Dr. Norden Staffel 2 – Arztroman. Patricia Vandenberg
»Vielen Dank, dass Sie sich gleich Zeit für uns nehmen.« Der Mann, der die leichenblasse Frau am Arm führte, wirkte besorgt.
»Das ist doch selbstverständlich«, versicherte Daniel und trat auf die andere Seite, um Teresa zusätzlich zu stützen. »Mal abgesehen davon, dass mich mein erster Patient heute ohnehin versetzt hat. Kommen Sie, wir gehen gleich ins Behandlungszimmer.« Er deutete auf eine Tür, die links neben der zu seinem Sprechzimmer lag. »Da ist eine Liege, auf die Sie sich legen können.«
Er schickte Teresa einen besorgten Blick. Ohnehin sehr zart gebaut, hatte sie seit dem Unfalltod ihrer Eltern im vergangenen Jahr deutlich an Gewicht verloren. Das lag auch daran, dass sie sich neben ihrem Studium der Tiermedizin seither um ihren 16-jährigen Bruder Anian kümmerte, der mit ihr auf dem alten Bauernhof etwas außerhalb der Stadt lebte.
»Danke, aber es geht schon besser«, erklärte Teresa und sah ihren Freund fast vorwurfsvoll an. »Ich wäre ja gar nicht hergekommen. Aber Marco hat darauf bestanden.«
»Weil dir in letzter Zeit öfter schwindlig ist«, verteidigte er seinen Entschluss energisch.
Der fürsorgliche, tatkräftige Mann gefiel Dr. Norden. Er war genau der Partner, den Teresa in dieser schwierigen Situation brauchte.
»Ein Glück, dass Sie so einen klugen Mann an Ihrer Seite haben«, machte er denn auch keinen Hehl aus seiner Meinung.
Marco dankte ihm mit einem warmen Blick für die Unterstützung und half Teresa auf die Behandlungsliege.
»Sie können dort drüben Platz nehmen«, bat Daniel Norden. Er setzte sich auf einen Hocker und rollte zu Teresa, zählte ihren Puls und maß den Blutdruck. Die Werte lagen alle außerhalb der Norm. Doch das allein gab noch keinen Anlass zu großer Sorge. »Erzählen Sie mir von Ihren Kreislaufproblemen«, bat er um genauere Informationen, um sich ein Bild machen zu können. »Haben Sie viel Stress?«
»Vor ein paar Monaten dachte ich, dass ich alles ganz gut im Griff habe. Aber in letzter Zeit ist Anian ganz schön störrisch«, gab Teresa bereitwillig Auskunft.
»Kein Wunder. Der Bengel steckt mitten in der Pubertät, ist frech und aufsässig«, mischte sich Marco in das Gespräch ein. »Dabei tut Tess alles für ihn. Man könnte meinen, dass er dafür dankbar sein sollte. Aber das genaue Gegenteil ist der Fall.« Der Unmut über das Verhalten des Teenagers stand Marco ins Gesicht geschrieben.
Teresa sah Daniel vielsagend an und zog missbilligend eine Augenbraue hoch.
»Für ihn ist es eben auch nicht leicht, seit Mama und Papa nicht mehr da sind«, nahm sie ihren viele Jahre jüngeren Bruder in Schutz. »Marco versteht das nicht. Die beiden kommen immer weniger miteinander klar.«
Daniel Norden, der dieses Problem verstand, aber im Augenblick keine Lösung dafür parat hatte, konzentrierte sich auf den medizinischen Aspekt.
»Dieses Spannungsfeld erzeugt natürlich schon Stress. Das Studium und die Arbeit mit dem großen Haus tun wahrscheinlich ein Übriges.«
»Hast du dem Doc schon von dem entzündeten Nagelbett erzählt?«, erkundigte sich Marco von seinem Platz am Fußende der Liege.
Unwillig verzog Teresa das Gesicht.
»Das ist doch nicht der Rede wert«, winkte sie ab.
Doch Dr. Norden sah die Sache anders.
»Darf ich mal sehen?«, bat er, und zähneknirschend setzte sich Teresa auf und schlüpfte aus dem Clog.
»Du liebe Zeit, der ist ja ganz schwarz«, entfuhr es ihm, und Teresa lachte trotz ihrer Beschwerden auf.
»Keine Angst, das ist nur Zugsalbe. Die hab ich in einem Schrank gefunden und dachte, das kann nicht schaden.«
»Hmmm, das sieht ziemlich schmerzhaft aus«, stellte Daniel fest und betrachtete den angeschwollenen großen Zeh. Behutsam nahm er den Fuß in die Hand. »Seit wann …«
»Aua!« Schon bei der kleinsten Berührung stöhnte Teresa auf.
»So schlimm?« Daniel runzelte die Stirn. »Ein Wunder, dass Sie überhaupt einen Schuh anziehen können.«
»Ehrlich gesagt komme ich nur in diese Clogs rein.«
»Und mir hast du gesagt, sie sind so bequem«, bemerkte Marco tadelnd.
»Na ja, stimmt ja irgendwie auch.« Teresa lächelte peinlich berührt. Normalerweise gehörte Lügen nicht zu ihren Angewohnheiten. »Ich wollte einfach nicht, dass du dir noch mehr Sorgen machst als sowieso schon«, lächelte sie ihren Freund um Verzeihung bittend an.
Inzwischen hatte Daniel Norden Gelegenheit gehabt, sich über die weitere Vorgehensweise Gedanken zu machen.
»Ich weiß zwar nicht, ob und wie Ihre Kreislaufschwäche mit der Entzündung zusammenhängt. Auf jeden Fall würde ich aber zu einem Klinikaufenthalt raten. Die Wunde am Fuß muss revidiert und dem Grund für den instabilen Kreislauf nachgegangen werden«, traf er eine Entscheidung, die Teresa sichtlich erschreckte.
»In die Klinik?«, fragte sie tonlos.
»Ein Kreislaufzusammenbruch kann immer einen ernsten Hintergrund haben«, erklärte Daniel und ging zum Telefon.
»Aber ich kann nicht in die Klinik. Was soll denn dann aus Anian werden? Er kann unmöglich allein zu Hause bleiben.«
»Wenn es sich nur um ein paar Tage handelt, kann ich ja sehen, dass ich kurzfristig Urlaub bekomme«, machte Marco sofort einen Vorschlag.
Daniel lächelte ihm dankbar zu. Auch wenn er es sich nicht anmerken ließ, machte ihm Teresas Zustand große Sorgen. Abgesehen von der Infektion war sie viel zu dünn und musste dringend aufgepäppelt werden. Sonst würde sie die Belastungen nicht mehr lange aushalten.
»Sehen Sie, es findet sich für alles eine Lösung«, erklärte der Arzt und hob den Hörer. »Und wenn alle Stricke reißen, kommt Ihr Bruder eben für eine Weile zu uns. In unserem Taubenschlag ist immer jemand da, der sich um Anian kümmern kann.« Und ihm nebenbei ein paar Flausen auszutreiben!, ging es ihm durch den Sinn, bevor er die Nummer der Behnisch-Klinik wählte und einen Wagen für Teresa Berger bestellte.
*
»Ah, da bist du ja wieder!«, begrüßte Paul seine Mitbewohnerin, als Olivia die Tür aufsperrte und mit entschlossenen Schritten an ihm vorbei in die Küche marschierte. »Ich hab schon auf dich gewartet. Es wird höchste Zeit für den Unterricht.«
»Geht nicht. Ich hab was zu tun«, erklärte Olivia resolut und stellte die Tüten und Taschen mit den Einkäufen auf dem Tisch ab. »Mach dich lieber mal nützlich, und räum den Kühlschrank ein«, befahl sie noch, als sie die Küche verließ und in ihr Zimmer ging.
»Hey, bin ich dein Angestellter, oder was?«
»Auf jeden Fall nicht mein Erziehungsberechtigter«, gab Olivia unfreundlich zurück und warf die Tür hinter sich ins Schloss.
Ohne Umwege ging sie auf das Bett ihrer Mutter zu und setzte sich davor auf den Boden. Sie hob den Überwurf und zog die Schachtel hervor, die sie völlig vergessen hatte. Ihre Hände zitterten, und ihr Atem ging schnell, als sie den Deckel abnahm. Wie Daniel Norden vermutet hatte, fanden sich unter Fototaschen und Briefen ein Stapel Tagebücher.
Eine Weile starrte Olivia darauf und haderte mit sich. Wollte sie wirklich wissen, was in diesen Büchern stand? Und was, wenn ihre Hoffnungen enttäuscht wurden?
Während sich Olivia in ihrem Zimmer verbarrikadierte, stand Paul ratlos in der Küche und sah die Tüten und Taschen an. Während er darüber nachdachte, was das Mädchen wohl in diesem Augenblick machte, räumte er gedankenverloren die Lebensmittel ein, die sie eingekauft hatte. Er war so versunken in seine Arbeit, dass er nicht hörte, wie das Telefon klingelte.
»Geht mal jemand an das verdammte Telefon!« Erst Olivias tränenerstickte, wütende Stimme riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Am liebsten wäre er sofort zu ihr gegangen. Da ihre Stimme aber nichts Gutes verhieß, ging er lieber