Griechische Mythologie. Ludwig Preller
Sinn bis jetzt noch nicht auf befriedigende Weise erklärt ist39. Homer kennt sowohl den Namen als den Gattungsbegriff der Titanen40, hebt aber gewöhnlich nur die beiden hervor welche sich in dem Kampfe gegen Zeus am meisten hervorgethan hatten, also auch bei der Strafe am meisten getroffen wurden, Japetos und Kronos41. Hesiod dagegen giebt uns eine ausgebildete Gruppe von zwölf Titanen, sechs männlichen und sechs weiblichen, deren Namen aber keineswegs alt, sondern entweder älteren Cultusnamen oder Cultusanrufungen der nationalen Götter, welche die Theogonie von den Titanen ableitet, entlehnt oder auch wohl frei erfunden sind. So kann auch ihre Zwölfzahl keine andre Bedeutung haben als die der zwölf Olympischen Götter d. h. die eines mythologischen Gruppenbegriffs, welcher das Vorhandensein einer größeren Anzahl keineswegs ausschließt.
Es sind größtentheils Paare, in denen also eine und dieselbe Kraft wie gewöhnlich in zwei Geschlechtern, dem männlichen und dem weiblichen auftritt. Das erste sind die uns schon bekannten Gottheiten Okeanos und Tethys, welche Hesiod in der Consequenz seines Systems, nach welchem Himmel und Erde das erste zeugende Paar sind, zu Kindern von diesen macht, was in der ältesten Dichtung unmöglich der Fall gewesen sein kann42. Dann folgen drei Paare, welche mehr oder weniger deutlich die feurigen Erscheinungen und schwingenden Bewegungen des Himmels und die ungeheure Gewalt des Meeres ausdrücken: Ὑπερίων und Θεία, der Hochwandelnde und die Prachtvolle, die Eltern von Sonne Mond und Frühlicht43, Κρεῖος und Εὐρυβίη, zwei Namen welche gewaltige Macht und Herrschaft ausdrücken, wahrscheinlich des Meeres, da Eurybie eine Tochter des Pontos genannt wird: so daß also hier wie oft in der griechischen Mythologie die Mächte und Erscheinungen des gestirnten Himmels dem Meere entspringen, denn die Kinder dieses Paares sind Astraeos Pallas und Perses44, mit ihren Geschlechtern meist himmlische Lichtwesen. Endlich Κοῖος und Φοίβη, die Eltern der Leto und Asteria, offenbar auch Bilder des strahlenden Lichtes der himmlischen Erscheinungen45. Dann aber folgt ein Wesen von ganz anderer Bedeutung, Ἰαπετός, der von der Okeanine Klymene Vater des Menoetios, des Atlas, des Prometheus und Epimetheus ist, in dem Zusammenhange des Hesiodischen Gedichts lauter Personificationen von Zuständen und Eigenschaften der endlichen und menschlichen Natur, stürmische Leidenschaft46, ausduldende Kraft und die Intelligenz in dem characteristischen Gegensatze von Vorwitz und Afterwitz. Ferner Κρόνος und Ῥέα d. i. Himmel und Erde in einem zweiten Auftritt, die Eltern der drei Kronidenbrüder die nach ihnen herrschen. Endlich Θέμις und Μνημοσύνη, wieder zwei wohlthätige Göttinnen, welche sich dem Zeus willig fügen und von ihm sogar Kinder gebären, Themis die Horen, Mnemosyne die Musen. – Also entweder bedeutete der Name und der Collectivbegriff der Titanen ursprünglich nicht Widerstand und Widerspruch, oder man hat ihn mit der Zeit von Kronos und Japetos und diesem Geschlechte, welche immer die eigentlichen Anführer der Titanomachie sind47, auf die ältere Götterwelt überhaupt übertragen. Und so scheint sich dessen Bedeutung auch in der folgenden Zeit noch immer weiter ausgedehnt zu haben48, bis man zuletzt Titanen und Giganten identificirte und der Name Titan nur noch an dem Sonnengotte haftete49.
Außer den Titanen werden aber noch zwei andere Göttergruppen als Sprößlinge dieser Ehe des Himmels und der Erde genannt, die drei Kyklopen Βρόντης, Στερόπτης und Ἄργης und die drei Hekatoncheiren Κόττος, Βριάρεως und Γύης oder Γύγης, von welchen letzteren Homer blos den Briareos und zwar unter dem Doppelnamen Aegaeon kennt (Il. 1, 403), dahingegen seine Kyklopen etwas Anderes bedeuten. Denn bei den Hesiodischen ist der bildliche Grundgedanke deutlich die Wetterwolke mit dem zündenden Blitze, welche in der griechischen Mythologie unter sehr verschiedenen Bildern gefeiert wird. Hier hat die drohende Wolke mit dem aufleuchtenden Blitze zu dem Bilde der riesigen Kyklopen mit dem einen großen runden Feuerauge geführt, während die verschiedenen Acte des Gewitters, das Leuchten (fulgus, ἀστραπή), der Schall (tonitru, βροντή) und das Einschlagen (fulmen, κεραυνός) über die drei Glieder der Gruppe vertheilt sind50, nach einem sehr gewöhnlichen Gesetze der griechischen Mythendichtung, das wir auch bei der zweiten Gruppe festhalten müssen. Diese ist weit schwieriger zu erklären, daher die Erklärungen sehr verschieden sind; jedenfalls muß es eine nicht weniger gewaltige Naturkraft sein als das Gewitter. Am natürlichsten denkt man an das Erdbeben in seiner Alles über den Haufen werfenden, packenden, zerschmetternden Wirkung. Es führt dahin namentlich der Name Αἰγαίων oder Βριάρεως, der offenbar ein Meeresriese ist, bei Homer Il. 1, 404 und anderen Dichtern sogar ein Sohn des Poseidon, aber noch mächtiger als sein Vater51. Es ist der personificirte Meeresschwall mit dem furchtbaren Andrange tosender Fluthen, in welchem die Alten die Ursache der Erdbeben erkannten. Daher werden auch Γύης und Κόττος in demselben Sinne zu erklären sein, am ersten als Bilder der bald in tiefgewölbten Hohlwogen bald in hoch emporgeschmetterten Stoßwogen an das Festland anschlagenden und es in seinen Tiefen erschütternden Sturmfluth52.
Diese letzten Riesen und Unholde, die Kyklopen und Hekatoncheiren, heißt es weiter, seien ihrem eignen Vater zu gewaltig gewesen (th. 619). Darum stößt er sie, wie sie aus dem Schooße der Erde geboren werden, wieder in denselben zurück; wobei vermuthlich die Anschauung zu Grunde liegt daß der Blitz, nachdem sich die Wetterwolke von der Erde zum Himmel emporgehoben hat, wieder in die Erde zurückfährt, wie die Sturmfluthen und Erdbeben ja gleichfalls das Innere der Erde aufwühlen. Diese nun wird dadurch sehr gequält und sucht wie sie solcher Plage ihres Leibes ledig werde. Sie macht also aus Eisen eine gewaltige Sichel, ruft ihre Söhne die Titanen und fordert sie auf die Mutter an dem Vater zu rächen. Alle schrecken zurück bis auf den listigen Kronos. Die Erde führt diesen also in einen Hinterhalt, giebt ihm die schneidend scharfe Sichel in die Hand und sagt ihm was zu thun ist. Wieder kommt Uranos zur nächtlichen Liebesumarmung, da packt ihn Kronos aus seinem Verstecke und schneidet jählings mit der Sichel das Zeugungsglied seines Vaters ab. Wie er es hinter sich emporschleudert, empfängt die Erde die herabfallenden Blutstropfen und gebiert davon die Erinyen, die Giganten und die Melischen Nymphen, lauter Dämonen der Rache, der rohen Gewalt, der blutigen That53. Das Glied selbst aber fällt ins Meer und wird dort lange von der Fluth umhergetragen, bis aus dem weißen Schaume die Liebesgöttin Aphrodite geboren wird. Der entmannte Uranos flucht seinen Söhnen, indem er ein gleiches Verhängniß wie er erlitten auf ihre Häupter beschwört.
Ohne Zweifel ist in diesen Ueberlieferungen Manches ausländischen Ursprungs und erst über die Insel Kreta in die griechische Mythologie eingedrungen. Denn diese Insel war ein alter, schon der Hesiodischen Theogonie bekannter Sitz eines Zeusdienstes, in welchem dieser Gott als das Kind des Kronos und der Rhea gefeiert wurde, dessen Jugend von den Nachstellungen des eignen Vaters bedroht gewesen sei, der auch sonst als listig und grausam geschildert wird, höchst wahrscheinlich nach dem Muster des phoenicischen Molochdienstes. Aber eben so gewiß ist Kronos, der Kronos Homers und eines in ganz Griechenland verbreiteten Gottesdienstes, ein altgriechischer Begriff, wie dieses schon der bei Homer so oft wiederholte Sprachgebrauch Κρονίων Κρονίδης Κρόνου παῖς für Zeus beweist; obwohl denselben Gedichten auch die List des Kronos und seine Verstoßung durch den eignen Sohn bereits bekannt ist