Griechische Mythologie. Ludwig Preller
Die zweite Art der Apollinischen Gemüthserregung ist die prophetische Offenbarung oder Mantik, auch diese in einem sehr weiten Umfange, sowohl als Theopneustie d. h. als unmittelbare Begeisterung des menschlichen Gemüths, als in der Form jener künstlichen Auslegungen von allerlei gegebenen Zeichen und Wundern, an denen das Alterthum so außerordentlich reich war. Doch war das eigentliche Gebiet der Apollinischen Weissagung jene unmittelbare Prophetie603, welcher das Zukünftige oder Entlegene vor der geistigen Anschauung und als Gesicht gegenwärtig ist, und zwar so daß diese Offenbarungen mit urplötzlicher, Mark und Bein ergreifender Gewalt und wie eine Last des Herrn über das erwählte Gefäß kommen, in den ältesten Sagen meist über Frauen und Jungfrauen. Das merkwürdigste Beispiel dieser Gemüthsqualen und jener inneren Hoffnungslosigkeit aller Prophetie d. h. ihres beständigen Kampfes mit der Kurzsichtigkeit der Menschen und dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge ist Kassandra, dieses tiefergreifende Bild der troischen Sage, von welcher besonders die Kyprien erzählten und deren Leiden für uns Aeschylos in seinem Agamemnon schildert. Weil sie Apollons Liebe nicht erwiederte, fand ihre Weissagung, obgleich immer wahr, doch niemals Gehör. Verwandte Gestalten sind die vielen Sibyllen, deren Heimath auch Kleinasien und die Apollinische Religion ist604, die Cumanische, die Erythraeische und viele andere, deren Weissagungen sammt den Sagen von ihrer persönlichen Thätigkeit, welche gewöhnlich wie die der Nymphen begeisternde Quellen oder die Höhlen und Grotten des Gebirges zu ihrem Schauplatze hat, sich bald von Asien nach Griechenland und Italien verbreiteten. So erzählt man in Troas, Erythrae, Klaros, Sarnos, Delos und Delphi von einer Sibylle Herophile, einer Priesterin des Sminthischen Apoll, welche alte Hymnen auf Apoll gesungen und sich selbst die Tochter einer Nymphe vom Ida genannt hatte (Paus. 10, 12), und im italischen Cumae von der aus der römischen Geschichte bekannten Sibylle, welche gleichfalls eine Priesterin des Apoll und eine eifrige Beförderin seines Dienstes war. Aber auch die Weissagung von Männern ist eine Gabe des Apoll, sowohl die des unmittelbaren Gesichts als die der Deutung aus gegebenen Zeichen, wie die Weissagung des Amphiaraos und Kalchas und anderer Ahnherrn der sich von ihnen ableitenden prophetischen Geschlechter605. Die ältesten Stätten des Apollinischen Dienstes aber, wo die Weissagung unter Aufsicht priesterlicher Collegien mit bedeutendem Einfluß auf religiöse bürgerliche und Privatangelegenheiten geübt wurde, sind wohl gleichfalls die in Kleinasien. Namentlich bei Troja der Thymbraeische Dienst, an welchen sich sowohl die Sage von der Kassandra als die von Helenos anlehnt606, ferner die in den von Aeolern und Ioniern colonisirten Gegenden, nehmlich der alle Gryneische Apollonsdienst bei Myrina auf Lesbos607, das Klarische Orakel bei Kolophon mit der Sage vom Wettkampfe der beiden Propheten Kalchas und Mopsos, welcher nach Andern im Haine des Gryneischen Apollo vorfiel608, endlich das dem Zeus und Apollo geweihte zu Didyma oder Didymoi in der Nähe von Milet, das berühmteste von allen. Es war älter als die ionische Colonie von Milet und im erblichen Besitze der Branchiden, welche sich von Branchos, einem Lieblinge Apolls abzustammen rühmten, das ganze Heiligthum eins der angesehensten und prächtigsten der Apollinischen Religion609). Ferner hatte Lykien mehrere berühmte Orakel des Apoll, besonders das zu Patara, dessen Apollinischer Dienst mit dem Delischen an Heiligthum wetteiferte610. Weiter begegnen wir auf Delos einem alten Apollinischen Propheten, dessen Name in dem Sagenkreise der Kyprien genannt zu werden pflegte611, der dichtesten Reihe von Orakeln aber in Boeotien und Phokis, bis diese ganze Reihe in Delphi ihre letzte Vollendung und ihren Abschluß findet. Boeotien war sehr reich an Höhlen und Quellen, bei denen sich die alte Weissagung und Naturbegeisterung immer gerne ansiedelte. Von den Apollinischen Orakeln war das berühmteste das des Ptoischen Apoll612, doch war auch das zu Tegyra bei Orchomenos und das des Ismenischen Apoll zu Theben in älterer Zeit sehr angesehen, wie dieser Dienst überhaupt durch seine Sagen, seine festlichen Gebräuche, seine Weihgeschenke einer der ausgezeichnetsten von Theben war613. In Phokis hatte Abae ein gleichfalls in der älteren Zeit berühmtes Orakel des Apoll614. Indessen alle diese kleineren Stätten überstrahlte mit der Zeit das große griechische Hauptorakel zu Delphi, dessen Einfluß zu allen Zeilen ein außerordentlicher, in einigen ein allmächtiger war. Schon die Ilias kennt die felsige Pytho mit der wohlgefüllten Schatzkammer (9, 405; 2, 519), in der Odyssee sagt dieses Orakel den Wendepunkt des trojanischen Krieges vorher (8, 79). In dem Homerischen Hymnus stiftet Apollon selbst das Orakel; nach delphischer Sage war es früher im Besitze anderer Götter gewesen, zuerst der Erde, dann der Themis, dann der Phoebe, endlich des Apoll615: wodurch man sich auf mythologische Weise zu erklären suchte wie dieses Orakel, eigentlich ein μαντεῖον χϑόνιον (Eurip. Iphig. T. 1249), in den Besitz des Lichtgottes Apoll gekommen sei. Denn die physische Ursache der dortigen Weissagung war ein Schlund mit ausströmenden kalten Dämpfen, welche ekstatische Erregungen verursachten. Dieser Schlund befand sich auf dem obern Felsenplateau der merkwürdigen Schlucht von Delphi, wo man noch jetzt die Reste des großen Tempels sieht, und über ihm seit alter Zeit das Adyton des Apollinischen Heiligthums616, welches sich mit der Zeit immer mehr erweiterte und verschönerte, umgeben von einem weitläuftigen Tempelhofe und allen den zahlreichen Denkmälern und Nebengebäuden, die Pausanias beschreibt. Ueber dem Schlunde stand ein Dreifuß von bedeutender Höhe, golden, mit einem Sitze für die Pythia, welche schon zur Zeit des Aeschylos eine ältliche Frau war. Aufgeregt durch jene gasartigen Ausströmungen sprach sie Weissagungen aus, welche natürlich dunkel und räthselhaft waren, daher der Beiname des delphischen Orakelgottes Λοξίας617. Ihre metrische Form bekamen sie durch die Redaction der delphischen Edlen und Mitglieder des heiligen Rathes, von denen oft die Rede ist618. Also eine Vereinigung von künstlicher Theopneustie und reflectirender Auslegung, wie dieses auch bei den Branchiden im Didymaeon bei Milet und in dem Orakel zu Klaros und bei den meisten alten Orakeln der Fall gewesen zu sein scheint. Und in der That ist ein solcher Einfluß wie ihn diese Orakel, besonders das delphische, übten gar nicht denkbar ohne den mitwirkenden Einfluß ausgezeichneter Männer und priesterlicher Collegien, deren persönliches Verdienst wesentlich darin bestanden haben wird, daß sie die Verhältnisse in Griechenland und im Auslande genau kannten und die Aussprüche der Pythia demgemäß mit Einsicht und Wohlwollen zu deuten wußten.
Zeigt sich nun in solchen Instituten die Macht des Lichtgottes als Offenbarung, so ist die schönste aller Uebertragungen doch diese, wo Apoll als Versöhner und Erlöser in allen den Körper verzehrenden und den Geist umnebelnden Sünden und Schäden erscheint, sei es daß natürliche Krankheit oder daß Verbrechen und Schuld zu Grunde lag. Er ist in dieser Hinsicht ganz das Gegentheil jener dunkelen Mächte des Schicksals und der Rache, die im Finstern wohnen und aus dem Finstern wirken, während Apoll, wie sein eignes Wesen Glanz und Klarheit ist, so auch alles Düstre und Böse mit seinem milden Lichte überstrahlt und nicht duldet, sondern die Mittel zur Heilung und zur Versöhnung findet. Wir haben die deutlichen Merkmale dieser sehr alten und weit verbreiteten Auffassung bereits in vielen örtlichen Gottesdiensten nachgewiesen, denen des lykischen Apollo, auch in dem der Kameen, der Thargelien, der Delphinien, welche Feste sämmtlich mit Sühngebräuchen verbunden waren. Am weitesten war doch aber auch in dieser Beziehung die Entwicklung des pythischen Gottesdienstes gediehen mit der zu Grunde liegenden Thatsache des Kampfes mit dem Drachen: woraus sich eine bildliche Geschichte mit entsprechenden Gebräuchen gestaltet hatte,