Griechische Mythologie. Ludwig Preller
href="#ulink_5d6096d2-6cef-579f-ab50-d762ca835bda">672. Ganz natürlich schließen sich daran die Vorstellungen von der Artemis als einer Göttin des leiblichen Gedeihens im weitesten Sinne des Wortes, daher sie als Heilgöttin und Σώτειρα auch in den Städten viel verehrt wurde (Kallim. Dian. 130 ff.).
Eine andere Reihe von Vorstellungen und zwar sehr schönen und sinnigen knüpft bei dem jungfräulichen Character der Artemis an, da sie eine Göttin von herber und strenger Keuschheit ist und von überaus zarter und leicht verletzter Reinheit (ἁγνὴ Aesch. Agam. 135, αἰὲν ἀδμήτα Soph. El. 1239). Eben deshalb ist ihr die blühende Frühlingswiese heilig, bei den Griechen ein gewöhnliches Bild der zarten Jungfräulichkeit (Eurip. Hippol. 70 ff., Ipig. Aul. 1464. 1544), und alle keuschen Jünglinge und Jungfrauen sind ihr lieb und stehen unter ihrem Schutz. Am allermeisten tritt dieser strengsittliche Character in der schönen Sage vom Hippolytos hervor, wie sie in Troezen und Athen in alten Denkmälern und Gebräuchen begründet war und von Sophokles und Euripides in ernsten Tragoedien ausgeführt wurde. Hippolyt, der rüstige Sohn der Amazone Antiope, ist ganz der reine keusche Jüngling, der sich dem Dienste der Artemis geweiht hat und ihr vor Allen lieb ist. Ihr windet er Kränze von der heiligen Blumenflur, dem Bilde seiner eignen Reinheit, wie später ihm zu Ehren von den Jünglingen und Jungfrauen vor der Hochzeit geschah, und mit ihr jagt er in den Bergen und Wäldern, bis er als Opfer seiner eignen Keuschheit fällt, aber von seiner Schutzgöttin erhöht wird: ein Bild der Unschuld, der edlen Scham, der sittlichen Mäßigung. Daher Artemis auch die Göttin der Besonnenheit, ja der bürgerlichen Gerechtigkeit überhaupt ist und als solche in den Städten und auf den Märkten wallet; als Εὔκλεια d. i. die Göttin des guten Rufes vorzüglich der Jünglinge und der Jungfrauen, wie sie bei den Boeotern und Lokrern, auch in Athen und zu Korinth und Kerkyra verehrt wurde673, und als ἀριστοβούλη, eine strenge Feindin alles wilden und zuchtlosen Wesens, welches sie auch in den Städten mit ihren Pfeilen verfolgt674.
Soweit die eigentlich hellenische Artemis. Noch andere Seiten und Vorstellungen des Cultes der Mondgöttin ergeben sich wenn wir gewisse theils ausländische theils weniger entwickelte Dienste derselben Göttin verfolgen, welche in der Tradition von dem Artemisdienste im engeren Sinne des Wortes unterschieden werden, in der That aber doch nur solche Vorstellungen und Gebräuche des Monddienstes aufdecken, welche in dem hellenischen Artemisdienste gleichfalls angelegt gewesen, aber mit der Zeit zurückgetreten waren.
So zunächst die Artemis Orthia in Sparta, eben jener Gottesdienst im Limnaeon welchen man von dem alten, den Lakonen und Messeniern gemeinsamen Culte im Grenzgebirge ableitete675, obwohl sich eine Artemis Ὀρϑία oder Ὀρϑωσία auch in Arkadien und Elis, Megara und Athen fand. Der Name wird am besten durch die aufrechte Haltung des alterthümlichen Bildes erklärt, welches wie andere Idole der Art von einem umgebenden Weidegeflecht zugleich unterstützt und den Augen entzogen wurde676, daher ein gleichartiges Bild zu Rhegion in Italien, denn auch dahin hatte sich dieser Dienst verbreitet, das der Artemis Phakelitis hieß. Eine andere Eigenthümlichkeit desselben waren die einst wirklich vollzogenen Menschenopfer, an deren Stelle später in Sparta die bekannte Geißelung der Knaben am Altare dieser Göttin getreten war677, eine dritte die Sage von der Iphigenia, welche der Artemis habe geopfert werden sollen, aber von ihr in ein fernes Land entrückt worden sei und von dort später durch ihren Bruder Orestes zurückgeführt jenes alterthümliche Cultusbild und die mildere Sitte des Gottesdienstes mitgebracht habe: eigentlich die Mondgöttin selbst678 und ein Bild sowohl von ihrem Zorne, in welchem sie sich den Augen der Menschen entzieht und Menschenblut fordert, als von ihrer Gnade, wenn ihre Priesterin heimkehrend selbst ihr Bild als Unterpfand des Segens aufstellt und ihre Verehrer zur sanfteren Weise anleitet. Das Gebiet der Entrückung wird in dieser Sage ursprünglich wie in ähnlichen Fabeln kein geographisch bestimmtes, sondern etwa der hyperboreische Norden gewesen sein, bis später die Niederlassungen der Griechen in Byzanz und an den pontischen Küsten, namentlich zu Chersonesos auf der taurischen Halbinsel zur Bekanntschaft mit einer ähnlichen Religion der dortigen Bevölkerung und in Folge deren zur Fixirung der bekannten Legende gerade an diesem Punkt geführt hat: worauf diese Artemis die taurische (Ταυρική, Ταυρώ) genannt wurde und Iphigenia und Orestes zu den Urhebern der gleichartigen Cultusbilder und Gottesdienste nicht allein in Griechenland, namentlich des spartanischen der A. Orthia, des attischen der A. Brauronia und des italischen der A. Phakelitis, sondern auch vieler andern Artemisdienste von verwandtem d. h. fanatischem und blutigem Character geworden sind, sowohl in Kleinasien, d. h. in Lydien Kappadokien und am Pontos, als in Italien, wo deshalb sogar der Dienst der Diana zu Aricia in der Nachbarschaft von Rom sich von Orestes gestiftet zu sein rühmte679. Ja es vermischten sich, sobald man sich einmal gewöhnt hatte diese Art von Artemisdienst aus den barbarischen Gegenden von Pontos abzuleiten, mit diesen Ueberlieferungen auch die weit verbreiteten Dienste der Artemis Ταυροπόλος, welche der taurischen gleichgesetzt wurde, obwohl sie eigentlich von derselben verschieden ist. Denn das bestimmende Symbol ist hier der rennende Stier, auf welchem sitzend diese Göttin abgebildet wurde, ein gewöhnliches Sinnbild des Monddienstes, welcher übrigens auch in dieser Form ein fanatischer und blutiger gewesen zu sein scheint. So viel wir wissen wurde diese Artemis vorzüglich zu Amphipolis an der Mündung des Strymon und zwar mit Fackelläufen verehrt680, ferner hin und wieder bei den ionischen Griechen Kleinasiens, wie zu Phokaea Smyrna und auf der Insel Ikaria bei Samos681, endlich an der attischen Küste zu Halae Araphenides in der Nähe von Brauron, daher auch die attischen Dichter ihrer wiederholt gedenken682.
Einen andern Artemisdienst von eigenthümlicher Beschaffenheit findet man auf Kreta, dessen Gebirge und Flüsse überhaupt reich an Sagen von der Artemis und an eigentümlichen Gestalten des Monddienstes waren, nehmlich den der Britomartis oder Diktynna. Die Gegend von Kydonia war der Mittelpunkt dieses Gottesdienstes, welcher sich von dort nicht allein über andere Gegenden der Insel, sondern auch nach Lakonien und Sparta, ferner nach Aegina und über andere Küsten und Inseln des mittelländischen Meeres bis nach Massalia verbreitet hatte683. Der Name Britomartis wird erklärt durch βριτὺ süß und μάρτις Jungfrau, der Name Diktynna (Δίκτυννα Δίκτυνα Δικτύα) durch die Legende daß Minos sie geliebt und verfolgt habe, bis sie von einem Felsen ins Meer springend sich in ausgespannte Fischernetze verfangen habe und göttlicher Ehren theilhaftig geworden sei. Auf Aegina verehrte man eine ähnliche Göttin unter dem Namen Ἀφαία684, welcher gleichfalls auf den Sprung ins Meer gedeutet wird, der vermuthlich das Verschwinden des Mondes im Meere ausdrücken sollte, wie jene Flucht durch Berge und Wälder das Umherirren des Mondes. Eine Göttin der Jäger, der Fischer, der Seefahrer, welche Land, Seen und Meere durchschweift, in Gebirgen haust, sich in Sümpfen verbirgt, auch Geburtshelferin und Heilgöttin, die bei den ionischen Griechen oft an der Seite des Apollon Delphinios verehrt wurde, der ja auch vorzüglich dem Seeleben angehörte. Kurz eine Göttin welche in allen wesentlichen Punkten der Artemis entspricht, nur daß bestimmte Beziehungen auf örtliche Eigenthümlichkeiten und Beschäftigungen mehr als gewöhnlich hervorgehoben wurden.
Noch einer andern Reihe von Artemisdiensten, nun aber schon mit überwiegend asiatischen Formen, begegnen wir in Asien, nehmlich der Artemis von Ephesos und der ihr verwandten Artemis von Magnesia am Maeander, welche in Asien heimisch und von den dortigen Griechen mit ihren nationalen Vorstellungen und Gebräuchen des Artemisdienstes verschmolzen sich später von dort weiter