Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
solchen Stimmungen waren Namensumtaufungen sein Lieblingsvergnügen. Ihre gemeinsame stolze Vaterstadt nannte er Muhheim; die hiesige Politik eine periodische Aufregung darüber, ob man den Franz oder den Fritz wählen solle. Statt eine «Roheit» sagte er: ein «Patriotismus», statt eine «Grobheit»: eine «Germanität»; Taktlosigkeiten nannte er «Dialektfehler der Seele»!
Zuweilen ärgerte er sie auf weiten Umwegen mit scheinheiliger, unschuldiger Miene. Zum Beispiel mittels Anekdoten und Denkwürdigkeiten, die er für den guten Zweck schlankweg erfand. – «Kennen Sie, Frau Direktor», konnte er harmlos anheben, «die Anekdote von der Gräfin Stepansky, Beethoven und dem Kapellmeister Pfuschini?»
«Ich will sie gar nicht kennen», schnurrte sie, eine Bosheit witternd.
«Da haben Sie unrecht, sehr unrecht, denn sie ist ebenso lehrreich wie ergötzlich. Als die Gräfin Stepansky, welche den Beethoven und den Pfuschini gleichzeitig zu Tisch gehabt hatte, gefragt wurde, welchen von den beiden sie für den Bedeutenderen halte, den Beethoven oder den Pfuschini, zog sie ein überlegen gescheites Gesicht: ‹Das läßt sich nicht vergleichen; jeder in seiner Art; sie ergänzen einander.›»
«Überhaupt die Musik und die Frauen! Wollen wir einen Versuch anstellen, gnädige Frau? Lassen Sie das genialste Musikmädchen im Konservatorium ausbilden, halten Sie nachher jede männliche Anregung von ihr fern, und sehen Sie nach zehn Jahren nach: sie hat den Flügel abgeschlossen und sich eine Katze angeschafft. Den Flügel, weil sie keine Zeit hat, die Katze, weil sie nicht weiß, was mit der vielen Zeit anfangen.»
Und als sie wieder einmal im Gespräch den Überwert des Weibes vor dem Manne behauptete: «Ich würde Ihnen mit Vergnügen beipflichten», sagte er, «wenn nur nicht die Frauen selber in unbeobachteten Augenblicken den Mehrwert des Mannes predigten.»
«?»
«Nun, freilich. Denn wenn einer Mutter nach sechs weiblichen Mißgeburten endlich ein Bub gelungen ist, so erhebt sie ein Siegesgegacker, als hätte sie den Messias geboren. Und alles Weibliche auf eine Quadratmeile im Umkreis eilt freiwillig herbei, um dem wundersamen Übermädchen unterwürfig zu dienen. Der ‹Bube›, der ‹Bubi›, der ‹Bub›! als wäre ein Bube ein Weltwunder. Aus dem Messias wird dann später ein Kantonsrat, wenn's hoch kommt.»
Mit alledem erreichte er in der Tat mühelos, was er erwartet hatte, nämlich ihren tiefsten, gründlichsten, herzinnigsten Abscheu. Nicht mehr «Rha! Cha!» rief sie bei seinem Anblick, sondern «Äh! Uäh!» wie vor einem schmierigen Lurch. Darüber frohlockte er dann, als hätte er weiß was für einen Sieg über sie errungen. «Siehst du jetzt», lachte er in sich hinein, «wie gleichgültig dein Urteil mir ist!» Und belustigt zog er einen Vergleich: «Von den Fröschen wolltest du sie erlösen, und nun bist du selber der Frosch.»
«Viktor, jetzt fange ich an, selber zu glauben, du bist wirklich verrückt. – Ein Grund mehr, um verrückt zu tun», lachte er.
Da hörte er eines Nachmittags, gerade wie er um eine Straßenecke biegen wollte, hinter sich mit lauter Stimme rufen: «Lama!» Und als er sich jähzornig nach dem Rufer umdrehte, fuhr die Stimme fort: «Du brauchst dich nicht umzudrehen; ich bin's, dein Verstand, der dich Lama nennt.»
«Mit welchem Rechte nennst du mich Lama?»
«Weil du mit Teufels Gewalt auf das Gegenteil von dem arbeitest, was du bezweckst.»
«Ich bezwecke ja gar nichts.»
«Doch, du bezweckst etwas, und ich will dir sagen, was. Du hast im geheimen, ohne daß du dir's selber gestehst, den Plan, das unerfahrene Dämchen dermaßen konfus zu ärgern, daß sie den Orient verliere und dir eines Tages vor lauter Horniszorn unversehens an den Hals fliege wie eine gewittertolle Bremse.»
«Und gesetzt der Fall, wäre denn die Berechnung gar so falsch? Es hat sich schon oft Weibeshaß urplötzlich in Liebe verwandelt.»
«Romani Romana», erwiderte der Verstand, «doch mach, was du willst, ich bin nicht deine Gouvernante!»
Viktor aber stutzte, von Zweifel berührt. Unsicher und verwirrt kehrte er nach Hause. Und wie er mit umsichtigem Geiste seine Stellung prüfte, erschrak er, von Schwindel ergriffen: er war auf einem falschen Wege; er hatte sich verstiegen. Nicht zu bestreiten, der Verstand hatte recht, Pseudas Haß war nicht von jener Art, die sich in Liebe verwandelt. Eine böse Entdeckung. Vorwärts konnte er nun länger nicht; denn nachdem ihm die geheime Hoffnung auf einen plötzlichen Umschlag geraubt war, hatte es keinen Sinn mehr, Pseudas Haß zu verstärken, das hieße ja nur, den Entfernungswinkel zwischen ihm und ihr zu vergrößern. Ja, aber was dann? Umkehren bis zum Ursprung und ganz von vorn anfangen? Sittiglich und sänftiglich zunächst ihren Haß beschwichtigen, hernach mühsam erst ihren Abscheu überwinden, hierauf die Abneigung heilen und dann geduldig, Schritt für Schritt, Stufe um Stufe um ihre gnädige Gunst werben? «Warum nicht gar! fällt mir nicht ein! Da müßte ich ja mein ganzes Selbstbewußtsein abdanken. Habe auch gar keine Zeit dazu. So weit sind wir übrigens, Gott sei Dank, noch lange nicht!» – Ja, aber wenn das nicht, was dann? Er mochte noch so scharf rundum spähen, nirgends ein Ausweg. Plötzlich stampfte er mit dem Fuße: «Wer verpflichtet mich denn, mich um sie zu kümmern? Mag sie bekehrt oder unbekehrt sein, im Sumpf oder im Tümpel waten, wenn sie will, was geht das mich an? Ich hin doch nicht ihr Beichtvater und Seelsorger. Oder meint sie etwa, ich gäbe Privatstunden in Psychologie? Viel zuviel Ehre, die ich ihr antat, sie zu ärgern. Aber ehe ich mich jemals wieder um sie bemühe, müßte sie mich erst angelegentlich darum bitten. Einstweilen fahr hin, ich kenne dich nicht. Was ist das – Frau Direktor Wyß? Lebt das im Wasser oder nistet es auf den Bäumen? Pickt es Körner oder frißt es Insekten? Gnädige Frau, haben Sie jemals einen Floh von einem Fingernagel springen sehen? Genauso springen Sie hiemit aus meinem Gedächtnis. Eins – zwei – drei! geschehen; nichts mehr. Pseuda, du bist nicht.»
Sprach's, drehte sich auf dem Absatz um und schlug ein Schnippchen. Oh, wie war ihm jetzt leicht, seit er dieses schädliche Geschöpf vergessen hatte! Ein böser Zahn, den er los war! Was nun mit der jungen Freiheit beginnen? Tausend köstliche Möglichkeiten winkten. «Wie wäre es zum Beispiel, wenn wir uns zur Abwechslung einmal in jemand verliebten?» Ein guter Einfall! denn seit unvordenklichen Zeiten hatte er diesen kleinen Sirup nicht mehr gekostet; das ist doch unnatürlich! Und zwar womöglich in ein ganz untergeordnetes, ungebildetes Geschöpf, damit, wenn sie's erfährt (und in diesem Klatschnest erfährt sie's sicher), es sie ärgert und demütigt. Also zum Beispiel in eine Kellnerin. Zu diesem Zwecke begab er sich, seinen Widerwillen gegen den Alkohol und dessen Huldinnen überwindend, ins nächste Wirtshaus. Pamela hieß sie, die ihn bediente. Die nötigte er neben seinen Platz und kandierte sie mit Redezucker, indem er nach bewährter Regel die Teile ihres Gesichtes einzeln einmachte. Eine Weile hörte die Pamela schmunzelnd zu, sich behaglich schmiegend wie eine Schnecke unterm lauen Mairegen. Bis sie unversehens rauchend und zischend hinter den Käsekatheder schnurrte, wie eine Katze, der man auf den Schwanz getreten hat. «Dummkopf, alter, ungebildeter!» keifte ihr Gruß. Ach so, er hatte ihre Perlenzähne gepriesen, und sie besaß gar keine Zähne mehr. Er hatte es nämlich nicht einmal über sich vermocht, sie nur anzusehen.
Am drittfolgenden Tage eilte ihm Frau Direktor Wyß freundschaftsstrahlend über die Straße entgegen. Ei sieh, welch eine plötzliche Verwandlung! Was soll das bedeuten? «Man darf, scheint's, Glück wünschen!» heuchelte sie, «auf wann die Hochzeit mit der Pamela?»
«Ach, du Verschmitzte!» – so hatte er's nicht gemeint.
Nein, mit der Liebe ging es nicht. Wie er gleich bei seiner Ankunft richtig geahnt hatte: auf diesem Kalkboden wächst keine Liebe. Versuchen wir's mit der Freundschaft. Ein gewisser Andreas Wixel, Archivar, war ihm hiefür besonders empfohlen, deshalb, weil ihn Frau Direktor Wyß nicht ausstehen konnte; einen scheuledernen Andreas pflegte sie ihn zu nennen. Für diesen Andreas verspürte er jetzt, unbekannterweise, plötzlich eine stürmische Zärtlichkeit, eilte, ihn aufzusuchen, und freundete sich ihm an, ganz gerührt von seinem scheuledernen Anblick. Der Wixel wiederum war gerührt von Viktors jäher Freundschaft, und um den Freundschaftsbund einzuweihen, verabredeten die beiden auf nächsten Sonntagnachmittag einen Ausflug auf die Guggisweid. Von dort stierten sie dann den unendlichen, schauerlichen