Dr. Brinkmeier Staffel 2 – Arztroman. Sissi Merz
Dr. Julia Bruckner ging unruhig in dem kleinen Ärztebüro der Missionsstation auf und ab. Immer wieder spähte sie aus dem Fenster. Eben war ein tropischer Regenguß niedergegangen, nun brach die Sonne durch die Wolken und ließ den Urwald dampfen. Die schöne Ärztin liebte diese Naturschauspiele, doch momentan waren sie ihr einerlei. Sie machte sich Sorgen um ihren Kollegen Kennedy und die Köchin Buhla, die nun schon zwei Tage fort waren. Sie hatte daran gedacht, sich auf die Suche nach ihnen zu machen, denn sie wußte ungefähr, wo das Dorf lag, das ihr Ziel gewesen war. Doch allein die Tatsache, daß es kein weiteres Fahrzeug auf der Station gab, das sie hätte benutzen können, ließ diese Idee im Ansatz scheitern.
»Frau Doktor, bitte sehen Sie mal nach Imbo, er klagt wieder über Schmerzen.« Schwester Mary stand in der offenen Tür zum Ärztebüro und musterte die Medizinerin forschend. »Machen sie sich keine Gedanken, die beiden kommen sicher bald zurück.«
»Ich mache mir aber Sorgen«, erwiderte Julia, während sie Mary in den Krankensaal folgte. »Wieso dauert das so lange? Diese Frau abzuholen und hierher zurückzukommen, das hätte höchstens einen Tag in Anspruch nehmen dürfen. Selbst bei schlechtem Wetter. Aber sie sind nun schon zwei Tage fort…«
»Es wird nicht leicht, die Dorfbewohner davon zu überzeugen, daß die Frau bei uns besser aufgehoben ist. Sie wissen doch, daß die Menschen hier oft mißtrauisch und ängstlich sind. Sie befürchten vielleicht, daß Doktor Kennedy der Kranken etwas antun will. Er kann ja auch manchmal zum Fürchten sein…«
Dr. Bruckner lächelte flüchtig. Sie untersuchte den kleinen Jungen, der an einer Darminfektion litt, und wies Mary dann an, die Medikation etwas zu erhöhen. »Aber beobachten Sie bitte den Effekt. Wenn sich keine Besserung einstellt, müssen wir die ganze Behandlung überdenken.«
»Ich kümmere mich darum«, versprach Mary, dann blickte sie auf, denn ein Auto näherte sich der Station. »Da sind sie ja!«
Dr. Bruckner atmete auf, sie eilte nach draußen, um die Ankommenden zu begrüßen. Buhla stöhnte gequält und beschwerte sich: »Das ist kein Auto, sondern ein Folterinstrument, mein Rücken tut schrecklich weh! Und der Doktor hat einen furchtbaren Fahrstil.«
Julia mußte schmunzeln, sie wandte sich an Tom Kennedy, der eine junge Frau aus dem Wagen hob. Sie war abgemagert und lethargisch, der Schotte bat seine Kollegin, einen Rollstuhl zu holen. »Sie kann nicht gehen, weil sie immer eingesperrt und zweitweise auch gefesselt war«, berichtete er.
»Wieso hat es so lange gedauert? Ich habe mir Sorgen gemacht.«
»Die Leute im Dorf haben uns offenbar nicht getraut. Sie dachten, wie nehmen die Frau mit, um ihr etwas anzutun und einen bösen Zauber über das Dorf zu legen. Buhla hat lange mit ihnen geredet, bis sie einverstanden waren, die Kranke behandeln zu lassen. Und dann hatten sie Angst, es könnte etwas kosten.«
Dr. Bruckner reichte ihrem Kollegen einen Becher Kaffee und stellte fest: »Sie haben sich sehr ins Zeug gelegt. Ich hoffe, wir können der Frau helfen. Sie ist in keiner guten Verfassung.«
»Ich weiß, deshalb wollte ich ja auch etwas tun. In ihrem Dorf hätte sie kaum eine Zukunft gehabt.« Er warf Julia einen fragenden Blick zu. »Finden Sie mein Verhalten falsch? Ich habe schon die ganze Zeit den Eindruck, als ob Sie mir etwas vorzuwerfen haben. Schon als ich von der Malariaimpfung zurückgekommen bin. Also, was ist es? Raus mit der Sprache!«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen. Mary denkt allerdings, daß Sie noch immer zu eigenmächtig handeln.«
»Mary oder Sie? Verstecken Sie sich nicht hinter einer Nonne, das paßt nicht zu Ihnen, Julia.«
»Wollen Sie mich provozieren? Ich sage es Ihnen, wie es ist. Ich finde es immer gut, wenn man sich engagiert, da rennen Sie bei mir offene Türen ein. Aber Sie sollten auch nicht alles an sich reißen. Die Impftour ist immer meine Aufgabe gewesen.«
»Aha, das war es also, was Sie wurmt. Aber Sie sollten sich mal etwas bewußt machen; wir beide sind hier gleichberechtigt. Ich lasse mich nicht zu Ihrem Assistenten und Befehlsempfänger machen. Wenn Ihnen das vorschwebt, dann sind Sie bei mir an der falschen Adresse.« Damit verließ er das Ärztebüro und ging hinüber zu der kleinen Krankenstube, in der die neue Patientin isoliert lag. Er kontrollierte die Infusion und untersuchte die Frau, die erschöpft schlief. Julia blieb in der offenen Tür stehen und wartete, bis er den Raum wieder verließ. Dann stellte sie gezwungen ruhig klar: »Ich hatte nie vor, Ihnen etwas vorzuschreiben. Aber Sie sollten auch nicht vergessen, daß ich mittlerweile seit mehr als zehn Jahren hier lebe und arbeite. Ich habe geholfen, die Station auszubauen. Und ich habe einfach in vielen Bereichen mehr Erfahrung als Sie. Vielleicht versuchen Sie mal, das zu akzeptieren, ohne immer gleich zu vermuten, daß ich Ihnen zu nahe treten will.«
»Sie haben einen ziemlichen Dickschädel, Frau Kollegin, und lassen sich so schnell nichts sagen. Das kenne ich aus eigener Erfahrung. Ich akzeptiere Ihre Kompetenz, keine Angst. Aber manchmal ist es auch gut, wenn mal ein frischer Wind das allzu Vertraute wegbläst. Oder haben Sie Angst, sich auf etwas Neues einzulassen?«
Julia erwiderte den forschenden Blick des Schotten mit wachsender Unruhe. »Was bilden Sie sich eigentlich ein…«
»Nein, nein, so nicht! Ich dachte, über dieses Stadium wären wir endlich hinweg. Also schön, wenn Sie noch immer so empfindlich sind, Julia, dann werden wir in Zukunft alles absprechen. Sie sollen wissen, daß es mir wichtig ist, mit Ihnen auszukommen. Und das werde ich Ihnen beweisen!«
Julia mußte noch eine ganze Weile über das Gespräch mit Tom Kennedy nachdenken. Und sie fühlte sich wieder einmal unzulänglich, weil sie in seine Falle getappt war, nicht mehr zwischen Beruf und Privatem hatte trennen können.
»Haben Sie wieder gestritten?« fragte Mary sie.
»Nicht direkt. Ich frage mich nur, auf welcher Basis wir überhaupt noch zusammenarbeiten sollen. Es gelingt uns nicht, freundschaftlich miteinander umzugehen. Und jedes Mal, wenn wir aneinander geraten, habe ich das Gefühl, daß Tom Kennedy mit Absicht persönlich und verletzend wird.«
»Und ich dachte, Sie hätten sich zusammengerauft.«
»Ja, das dachte ich auch.« Dr. Bruckner seufzte bekümmert. »Anscheinend haben wir uns beide geirrt…«
In den folgenden Tagen gab der schottische Chirurg seiner Kollegin keinen Anlaß mehr zum Streiten. Er erledigte seine Arbeit gewohnt rasch und präzise und kümmerte sich intensiv um die neue Patientin, der es allmählich besser ging. Julia stellte fest, daß die Köchin seit dem Ausflug in ein benachbartes Dorf sehr still und nachdenklich geworden war, was eigentlich gar nicht ihrer Art entsprach. In einem ruhigen Moment sprach Julia Buhla darauf an. Und diese gab zu: »Ich vermisse mein Dorf, meine Familie. In Ibung war es ganz ähnlich wie bei uns daheim. Seit wir dort gewesen sind, haben mich die Erinnerungen nicht mehr verlassen.«
»Du denkst daran, wieder in dein Dorf zurückzukehren?«
»Das würde ich, ehrlich gesagt, gerne tun. Aber es ist unmöglich. Meine Familie hat mich verstoßen, weil ich ein uneheliches Kind bekommen habe.«
»Läßt sich denn daran nichts mehr ändern? Bitte versteh mich nicht falsch, Buhla, ich möchte dich sehr viel lieber hier behalten. Aber wenn du so sehr unter Heimweh zu leiden hast…«
Die Köchin steckte ihr Pfeifchen in Brand und lächelte ein wenig wehmütig. »Ich bleibe gern, solange Sie mich behalten wollen. Heimzukehren, das ist so etwas wie ein schöner Traum für mich, der mit der Wirklichkeit aber nichts zu tun hat. Kennen Sie das nicht auch? Daß man sich etwas wünscht, obwohl man weiß, es kann sich nicht erfüllen. Und es wäre auch gar nicht gut und richtig, wenn es sich erfüllt…«
Die junge Ärztin seufzte leise. »Ja, das kenne ich nur zu gut.« Sie drückte Buhla leicht den Arm, dann ging sie wieder ins Haus. Tom Kennedy, der sich ganz in ihrer Nähe auf der Terrasse aufgehalten hatte, bemerkte sie nicht.
»Sie wollten mir noch den Wasserfall zeigen«, sagte der hinter ihrem Rücken. »Kommen Sie, im Moment ist es gerade ruhig.« Ohne auf ihre Reaktion zu warten, nahm er ihre Hand und zog sie hinter sich