Griechische Mythologie. Ludwig Preller
τιμάς τε καὶ τέχνας διελόντες καὶ εἴδεα αὐτῶν σημήναντες.
5. Die übrige Poesie und die bildende Kunst.
Auf diese Weise war der Mythus zu dem geworden was die Alten gewöhnlich darunter verstehn: für die Nation eine ideale Geschichte ihrer Vorzeit, welche von den Anfängen der Dinge bis zu der Rückkehr der Herakliden als ununterbrochenes Ganze fortlief, für die Dichter und Künstler der edelste Stoff für alle ihre Schöpfungen und Uebungen, so weit sie einen historischen Inhalt hatten. Unter den Dichtern ist dabei vorzüglich auf die Lyriker und Dramatiker zu achten3. Bei jenen war das vorherrschende Motiv das subjective Element der Empfindung und des reflectirenden Unheils, indem diese Dichter häufig die reiferen Vorstellungen ihrer Zeit mit den Bildern der älteren Tradition auszugleichen suchten, in welcher Beziehung Stesichoros Epoche machte, indem er einen beträchtlichen Theil der Heldensage in chorischen Compositionen zu großen lebensvollen Bildern überarbeitet hatte. Für uns sind die Epinikien Pindars die wichtigste Quelle dieser lyrischen Mythologie, von besonderem Interesse auch deshalb, weil man nirgends so deutlich wie aus diesen Gedichten sieht wie eng alle diese Sagen und Bilder mit dem wirklichen Nationalleben der Griechen verflochten, wie tief sie in alle Verhältnisse eingedrungen, wie gegenwärtig sie allen Kreisen und Ständen waren. Was das Drama betrifft so war dieses ja aus dem bacchischen Cultus hervorgegangen, daher es sich zunächst in diesem Sagenkreise bewegte. Aber sehr bald hat sich doch auch diese Gattung über die ganze Breite der mythischen Tradition ausgedehnt, so daß der gesammte Sagenvorrath, wie ihn das Epos oder die immer noch fortfließende Quelle der örtlichen Sage überlieferte, nun auch von diesen Dichtern aufs neue überarbeitet wurde. In religiöser und mythologischer Hinsicht der wichtigste ist unter ihnen Aeschylos, sowohl wegen seines tief frommen, noch ganz von der idealen Wahrheit der Mythen ergriffenen Gemüthes als wegen der trilogischen Composition seiner Stücke, mittelst welcher er größere mythologische Complexe in drei Tragödien und einem angehängten Satyrdrama in einer fortlaufenden dramatischen Darstellung zu umspannen pflegte. Dahingegen Sophokles sich besonders in die tragischen Momente der Heldensage des epischen Cyclus zu vertiefen und daraus die vollendetsten Lebens- und Characterbilder menschlicher Leidenschaft und menschlicher Hinfälligkeit zu schaffen liebte, während Euripides bei aller Größe seines außerordentlichen Talentes doch in mythologischer Hinsicht nicht mehr für eine reine Quelle gelten kann, da er die überlieferten Stoffe durch kühne Erfindungen und Deutungen im Geiste seiner Zeit nicht selten entstellt hat; in welcher Hinsicht ihm die späteren Dichter nur zu bereitwillig folgten. Neben den Tragikern haben sich dann auch die Komiker, besonders Epicharm und die Dichter der mittleren attischen Komödie, viel mit mythologischen Stoffen beschäftigt, meist in travestirender und parodirender Behandlung der dazu einladenden Götter- und Heldengeschichte, wie sich davon manche Spuren in der gewöhnlichen Tradition erhalten haben. Endlich müssen neben den Schöpfungen der Poesie auch alle Monumente der bildenden Kunst für eine außerordentlich wichtige Quelle des mythologischen Studiums gelten, sowohl wegen des außerordentlichen Reichthums der von ihnen überlieferten Bilderwelt als wegen der eigenthümlichen Bedingungen und Aufgaben, unter denen sie den Mythus auffaßten und ausdrückten. Was jenen betrifft so braucht man sich nur zu erinnern daß die Alten nicht allein ihre Tempel und öffentlichen Gebäude und zwar von außen und von innen mit Bildern und Gruppen aus der Götter- und Heroensage zu verzieren pflegten, sondern auch alle sonstigen Denkmäler des Cultus und der Geschichte, sammt den Gräbern und Sarkophagen, den Utensilien des täglichen Lebens, den Gemmen Münzen und Schmucksachen. Und diese Fülle von bildlichen Darstellungen der Mythologie ist vollends eine ganz überschwengliche geworden, seitdem mit den gemalten Vasen, wie sie sich in Italien und in anderen Gegenden so zahlreich gefunden haben und noch fortgesetzt finden, eine Klasse von Denkmälern aufgetaucht ist, deren Bilder hinsichtlich der mythologischen Thatsachen mannichfaltiger sind als alle übrigen und dabei über einen großen, ja den wichtigsten Zeitraum des antiken Kunst- und Religionslebens nach größtentheils rein griechischen Productionen einen Ueberblick gewähren. Das Verhältniß aber der bildlichen Kunstübung zum Mythus muß man sich nicht etwa so denken, als ob die Künstler wie unsere Kenntniß der Mythen lediglich oder hauptsächlich von den Dichtern abgehangen hätten. Vielmehr brachte ihre Stellung zu dem unmittelbaren Leben und seinen sehr verschiedenen Aufgaben, besonders zu dem örtlichen Cultus es von selbst mit sich daß ihnen die religiösen und mythologischen Traditionen auch aus manchen entlegneren Quellen zuflossen, und die sinnbildliche Natur ihrer Schöpfungen vergönnte ihnen so Manches auszudrücken, was sonst verloren gegangen wäre. Auch ist die poetische Ueberlieferung älterer Zeit so lückenhaft, daß jede Art von Ergänzung sehr willkommen ist, und wirklich verdanken wir namentlich den älteren Vasenbildern manchen Zug aus der griechischen Götterwelt und der epischen Sage, der sonst entweder ganz unbekannt geblieben wäre oder doch nicht in seiner vollen Bedeutung erfaßt werden könnte. Ueberall aber hing bei den Griechen das sinnliche und plastische Bild ihrer Götter und Heroen, wie es die alte Symbolik des Cultus gedacht, die epischen Dichter weiter ausgeführt, die Künstler der besten Zeit in idealen Gestalten fixirt hatten, mit ihrer mythischen Geschichte und deren religiöser Bedeutung so eng zusammen, daß eine Vervollständigung dieser Geschichte durch die entsprechenden Bilder der Kunstwelt in keiner Mythologie fehlen darf.
Fußnote
3 Die Fragmente der Lyriker sind citirt nach der Sammlung von Bergk, poetae lyrici gr. Lips. 1853 ed. 2, die der Tragiker nach der von Nauck, trag. gr. fragm. Lips. 1856, die übrigen Stellen der Dramatiker nach den Poet. Scen. Gr. ed. W. Dindorf, Lips. 1830.
6. Die übrige Litteratur.
Die übrige Litteratur verhielt sich zu dem Mythus auf sehr verschiedene Weise, je nach den besonderen Zielen jeder Gattung, aber zu thun hatten alle mit ihm und bis auf die streng wissenschaftliche konnte ihn nicht leicht eine umgehen, so wichtig war er für das gesammte nationale Leben, sowohl als Vehikel der meisten religiösen Vorstellungen als weil er durch die Poesie und Kunst immer mehr zu einer überall gegenwärtigen Thatsache der Bildung und des Geschmacks geworden war. Die Dichter sangen und sammelten und überarbeiteten diese alten Fabeln immer von neuem, bis an die letzten Grenzen des Heidenthums und der alten Welt, wobei aus dem hellenistischen und römischen Zeitalter besonders solche Gedichte zu beachten sind, in denen entweder neue mythologische Stoffe oder neue Gesichtspunkte ihrer Ueberarbeitung zuerst zur Anwendung kamen, z. B. die Dichtung von den Metamorphosen, von den mythologischen Liebeshändeln, von den Sternbildern u. s. w. Die Geographen und Historiker erzählten, sichteten und deuteten, bald nach genealogischen bald nach chronologischen oder chorographischen Rücksichten, oder sie bemühten sich aus litterärischen und örtlichen Quellen die mythologische Tradition so vollständig als möglich zu sammeln, in welcher Beziehung aus älterer Zeit Pherekydes und Hellanikos, aus späterer die Atthiden-Schreiber und der große Haufe der Mythographen und Alterthümler zu bemerken sind. Unter den Geographen sind besonders Strabo und Pausanias wichtig, beide für die örtliche Kenntniß von Griechenland und der gräcisirten Welt, Pausanias dadurch daß er einen großen Theil des griechischen Mutterlandes unter den Antoninen bereiste, indem er die Merkwürdigkeiten der Religion und Kunst von Ort zu Ort beschrieb und die örtlichen Sagen und Legenden sammelte. Endlich die Philosophen verhielten sich zu den Mythen entweder abweisend und skeptisch, oder sie benutzten sie als bildlichen und biegsamen Stoff um durch Deutung und allegorische Erklärung ihre eigenen Meinungen damit zu unterstützen, wie die Pythagoreer, Plato und einige Akademiker, besonders die Stoiker, zuletzt die Neuplatoniker. Noch andere Philosophen oder Theologen, und diese sind für die Mythologie und noch mehr für die Religionsgeschichte von vorzüglicher Wichtigkeit, suchten auch wohl auf das religiöse Leben unmittelbar einzuwirken, indem sie den Gottesdienst in ihrem Sinne umzugestalten oder ausländische Culte einzuführen