Griechische Mythologie. Ludwig Preller
1. Weltanfänge.
Verschiedene Ansätze, unter denen die Hesiodische Dichtung vom Chaos nicht die älteste ist. Vielmehr nennt Homer
a) den Okeanos als den Anfang aller Dinge d. i. das Urflüssige, s. Ilias 14, 201. 302 ϑεῶν γένεσις, 246 ὅσπερ γένεσις πάντεσσι τέτυκται: so daß Thales im Grunde nur die älteste Ansicht der Griechen ausgesprochen hätte, wie auch Aristoteles Met. A. 3 dafür hält. Auch beweisen die örtlichen Sagen von der Ogygischen Fluth, wie sie besonders in Boeotien und Attika verbreitet waren, daß dieser Glaube im griechischen Mutterlande heimisch war; denn Ὠγύγης der Uralte ist nur eine andere Form desselben Wortes Ὠκεανός und derselben Vorstellung12. Ist nun der Okeanos zuerst dagewesen, so muß auch die Erde, muß selbst der Himmel aus ihm entsprungen sein, doch giebt die gewöhnliche Mythologie darüber keine bestimmtere Andeutung. Sie kennt den Okeanos nur als die allgemeine Weltgrenze, als den uralten, Erde und Meer rings umfassenden Grenzstrom, der mit tiefer und gewaltiger Fluth wie eine Schlange in sich selbst zurückfließt und dadurch die Grenze aller sichtbaren Dinge, bildet, während er selbst unbegrenzt ist13: ein Gebiet des Wunders und aller Geheimnisse des Ursprungs, seine Küsten und Inseln die Heimath der Götter und seliger Menschen und Völker. Dort waltet auch Okeanos selbst als altväterischer, aber milder und allfreundlicher Ur- und Wasser-Greis, der in seinem Jenseits wie außer der Welt lebt und bei allen Weltkämpfen unbetheiligt bleibt, er und seine ehrwürdige Gattin Τηϑύς (Il. 14, 202) d. i. die Nährende, die Urältermutter, welche weiblich dieselbe Natur des Wassers ausdrückt die sich männlich im Okeanos darstellt. Hera die Himmelskönigin ist bei diesem Paare aufgewachsen und zu ihnen geflüchtet als die ganze Götterwelt im wilden Titanenkampfe entbrannt war, und sie möchte auch später zu ihnen, da die beiden Alten in beständigem Zank und Unfrieden leben und nicht mehr bei einander schlafen wollen (Il. 14, 205 ff., 303 ff.): wahrscheinlich der Nachklang einer alten Dichtung die das Aufhören der Zeugungen dieses ältesten Götterpaares durch Verfeindung zu erklären suchte, wie derselbe Gedanke bei Uranos und Kronos durch Entmannung und durch Gefangenschaft ausgedrückt wurde.
Einige Andeutungen über die elementare Thätigkeit des Okeanos giebt sein Geschlecht bei Hesiod th. 337 ff. Von ihm stammen nehmlich alle Flüsse Bäche und Quellen, nach der Ilias 21, 196 auch das Meer: also alles fließende und strömende Wasser, dessen zeugerische und nährende Kraft die Griechen in so vielen Bildern und Sagen ausdrückten. Zunächst dadurch daß sie alle Flüsse und Quellen für κουροτρόφοι hielten (Hesiod th. 347 mit d. Schol.), was sich weiter in vielen örtlichen Sagen von zeugenden Flußgöttern und von kinderliebenden Nymphen ausprägte, von alten Fluthen, denen ein neues Geschlecht entsprungen, von ersten Menschen und Stammvätern, welche aus dem See oder dem Flusse der Landschaft geboren worden. Ja beim Nil, der den Aegyptern war was den Griechen Okeanos, wollte man es sogar deutlich beobachten können wie das organische Leben sich durch ihn erzeuge (Aesch. Suppl. 823, Ovid. M. 1, 422, Diod. 1, 10). Daher auch die Flußgötter so häufig als Stammväter der mythischen Geschlechter genannt wurden, z. B. der Inachos, der Asopos, der Xanthos u. A., während die Quellnymphen selbst die kindlichen Jahre der Götter nähren und pflegen, wie in der Sage von Kreta und Naxos, von Arkadien und Messenien die des Zeus, in anderen Sagen die des Dionysos. In kosmogonischer Hinsicht aber sind unter allen Söhnen und Töchtern des Okeanos bei weitem die merkwürdigsten Styx und Acheloos, die älteste Tochter und der älteste Sohn des alten Ursprungswassers, jene ein Bild des primitiven Grauns und Dunkels, aus welchem die ersten Strömungen des Lebens entsprangen, Acheloos ein Bild des organischen Lebens, wie es sich aus dem Okeanos in tausend Flüssen und Bächen über die Erde ausbreitet. Von der Styx dichtete man daß sie fern im äußersten Westen, also da wo Nacht und Sonnenuntergang ist, fern von allen Göttern in einem prangenden Hause, das mit silbernen Säulen rings zum Himmel emporrage, unter hohen Felsen wohne. Selten nur komme Iris dahin um von dem heiligen Wasser zu holen, wann Streit unter den Göttern ausgebrochen und nur durch Eidschwur zu lösen ist, und wehe dem Gotte der bei diesem Wasser falsch schwört (Hesiod th. 782 ff.). Die silbernen Säulen des Hauses sind die aus jäher Höhe herabfallenden Sprudel des Quells, an dessen unterem Falle, wo er sich zur Strömung sammelt, die Göttin selbst wohnend gedacht wurde; das Wasser aber fließt von dort abwärts unter die Erde in die tiefe tiefe Nacht, das äußerste Graun selbst für die Götter und eben deshalb ihr Eidschwur14. Wie finster und schrecklich man sich jene Quelle der Styx und ihre Wohnung dachte, das lehrt am besten deren Uebertragung auf die bekannte Schlucht bei Nonakris in der Gegend von Pheneos, wo man in historischer Zeit die Styx zu suchen pflegte15, da ihre mythische und kosmogonische Bedeutung sie vielmehr in jene der Unterwelt benachbarten Gegenden der Nacht und des Nebels entrückt, wo Hesiod sie beschreibt und wo er auch noch andre Quellen des Okeanos kennt16. Hier also wäre der Ursprung des wunderbaren Stromes, der ersten Ursache von allen Dingen zu suchen, und zwar floß nach Hesiod ein zehnter Theil der ganzen Fluth als Styx durch die Finsterniß in die Unterwelt, wo der Kokytos ein Theil von ihr ist17, während die übrigen neun Theile in silbernen Wirbeln um Erde und Meer fließen. Aber auch über die Erde verbreiten sich die Strömungen des Okeanos, denn alle Flüsse und Quellen stammen von ihm, unter ihnen Acheloos der Fluß schlechthin und in gewisser Hinsicht mit dem Okeanos gleichbedeutend, nehmlich sofern dieser die Erde nicht allein begrenzt, sondern auch als Quelle alles süßen Wassers die wahre Ursache ihrer Befruchtung ist. Die Ilias 21, 194 nennt den Acheloos den mächtigen (κρείων) und neben dem Okeanos, welcher so wenig wie jener dem Zeus widerstehen könne; Akusilaos nannte ihn den ältesten unter den dreimal tausend Söhnen des Okeanos, welcher von allen am meisten verehrt worden18. Ohne Zweifel hat zu dieser Verherrlichung am meisten der aetolische Acheloos und der Dienst des Zeus von Dodona beigetragen. Dieser Fluß war nehmlich der größte unter allen griechischen, und da seine Quellen die fruchtbare Landschaft bei Dodona wässerten, so scheint eben deshalb dieses Orakel die Verehrung des Acheloos überall empfohlen und dadurch zu der Verbreitung derselben wesentlich beigetragen zu haben19 ; obwohl dieses allein wohl nicht ausreicht um den merkwürdigen Gebrauch des Namens Acheloos und die außerordentlich weite Verbreitung seines Cultus zu erklären. Man sagte nehmlich allgemein sowohl im religiösen als im poetischen Sprachgebrauch Acheloos für Fluß und Flußwasser schlechthin, wie es bei vielen religiösen Handlungen und bei den meisten örtlichen Gottesdiensten zu Reinigungen und Heiligungen gebraucht wurde; der Cultus aber des Acheloos als des ältesten und angesehensten Flußgottes war nicht allein über Griechenland, sondern auch über dessen Colonien verbreitet, namentlich zu Rhodos und in Italien und Sicilien, wo man ihn wie in Akarnanien mit Spielen feierte. Also mag auch der Name ursprünglich eine allgemeinere Bedeutung gehabt haben, zumal da derselbe in verschiedenen Formen in Kleinasien und Griechenland für verschiedene Flüsse und Bäche im Gebrauch war20. Dasselbe gilt von der Amalthea, deren Wunderhorn, ein Sinnbild der überquellenden Fülle und aller guten Gaben, nach der aetolischen Heraklessage aus dem Besitze des Acheloos in den des Herakles überging, aber auch ein Attribut des Dionysos, des Pluton und andrer Götter des materiellen Segens war. Die gewöhnliche griechische Sage kannte Amalthea als Nymphe, die kretische Zeussage als nährende Ziege, und demgemäß wurde auch der sprichwörtliche Gebrauch des Ausdrucks Horn der Amalthea verschieden erklärt21. In Wahrheit aber bedeutet auch dieser Name die nährende und befruchtende Kraft des Wassers; es ist die Quelle schlechthin als nährende Mutter22, wie der latinische Glaube vor allen übrigen