Griechische Mythologie. Ludwig Preller
Landesgotte, ist sie die Stammmutter des Bärenvolkes der Ἀρκάδες, denn die alte Fabel wollte auch in diesem Namen der Bevölkerung die rauhe Natur und Sitte dieses peloponnesischen Alpenlandes ausgedrückt finden, obwohl auch das Gestirn der Bärin am Himmel in diese Sage mit hineinspielt. Außerdem wurde Artemis durch ganz Arkadien als Ὑμνία, als die Frühlingsgöttin der Lust und des Gesanges verehrt (Paus. 8, 5; 8, 13, 1), ferner als Δέσποινα d. h. als Herrin der Wälder und des gesammten Thierreichs, auch der Rossezucht (P. 8, 10; 4, 14, 4) und als Ἡγεμόνη d. h. als die Führerin auf schwierigen und gefahrvollen Wegen, daher sie in Arkadien und sonst für die Begleiterin und Führerin der ihr Kind suchenden Demeter galt, welcher sie mit ihren Fackeln vorgeleuchtet hatte und neben welcher sie deshalb oft verehrt wurde653.
In anderer Beziehung sind die lakonischen und messenischen Dienste bemerkenswerth: der von Karyae im obern Eurotasthale wegen der alterthümlichen und zierlichen, dem Dionysosdienste verwandten Tänze, mit welchem die Karyatiden d. h. die Mädchen des im Dickicht der Nußbäume gelegenen Ortes ihre Artemis Καρυᾶτις zu feiern und dadurch die Künstler zu noch zierlicheren Nachbildungen zu veranlassen pflegten654: am Flusse Tiasa ein Heiligthum der Artemis Κορυϑαλία d. h. der für das Wohl der kleinen Knaben mit geweihten Lorbeerzweigen verehrten, zu welcher an den Tithenidien d. h. dem Ammenfeste die Ammen ihre Pfleglinge trugen655, während bei andern Gelegenheiten auch ihr ländliche Chöre und allerlei volksthümliche Lustbarkeiten aufgeführt wurden: am Rücken des Taygetos auf einem Hügel (δέρρα d. i. δειρὴ) das der Artemis Δερρεᾶτις, welche durch die schönen Gesänge (καλαβοίδια), mit denen sie gefeiert wurde, bekannt war656. Endlich an der Grenze von Messenien und Lakonien das aus den messenischen Kriegen berühmte Heiligthum der A. Λιμναία oder Λιμνᾶτις in Limnae657, von welchem der spartanische Dienst der Artemis Orthia im Quartiere Limnae, auf den ich zurückkommen werde, abgeleitet wurde. So war auch Elis reich an feuchten Gründen und bebuschten Hügeln und deshalb voll von Heiligthümern der Artemis, der Aphrodite und der Nymphen (Strabo 8, 343). Und zwar wurde Artemis mit besonderem Ansehn an der Mündung des Alpheiosstromes als Ἀλφειωνία oder Ἀλφείουσα d. h. als nährende Göttin des großen Hauptstromes von Arkadien und Elis verehrt658, ein Dienst welcher von selbst nach Sicilien hinüberführt. Denn bis dahin läßt die Sage den Flußgott Alpheios die behende Quellnymphe Arethusa verfolgen, bis er sie auf der syrakusischen Artemisinsel Ortygia erreicht, dem Sitze der Artemis Potamia, deren Kopf uns die schönen Münzen von Syrakus mit schilfdurchflochtenem oder im Netze getragenem Haare und von Fischen umgeben zeigen. Eine seit Pindar oft wiederholte Fabel zu welcher ein lebhafter Verkehr zwischen beiden Küsten, die reichliche Strömung jener Quelle und die Gleichartigkeit des Dienstes der Artemis, endlich die Gewöhnung der Griechen an unterirdischen Lauf der Ströme und unterirdische, hin und wieder selbst unter den Meeresgrund reichende Wasserleitungen Veranlassung gegeben haben. Ferner war Aetolien seit alter Zeit ein Lieblingssitz der Artemis, namentlich in der Gegend von Kalydon, wo auch ein Ortygia lag und Artemis neben ihrem Bruder unter dem Beinamen Λαφρία verehrt wurde, welcher Dienst sich auch über Achaja und Messenien verbreitet hatte659. Auf Euboea war Amarynthos in der Nähe von Eretria ein alter Mittelpunkt des Artemisdienstes, wo ihr die Amarynthien in bessern Zeiten mit großer Pracht und Herrlichkeit gefeiert wurden und die Heiligthümer der A. Ἀμαρυσία oder Ἀμαρυνϑία ehedem einen Mittelpunkt für ionische Stammesverbindung gebildet hatten660. Endlich in Attika wurde Artemis sowohl als ἀγροτέρα als in der allgemeineren Bedeutung der Mond- und Naturgöttin verehrt, in Athen selbst und auf der Munychia und zu Brauron. Als ἀγροτέρα d. h. als Göttin des Wildes und der Jagd661, aber auch des wilden Jagens der Schlacht, hatte sie einen Tempel in der Vorstadt Agrae auf der Höhe über dem Ilissos, und zwar galt dieser Göttin sowohl das Fest der Elaphebolien d. h. der Hirschjagd im ersten Frühlingsmonate662 als das am sechsten Boedromion für den Sieg bei Marathon dargebrachte Dankopfer von fünfhundert Ziegen. Ferner wurde sie im Monate Munychion (April) als Μουνυχία d. h. als nächtlich leuchtende Vollmondsgöttin (μουνυχία für μονονυχία) auf der nach ihr benannten Halbinsel und Hafenfestung des Piraeeus verehrt und in diesem Sinne am Feste der Munychien am 16ten mit Opferkuchen beschenkt, welche mit Lichtern besteckt den Namen und die Gestalt des Vollmondes hatten663. Endlich wurden in nicht mehr bestimmbarer Zeit, aber wahrscheinlich auch in dieser Jahresperiode, wo die Schifffahrt begann, aber das Meer noch stürmisch zu sein pflegt, die Brauronien gefeiert, ein vorzüglich für die Frauen bedeutsames Fest der alten Mondgöttin von Brauron, bei welchem die Mädchen von ihren zarten Jahren bis zu ihrer Verheirathung unter dem an das Symbol der Bärin erinnernden Cultusnamen ἄρκτοι in safranfarbenen Kleidern Dienste leisteten664. Auch auf der Burg von Athen gab es ein Heiligthum dieser Göttin und noch jetzt kann man dort die Spuren dieses Dienstes in vielen zierlichen Mädchenbildern verfolgen, welche ihr vor der Vermählung als Weihgeschenke dargebracht wurden.
Also eine Gottheit von außerordentlich weit verbreitetem Einfluß, auch für sehr verschiedene Beschäftigungen, Lebensstufen und ethische Stimmungen des menschlichen Lebens. So erscheint A. auch als Göttin der Saaten, sowohl in jener alten Sage von dem kalydonischen Eber als in denen von Brauron, wo man eine verderbliche Hungersnoth von ihr ableitete665. Vorzüglich blieb sie indessen immer die Göttin der Berge und der Wälder mit allem in denselben sich bewegenden Natur- und Thierleben und dadurch bestimmten Beschäftigungen der Menschen, nicht allein der Jagd und der Jäger, sondern auch der Hirten, welche bei den Festen der Artemis in Lakonien und Sicilien zuerst den bukolischen Gesang geübt haben sollen666. Auch dachte man sich alle Thiere des Feldes und des Waldes unter ihren Schutz gestellt, namentlich die jungen und die wilden Thiere, daher sie auf alterthümlichen Bildwerken wie eine Mutter des Gebirgs junge Pardel und Löwen zu tragen oder mit ihren Fellen bekleidet zu sein pflegt667. Ihr Einfluß auf das Meer und die Schifffahrt sollte mehr anerkannt werden als gewöhnlich geschieht668; er konnte den Alten um so weniger verborgen bleiben, da sie den Einfluß des Mondes auf alle Fluth auch sonst scharf beobachtet und in manchen Mythen und Märchen ausgedrückt haben. Was das menschliche Geschlecht betrifft so ist A. am meisten mit der Kinderpflege und mit dem weiblichen Geschlechte beschäftigt. Wie in Sparta jener Artemis Korythalia die männliche Jugend empfohlen wurde, so wurde bei den Ioniern an den Apaturien das Haar der Knaben der Artemis dargebracht669 und fast überall verehrten die jungen Mädchen in der Artemis die Schutzgöttin ihrer jungen Jahre, daher sie ihr bis zur Vermählung als Kanephoren oder unter andern Namen zu dienen und vor derselben eine Locke oder andern Schmuck und Spielzeug ihrer jungen Jahre zu opfern pflegten670. Auch gehört dahin Artemis χιτώνη oder χιτυωία, unter welchem Namen sie in Attika Milet Syrakus und an andern Orten verehrt wurde, vermuthlich weil die Mädchen ihr den jungfräulichen Chiton weihten oder auch den Gürtel, daher sie in Athen λυσίζωνος hieß671.