Siegen ist Kopfsache. Matt Fitzgerald
zu verstehen, und ihnen zu zeigen, wie sie die Taktiken der erfolgreichsten Athleten nachahmen können, um mit diesen Herausforderungen umzugehen.
Die neue Psychologie des Ausdauersports kann keine komplette Klassifizierung effektiver Bewältigungsstrategien für Ausdauersportler bieten. Jede Verhaltensweise, jeder Gedanke und jede Emotion, die es einem Athleten ermöglicht, bessere Leistung zu bringen, qualifiziert sich als effektive Bewältigungsstrategie. Das ist eine sehr lange – und tatsächlich endlose – Liste. Es gibt jedoch eine Handvoll herausstechender Bewältigungsstrategien, auf die die erfolgreichsten Wettkämpfer durchweg vertrauen, um die größten Herausforderungen, denen sich Ausdauersportler stellen müssen, zu meistern. Diese Strategien und Herausforderungen stehen im Fokus der folgenden Kapitel.
Wir wissen, dass körperliche Fitness nur zu einem Teil durch Training entsteht – der Rest liegt in den Genen. Sammy Wanjiru hat hart trainiert, um fit genug dafür zu werden, Marathons zu gewinnen, aber dank seiner Genstruktur war er ohne Training schon fitter, als die meisten Läufer selbst mit dem härtesten Training je sein werden. Mentale Fitness ist ebenfalls teils angeboren. Einige Athleten sind von Natur aus darauf konditioniert, über heiße Kohlen zu gehen. Sammy Wanjiru war einer von ihnen. Er hatte die angeborene Fähigkeit, mit einer enormen Menge wahrgenommener Anstrengung umzugehen. Diese Fähigkeit scheint in jeder Faser seiner Persönlichkeit verwoben zu sein.
Sammy hatte auch eine rücksichtslose Seite. Sie zeigte sich im Alltag, als er beispielsweise seine Frau mit einem AK-47-Sturmgewehr bedrohte oder – nur sieben Monate nach dem Chicago-Marathon 2010 – betrunken von einem Balkon zu Tode stürzte. Er zeigte dieselbe Rücksichtslosigkeit auf der Rennstrecke, als er an einem heißen Tag die ersten 1,5 Kilometer des Olympia-Marathons in 4:41 Minuten rannte. Es war diese fest verankerte Rücksichtslosigkeit, die Sammy mental fitter machte als andere Läufer mit ähnlich viel Talent.
Aus psychologischer Perspektive ist Ausdauerleistung eine Art der Selbstregulierung, oder der Prozess, durch den Organismen ihren inneren Status und ihr Verhalten beim Verfolgen ihrer Ziele kontrollieren. In einer Studie über Selbstregulierung wurde das Konzept der Persönlichkeit durch das des Bewältigungsstils ersetzt. Dieses alternative Konzept nimmt die Idee auf, dass das, was wir Persönlichkeit nennen, nicht nur bei Menschen existiert, sondern auch in Tieren, und dass es einen praktischen Zweck erfüllt. Ein Bewältigungsstil ist ein charakteristischer Satz individueller Verhaltensweisen, Emotionen und (im Fall von Menschen) Gedankenmuster, auf die zurückgegriffen wird, um auf die Herausforderungen des Lebens zu reagieren. Anders ausgedrückt: Ein Bewältigungsstil ist die Summe der charakteristischen Bewältigungsstrategien oder -merkmale einer Person. Wie alle Eltern bestätigen können, sind Bewältigungsstile weitestgehend angeboren. Ausgeprägte Persönlichkeitsmerkmale zeigen sich schon von Geburt an bei Babys, manchmal sogar früher. Wer von Natur aus jemand ist, der über glühende Kohlen geht, hatte das Glück, mit einem Bewältigungsstil geboren worden zu sein, der sich in Form einer gut ausgeprägten mentalen Fitness im sportlichen Bereich manifestiert.
»Glück« ist aber nicht immer das richtige Wort. Ein Bewältigungsstil, der im Sportbereich vorteilhaft ist, kann sich im Alltag als ungut erweisen. Wie im Fall von Sammy Wanjirus tödlicher Rücksichtslosigkeit, einem Charakterzug, der neuesten neuropsychologischen Untersuchungen zufolge auf eine abnorme Verdrahtung des serotonergen Systems seines Gehirns zurückzuführen sein könnte. Andere Bewältigungsstile sind sowohl auf als auch abseits der Rennstrecke vorteilhaft. Louis Zamperini zum Beispiel ermöglichte es sein ungezügelter, tief verwurzelter Optimismus, im Alter von 19 Jahren die 5.000 Meter bei der amerikanischen Olympia-Qualifikation zu gewinnen. Dieser half ihm später auch, 47 Tage lang schiffbrüchig auf hoher See und mehr als zwei Jahre Folter, Hungern und Krankheit als Kriegsgefangener in den Händen der Japaner zu überleben. Zamperinis natürlicher Optimismus könnte auch der Grund dafür gewesen sein, dass er selbst in seinen 80ern noch Skateboard fuhr und schließlich 97 Jahre alt wurde.
Es ist unmöglich, ein siegreicher Ausdauersportler zu werden, wenn man nicht von Natur aus in hohem Maße körperlich fit ist. Gilt das Gleiche für mentale Fitness? Wenn es so wäre, wäre es sinnlos, die Bewältigungsstrategien – oder -stile – der Sieger nachzuahmen. Es ist ganz offensichtlich, dass die Rücksichtslosigkeit eines Sammy Wanjiru und der ungetrübte Optimismus eines Louis Zamperini nicht nachgeahmt werden können. Glücklicherweise sind solche Menschen, die von Natur aus dafür gemacht sind, über glühende Kohlen zu gehen, auch im Spitzensport die Ausnahme. Es gibt viele großartige Ausdauersportler mit »normalen« angeborenen Bewältigungsstilen, die im Laufe der Zeit mentale Fitness entwickeln und damit einen Weg vorgeben, den der Rest von uns auf seiner sportlichen Reise zu einem gewissen Grad nachahmen kann.
NEUN MONATE NACHDEM SAMMY Wanjirus Herz ihn zum Sieg beim Chicago-Marathon getragen hatte, sah ich das Herz eines anderen Spitzenläufers bei den USA Track and Field Outdoor Championships in Eugene, Oregon, versagen.
Es waren noch zweieinhalb Runden des Frauenrennens über 5.000 Meter zu laufen und Alissa McKaig hatte sich auf Position neun festgebissen, als die amerikanische Rekordhalterin Molly Huddle vorn einem harten Angriff ansetzte. Alissas Mannschaftskollege David »Janko« Jankowski stand in einer Traube Zuschauer hinter einem Maschendrahtzaun an Kurve vier. Als Alissa dort vorbeilief, setzte er die Hände an den Mund.
»Gib Gas!«, schrie er. »Wie sehr willst du das hier?«
Genau das war das Problem. Alissa wollte es zu diesem Zeitpunkt nicht – nicht so sehr wie Molly Huddle zumindest. Wenn Alissa hätte stehenbleiben und Jankos Frage beantworten können, hätte sie darauf beharrt, dass sie unbedingt unter den Top 3 ins Ziel kommen und ihr Ticket zur Weltmeisterschaft lösen wollte – und sie hätte das auch wirklich so gemeint. Aber die Art und Weise wie sie lief, sprach eine andere Sprache. Der einzige Beweis dafür, dass man etwas mehr will, ist, mehr zu leiden, und auf diesen 1.000 Metern, die sie im größten Rennen, das sie je gelaufen war, noch zurückzulegen hatte, war Alissa schon mit einem Fuß von den glühenden Kohlen gestiegen. Und sie hasste sich dafür.
Am Anfang der vorletzten Runde schaltete Molly Huddle geschmeidig in den nächsten Gang – einen Gang, den zwei der drei Frauen direkt hinter ihr nicht hatten. Sie mussten so schnell abreißen lassen wie Rennautos mit Motorschaden. Die einzige Läuferin, die Huddles Tempo mitgehen konnte, war Angela Bizzarri, eine bisher recht unauffällige 23-Jährige, die das Rennen ihres Lebens machte – das Rennen, das Alissa McKaig eigentlich hätte machen sollen. Als die Glocke die letzte Runde einläutete, legte Huddle die Karten auf den Tisch. Sie zog Bizzarri mit Leichtigkeit davon und holte sich den Sieg.
Mehr als 20 Meter dahinter war Alissas Sturm auf das Ziel weniger von wettkämpferischem Feuer getrieben als von dem tiefen Wunsch, ihren Qualen endlich ein Ende zu setzen. Sie schloss zu Elizabeth Maloy auf und überholte sie, aber nur, weil diese einbrach. Dann machte Lauren Fleshman das Gleiche mit Alissa. Nicht mehr in der Lage, sich darüber Gedanken zu machen, versuchte Alissa nicht einmal mehr zu reagieren und blieb an neunter Stelle, bis sie, zum Glück, endlich über die Ziellinie lief.
Mit gesenktem Kopf schlich sie von der Bahn, holte ihre Tasche von einer Aufbewahrungsstation unter der Haupttribüne West ab und ging hinüber zur Aufwärmbahn dahinter. Janko hatte sie dort bald gefunden. In dem Moment, in dem sich ihre Blicke trafen, brach Alissa zusammen. Janko tat nicht viel, um sie zu trösten. Er wusste, dass sie das nicht wollte. Schweigend bis auf ihr Schniefen zog sich Alissa Tights und ein langärmliges Aufwärmtop an und begann zu joggen. Janko lief neben ihr her. Während sie so dahinliefen, stellte Alissa fest, dass ihr Körper sich erstaunlich frisch anfühlte, nicht so, als hätte sie eben einen Wettkampf gemacht. Ihr Selbsthass wurde stärker.
Alissa war eine talentierte Läuferin, die hart an sich arbeitete. Allein im letzten Jahr war sie Sechste bei den amerikanischen Cross-Country-Meisterschaften geworden und Fünfte bei den amerikanischen Marathon-Meisterschaften der Frauen. Aber es war ihr schon öfter passiert, dass sie in einigen der größeren Rennen nicht ihr Potenzial abrufen konnte. Ein paar Stunden vor dem diesem jüngsten Vorfall hatte Alissa gerade letzte taktische Instruktionen von ihrem Trainer, Pete Rea, bekommen, als sie in Tränen ausbrach. Rea rekonstruierte diese Szene später für mich.
»Alissa, was ist los?«, fragte er.
»Ich