Dr. Norden Staffel 2 – Arztroman. Patricia Vandenberg

Dr. Norden Staffel 2 – Arztroman - Patricia Vandenberg


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bemerkte. Er wandte den Kopf und sah Olivia. Ihre Augen waren gerötet von Tränen. Und sie starrte ihn unverwandt an. »Ja, natürlich kann ich«, erklärte er mechanisch in den Hörer. »Ich werde pünktlich sein. Sie können sich auf mich verlassen.« Ohne Olivia aus den Augen zu lassen, legte Paul auf. Sie starrte unverwandt zurück, sagte aber kein Wort. »Das war die Schule«, fühlte Paul sich auf unerklärliche Art und Weise zu einer Erklärung verpflichtet. »Ein Lehrer ist überraschend ausgefallen, für länger. Ich kann nächste Woche anfangen.« Verlegen rieb er sich die Nase. »Hab zugesagt. Wegen dir, ich muss ja schließlich ein Vorbild sein.« Pauls Lächeln war schief.

      »Warum hast du überhaupt aufgehört?«, fragte Olivia, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie lächelte nicht zurück, und Paul seufzte.

      »Das ist eine lange, sehr traurige Geschichte. Ich glaub kaum, dass dich das interessiert.«

      »Das sollte sie aber wahrscheinlich.« Olivia schluckte, und Paul sah, wie sie mit der Beherrschung kämpfte. Das Buch in ihrer Hand zitterte wie ein Blatt im Wind.

      »Ich versteh nicht …, ich meine …«, stammelte er hilflos. Dieses Mädchen machte ihn noch verrückt. Sie nahm ihm alle Souveränität, ließ ihn dastehen wie einen Idioten.

      »Na ja, man hat sich doch für seine Familie zu interessieren, oder?«, gab sie ihm aber keine Gelegenheit, den Satz zu beenden. »Zumindest ist es das, was ich von meiner Großmutter gelernt und was ich von meiner Mutter erwartet habe.«

      Paul verstand immer weniger.

      »Du sprichst in Rätseln«, gestand er offen.

      In diesem Moment verlor Olivia die Beherrschung.

      »Oh Mann, wer von uns ist denn der schlaue Oberlehrer?«, schrie sie ihn außer sich vor hilflosem Zorn an. »Wer hat denn eine Eins in Mathe und will mir unbedingt was beibringen? Dann müsstest du doch längst ausgerechnet haben, dass ich deine Tochter bin.«

      Als die Wahrheit ausgesprochen war, schien plötzlich alle Energie aus Olivia gewichen zu sein. Auf einmal sah sie aus wie ein kleines Mädchen, das mit hängenden Schultern vor seinem Vater stand und auf eine Umarmung wartete.

      Doch Paul war zu keiner Reaktion fähig. Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich, mit einem Schlag war seine mühsam hergestellte Ordnung ein einziges Chaos.

      »Was sagst du da?«, fragte er ungläubig.

      »Seit wann bist du auch noch schwerhörig?«

      Eine Weile sagte keiner der beiden ein Wort. Jeder versuchte für sich selbst zu fassen, was eben geschehen war.

      »Du bist meine Tochter«, wiederholte Paul irgendwann mechanisch. Erst nach und nach sickerte die Bedeutung dieser ungeheuerlichen Worte in sein Bewusstsein. »Meine Tochter. Ich habe eine Tochter.« Das ungläubige Staunen, das sich langsam auf seinem Gesicht ausbreitete, brachte Olivia voll­ends aus dem Konzept. Mit einem Mal verpuffte ihre Wut, und zurück blieb eine riesige Ratlosigkeit.

      »Ich hab nie verstanden, warum Mama wollte, dass ich hierher in das Haus komme«, erklärte sie schließlich leise und schluckte an den Tränen, die ihr in die Augen stiegen. »Aber jetzt ist die Sache klar. Sie wollte, dass wir uns kennenlernen. Du bist mein Vater.«

      »Olivia, du musst mir glauben, das hab ich nicht gewusst. Es war eine Nacht, eine einzige Nacht«, beteuerte Paul. »Danach habe ich deine Mutter aus den Augen verloren. Erst nach diesem Unfall fiel mir ein Buch von Christine in die Hände, und ich kehrte zu euch zurück. Als Freund«, stöhnte er auf und vergrub das Gesicht in den Händen. »Sie hat mir nie gesagt, wer du bist, was sie für mich empfand.«

      »Welcher Unfall?«, fragte Olivia gnadenlos weiter. Sie musste die ganze Wahrheit wissen. Jetzt. Sofort.

      Tränen quollen durch Pauls Hände, und er schüttelte den Kopf. Trotzdem antwortete er.

      »Meine Frau und ich hatten einen Streit. Sie saß am Steuer und war so wütend auf mich, dass sie nicht aufpasste«, gestand er mit gebrochener Stimme. Es fiel ihm nicht leicht. Aber auch er wusste, dass es sein musste. »Sie war sofort tot, während ich überlebt habe. Danach war nichts mehr wie vorher.«

      Die Stille, die sich danach im Zimmer ausbreitete, war erdrückend. Weder Olivia noch Paul wussten, wie es jetzt weitergehen sollte. Für diese Situation hatte Christine ihnen kein Drehbuch hinterlassen. Jetzt waren Vater und Tochter auf sich allein gestellt.

      Es war Olivia, die schließlich eine Entscheidung traf. Sie drehte sich um und wollte das Wohnzimmer verlassen.

      »Geh nicht!«, hörte sie Pauls Stimme in ihrem Rücken.

      »Es ist zu spät.«

      »Nein, das ist es nicht.« Mit wenigen großen Schritten war er hinter ihr. Behutsam fasste er sie an den Schultern und drehte sie zu sich um. Pauls Blick zeugte von der Entscheidung, die er getroffen hatte. »Ganz im Gegenteil.« Überrascht stellte er fest, dass seine Stimme entschlossen und sicher war. »Das Leben hat uns eine neue Chance gegeben. Die sollten wir nutzen. Ich will es. Du auch?«

      Aus tränenblinden Augen stand Olivia vor ihrem Vater. Sie war wütend, glücklich, traurig, euphorisch, alles auf einmal. Doch statt Paul all das entgegenzuschleudern, stürzte sie sich in seine Arme und genoss das unglaubliche Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Das Waisenkind hatte wieder ein Zuhause und endlich den Vater, nach dem es sich so lange gesehnt hatte.

      *

      Obwohl Felicitas ihrem Sohn die Hilfe verweigert hatte, brachte sie es schließlich doch nicht übers Herz und fuhr zu Tatjana in die Bäckerei. Sie hatte Glück und traf sie allein an.

      »Fee, das ist ja eine Überraschung!« Die junge Frau begrüßte die Mutter ihres Freundes mit einer innigen Umarmung. »Was kann ich für dich tun?«

      »Erstens kannst du mir eine Tasse von eurem köstlichen Kaffee kochen. Und zweitens kannst du mir zuhören«, erwiderte Fee und legte die Handtasche auf den Tresen. Sie musste die Chance nutzen, solange sie noch allein waren.

      Bei diesen Worten wurde Tatjanas Herz schwer.

      »Gut«, stimmte sie mit belegter Stimme zu und machte sich daran, Fees ersten Wunsch zu erfüllen.

      »Weißt du eigentlich, dass du meinen ältesten Sohn gerade furchtbar überforderst?«, fragte Felicitas, als Tatjana die Tasse vor sie hinstellte.

      »Ich? Danny? Womit denn?«, fragte die junge Frau ungläubig und bewies Fee damit, dass sie goldrichtig mit ihrer Vermutung lag. Das junge Paar hatte sich in ein fürchterliches Missverständnis verrannt und redete ganz offensichtlich aneinander vorbei.

      »Danny weiß, zu wem er gehört und mit wem er zusammen sein will. Er hat nicht den Hauch einer Ahnung, warum du ihm seine Freiheit anbietest.«

      »Aber …«, wollte Tatjana einwerfen, als Fee lächelnd die Hand hob. Sie war noch nicht fertig.

      »Dein Großmut in allen Ehren, meine Süße. Aber manchmal ist etwas weniger durchaus mehr. Wenn Danny gehen wollte, dann würde er das mit Sicherheit tun. Die Tür würde ich ihm aber nicht vorher schon aufhalten«, packte sie ihren Rat in ein paar muntere Worte. Die Botschaft kam trotzdem an.

      Zerknirscht biss sich Tatjana auf die Unterlippe.

      »Du hast ja recht«, gestand sie kleinlaut. »Ich konnte nur den Gedanken nicht ertragen, dass ich ihm irgendwann vielleicht nicht mehr genüge. Dass er sich eine Frau wünscht, mit der er fachsimpeln kann. So eine wie du.«

      In diesem Augenblick brach Fee in schallendes Gelächter aus.

      »Ich glaube, Danny ist ganz froh, meinen mütterlichen Klauen endlich entkommen zu sein.« Immer noch lachend schüttelte sie den Kopf, und Tatjana konnte nicht anders, als in ihr Lachen einzustimmen. Die düsteren Wolken an ihrem Himmel hatten sich verzogen, und die Welt war wieder bunt und schön. Und plötzlich wusste Tatjana, dass sie keine Sekunde länger in der Bäckerei bleiben konnte.

      »Du hast doch so vielfältige Talente!«, sagte sie zu Fee und lief nach hinten, um ihre Tasche zu holen.

      Felicitas,


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