haben, durch Macht, Bildung und Reichthum vor allen übrigen hervorragten, so daß sie auch für die Sagenbildung der minder bedeutenden Landschaften und Staaten gewisse centrale Beziehungen und maßgebende Bedingungen aufgestellt haben werden.
Noch wichtiger sind in dieser Hinsicht die heiligen Stätten von allgemeiner nationaler Bedeutung, in der älteren Zeit besonders Dodona und der Olympos mit den umliegenden Bergen und Thälern, beide in den nördlicheren Gegenden Griechenlands, weil die hellenische Bevölkerung damals noch meist in diesen Gegenden ihre Stammsitze hatte. Sowohl Dodona als der Olympos sind in der Geschichte des Zeuscultus und weil dieser die centralisirende Mitte der gesammten griechischen Götterwelt ist, auch in der des olympischen Göttersystems mit allen sich anschließenden Sagen von der größten Bedeutung, vorzüglich der Olympos, wo sich einer alten Cultusstätte dieser Götter ein eben so alter Dienst der Musen anschloß, in welchem sich die mythischen Gesänge und Traditionen z. B. von der Titanomachie, von den Zeugungen der Götter, von den Ehen und Kindern des Zeus, von dem olympischen Götterstaate längere Zeit in bestimmten Sängerschulen fortgepflanzt zu haben scheinen, bis sie sich von dort weiter verbreiteten. Weiter sind in dem Apollinischen Dienste Delos und Delphi, in dem der Athena Athen, in dem der Demeter Eleusis, in dem peloponnesischen Zeusdienste das arkadische Lykaeon und Olympia, für die Inseln und für Asien das idaeische Gebirge von Kreta und das von Troja solche alte Mittelpunkte gewesen, in denen bestimmte Systeme der Götterwelt mit den entsprechenden Legenden und Gebräuchen zuerst selbständig ausgebildet, dann über einen weiten Kreis von Amphiktyonen oder in Filialculten ausgebreitet wurden. Nachmals ist Athen, weniger durch das Alterthum seiner Sagen als durch die sinnige Einsicht womit seine Götterdienste