Siegen ist Kopfsache. Matt Fitzgerald
Benzin ausgeht, sondern eines des Willens.
Beweise dafür, dass Athleten immer eine physische Reserve haben, wenn sie den Erschöpfungspunkt erreichen, liefern verschiedene Studien. Darunter einige, bei denen die Probanden gebeten wurden, bis zur Erschöpfung zu trainieren, anschließend wurden ihre Muskeln elektrisch stimuliert, um zu testen, ob sie hätten weitermachen können, wenn die Athleten willens gewesen wären, sie zum Weitermachen zu bringen – und jedes Mal kam heraus, dass sie hätten weitermachen können.
Das soll heißen: Anstrengungswahrnehmung ist, wie hart sich eine Belastung für einen Athleten anfühlt. Sie unterscheidet sich von Schmerz, Ermüdung, Propriozeption und anderen Wahrnehmungen, die Athleten während eines Rennens spüren, und sie ist die wichtigste Quelle von Unwohlsein, die dazu führt, dass Athleten langsamer werden oder aufgeben, wenn sie im Wettkampf den Mann mit dem Hammer treffen. Athleten nennen dieses Gefühl für gewöhnlich »Ermüdung«, aber Ermüdung ist eine andere Wahrnehmung und viel schwächer als Anstrengung. Wenn man die Ziellinie eines harten Wettkampfs erreicht und anhält, fühlt man sich sofort viel besser, selbst, wenn das Anhalten keinen unmittelbaren Effekt auf das Ermüdungslevel hat. Warum fühlt man sich besser? Weil die Anstrengung aufgehört hat.
Wenn Sie ein Gefühl dafür bekommen möchten, wie sich ein hohes Maß wahrgenommener Anstrengung isoliert von Ermüdung anfühlt, suchen Sie sich einen steilen Hügel. Wärmen Sie sich auf und rennen Sie anschließend so schnell Sie können den Anstieg hinauf. Dieses Gefühl, am Anschlag zu sein, das sofort, früher als die Ermüdung, einsetzt, ist das Gefühl eines hohen Maßes wahrgenommener Anstrengung.
Vergleichen Sie nun die Situation, die ersten Meter eines Vollgas-Bergaufsprints hinter sich gebracht zu haben, mit der Situation, noch 1,5 Kilometer von der Ziellinie eines Marathons entfernt zu sein. Diese beiden Erlebnisse unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht. Beim Bergaufsprint sind Ihre Muskeln angestrengt, aber schmerzen nicht, wohingegen im Marathon Ihre Muskeln eher schmerzen als angestrengt sind. Aber etwas ist bei beiden gleich: ein mächtiges Gefühl generellen Widerstands gegen Ihren Willen, sich zu bewegen, ein Gefühl, am Limit zu sein, das nirgends und gleichzeitig überall in Ihrem Körper ist (an sich so ähnlich wie Ermüdung, wenn man sie während einer Ruhephase fühlt, zum Beispiel, wenn man Grippe hat). Wenn man Sie in beiden Situationen fragen würde, wie sehr Sie sich anstrengen, würden Sie vermutlich sagen: »So sehr wie ich kann!« – und in beiden Fällen das Gleiche meinen.
Was sich die letzten 1,5 Kilometer eines Marathons genauso hart anfühlen lässt wie die ersten drei oder vier Schritte eines kurzen Bergaufsprints, ist der Effekt, den die Ermüdung auf die Angstrengungswahrnehmung hat. Die Neurophysiologie der Anstrengungswahrnehmung ist komplex und noch nicht gänzlich erforscht, aber sie scheint eng mit der Aktivitätsintensität bestimmter Hirnareale zusammenzuhängen, die für die Muskelkontraktion zuständig sind. Diese Hirnareale sind von Beginn an eines Vollgas-Bergaufsprints äußerst aktiv, sodass sich die Anstrengung sofort sehr hoch anfühlt. Dieselben Hirnareale sind auf den ersten Kilometern eines Marathons viel weniger aktiv, aber sie werden mit wachsender Renndauer immer aktiver, die Muskulatur ermüdet, reagiert also immer weniger auf das Peitschenschwingen des Gehirns, was wiederum das Gehirn zwingt, härter zu arbeiten, um die gleiche Leistung aus den Muskeln zu bekommen.
Es gibt aber einen Trick. Das Gehirn selbst wird während einer langen Belastung auch müde, und ein müdes Gehirn nimmt die Anstrengung als größer wahr. Samuele Marcora bewies dies in einer Studie, die im Jahr 2009 im Journal of Applied Physiology veröffentlicht wurde, und in der er die Gehirne seiner Probanden ermüdete, bevor er sie einen Ausdauertest absolvieren ließ. Die Probanden bewerteten die wahrgenommene Anstrengung als höher und brachen früher ab, als wenn sie den gleichen Ausdauertest ohne vorherige Gehirnermüdung absolvierten. Ich habe Ausdauersport als Spiel von Kopf über Körper bezeichnet, aber es wäre wohl treffender, es ein Spiel von Geist über Gehirn und Muskulatur zu nennen.
Die Tatsache, dass Anstrengungswahrnehmung im Gehirn entsteht und nicht im Körper, erklärt, warum es eine lange Liste an Faktoren gibt, die die Ausdauerleistung verbessern, ohne dass man die physischen Fähigkeiten verbessert. Wenn ich Sie bitten würde, ein simuliertes Zeitfahren über 15 Kilometer auf einem Standrad zu absolvieren, und das Gleiche nochmals fünf Tage später verlangte, nachdem Sie Koffein zu sich genommen haben, würden Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit beim zweiten Zeitfahren besser abschneiden. Wenn ich Sie bitten würde, in 30 Minuten so weit zu rennen, wie Sie können, und fünf Tage später wieder das Gleiche verlangte, während Sie schnelle Musik hören, würden Sie erneut beim zweiten Test besser abschneiden. Und wenn ich Sie bitten würde, so schnell wie möglich 700 Kilokalorien auf einem Ruderergometer zu verbrennen, und fünf Tage später wieder das Gleiche von Ihnen verlangte, nachdem Inselrinde und Temporallappen Ihres Gehirns elektrisch stimuliert wurden, würden Sie ebenfalls sehr wahrscheinlich beim zweiten Mal besser abschneiden.
Koffein, Musik und transkranielle Elektrostimulation konservieren weder Glykogen, noch neutralisieren sie Laktat oder erhöhen die physischen Fähigkeiten in irgendeiner Weise. Dennoch erhöhen sie die Ausdauerleistung tatsächlich. Sie beeinflussen das Gehirn, nicht die Muskulatur, und wirken, indem sie die Rennintensität sich leichter anfühlen lassen. Wenn Radfahren, Laufen oder Rudern in Rennintensität sich leichter anfühlt, können Athleten näher an ihre wahre physische Grenze kommen, bevor ihre maximale Leidenstoleranz erreicht ist. Aber selbst wenn Sie vor einem Ausdauertest Koffein genommen und eine Elektrostimulation für Ihr Gehirn bekommen hätten und Sie während des Tests Ihrer liebsten hochenergetischen Musik lauschten, würden Sie dennoch nicht 100 Prozent Ihres physischen Potenzials umsetzen können. Egal was Sie tun, Sie werden immer eine physische Reserve am Ende eines jeden Rennens oder Zeitfahrens haben, das länger als 30 Sekunden dauert. Die 30-Sekunden-Grenze werde ich in Kapitel 3 erklären.
Obwohl kein Athlet jemals sein absolutes physisches Limit in einem Wettkampf erreicht, kommen manche Athleten ihm näher als andere. Ein Athlet, der nur ein wenig näher an sein physisches Limit gehen kann im Vergleich zu einem anderen Athleten, der etwas stärker ist, könnte diesen in einem Kopf-an-Kopf-Rennen besiegen.
Es gibt zwei Arten, ein Rennen zu gewinnen. Man kann gewinnen, indem man die besseren physischen Fähigkeiten mit in den Wettkampf bringt, oder man kann gewinnen, indem man mehr aus etwas geringeren physischen Fähigkeiten herausholt. Nur sehr selten haben siegreiche Ausdauersportler ihren Erfolg ihren physischen Fähigkeiten zu verdanken. Viel öfter beharren sie darauf, dass ihr Vorteil nicht darin begründet liegt, mehr leisten zu können, sondern mehr von dem nutzen zu können, was sie zu leisten fähig sind. Frühere Generationen von Sportwissenschaftlern haben solche Aussagen als Wunschdenken abgetan. Aber das Psychobiologische Modell der Ausdauerleistung schenkt der Weisheit der Sieger Glauben und geht davon aus, dass die Fähigkeit seine physischen Fähigkeiten anzusteuern ebenso wichtig ist wie die physischen Fähigkeiten selbst.
Ein Rennen ist wie über glühende Kohlen zu laufen. Wenn der Wettkampf beginnt, stehen Sie vor einem Feld glühender Kohlen, an dessen anderem Ende eine Wand in die Höhe ragt. Die Wand symbolisiert Ihr ultimatives physisches Limit. Sie werden es nie erreichen. Ihr Ziel ist es lediglich, so nah an die Wand heranzukommen wie möglich, weil sie eine bessere Leistung bringen, je näher Sie ihr kommen. Mit fortschreitender Renndauer sinken Ihre nackten Füße immer wieder in die glühend heißen Kohlen ein. Jeder Schritt wird schmerzhafter als der vorige. (Vergessen Sie nicht: Schmerz ist etwas anderes als Anstrengungswahrnehmung. Dies ist eine Metapher.) Schließlich erreichen Sie das Limit Ihrer Schmerztoleranz und Sie sind gezwungen, aus der glühenden Kohle zu springen und das Feld zu verlassen. Der Abstand zwischen diesem Punkt und der Wand ist der Maßstab, welche Leistung Sie in Relation zu Ihrem vollen Potenzial erbracht haben.
Ihre physische Fitness bestimmt, wo die Wand steht, die Ihr physisches Limit symbolisiert. Ihre mentale Fitness bestimmt, wie nah Sie im Wetttkampf an dieses Limit herankommen können. Mentale Fitness ist eine Ansammlung von Bewältigungsstrategien – Verhalten, Gedanken und Emotionen, die Athleten dabei hilft, das Unwohlsein und den Stress einer sportlichen Erfahrung zu meistern: Indem sie die Toleranz für die wahrgenommene Anstrengung erhöht und die Höhe der Anstrengung, die bei jeder beliebigen Belastungsintensität wahrgenommen wird, verringert. Das, was ich die neue Psychologie des Ausdauersports nenne,