Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
führen). Also paß auf. Während sie Schmerzen leidet – meinst du nicht? –, will ich ebenfalls Schmerzen leiden, und zwar genau an der nämlichen Stelle, also an den Zähnen. Gelt, das ist fein? das ist hübsch? das ist eine höfliche Kriegsführung?» Ging hin und klingelte beim Zahnarzt Effringer, dessen Wohnung er leider schon kannte. Er solle ihm den und den Zahn ausziehen, begehrte er.
«Der Zahn ist ja ganz gesund! Sie meinen wahrscheinlich eher den faulen Stockzahn daneben? Um den Kerl wäre es allerdings nicht schade.»
Viktor kämpfte mit seinem Gewissen: Ist es auch anständig, mit dem Schmerz zugleich einen Nutzen zu verbinden? Schließlich entschied er sich doch lieber für den bösen Stockzahn als für einen gesunden.
Als dann der Effringer mit seinem Lachgas anrückte, meldete sich das Gewissen zum zweiten Mal: «Viktor, schäme dich! warst gekommen, um Schmerzen mit ihr zu leiden; und nun willst du Feiglings an den Schmerzen abmarkten.»
Wohl schämte sich Viktor. Allein in Anbetracht der unheimlichen Zange fand er es doch für zuträglicher, das tröstliche Zeug, das er zwar nicht verlangt hatte, nicht abzulehnen, als es freiwillig ankam. Um indessen sein Gewissen einigermaßen zu versöhnen, ließ er sich gleich noch einen zweiten Stockzahn ziehen, ebenfalls einen wurmstichigen, und wieder mit Lachgas.
Nachher auf dem Heimwege kam er nicht mit sich ins reine, ob er nun eigentlich etwas Ansehnliches geleistet habe oder nicht. Auf der einen Seite ist es doch nichts Alltägliches, sich zwei Zähne ziehen zu lassen, nur weil ein anderer Mensch Zahnschmerzen hat, andererseits sind zwei faule Zähne gerade kein so fleckenloses Opfer, und Schmerzen mit einem schmerzstillenden Mittel zu dulden, für dieses Martyrium hätte ihn schwerlich ein Papst heiliggesprochen. Allein er fühlte sich plötzlich ein wenig angegriffen und schwach, so daß er sich gerne irgendwo hingesetzt hätte. Als Privatmensch aber, der niemals Wirtshäuser besuchte, verfiel er nicht auf diese nächstliegende Auskunft, sondern wußte im Augenblick keinen anderen Rat, als trotz der ungebräuchlichen Stunde (es war ein wenig mehr als neun Uhr) die Gastlichkeit eines Bekannten in Anspruch zu nehmen. Frau Doktor Richard wohnte am Wege. Sie möchte gütigst entschuldigen, er fühle sich nicht ganz wohl. Eifrig besorgt machte sie sich um ihn zu schaffen; nötigte ihn aufs Sofa, zwang ihm ein Gläslein Malaga auf, das ihm wirklich gut tat, und als er sich dankend entfernen wollte, überredete sie ihn zu bleiben. «Sie sind immer noch ein bißchen blaß; ich versichere Ihnen, Sie stören mich nicht im mindesten.» – Als er ungefähr ein halbes Stündchen so dagesessen hatte, trat in Hut und Mantel ein lebhaftes, mutsprudelndes Fräulein herein.«Dieses hübsche Fräulein», sagte Frau Richard, «muß Ihnen besonders sympathisch vorkommen – abgesehen davon, daß sie ohnehin jedermann sympathisch vorkommt – oder nicht? –, ich meine besonders sympathisch, weil ihr Frau Direktor Wyß vorzeiten einmal das Leben gerettet hat.» Darauf vorstellend: «Fräulein Marie Leona Planita, die beste Klavierspielerin unserer Stadt, und zugleich, wie Sie bemerken, das reizendste Geschöpflein, das jemals den Männern den Kopf verdreht hat.»
«Ja, ohne Frau Direktor Wyß wäre ich nicht hier», bestätigte Fräulein Planita mit einem auflodernden Dankesfeuer im Blick, «und ich machte nicht so viele Dummheiten im Leben und Fehler in den Oktavengängen. – Ja», lachte sie, «sie hat mich aus der Taufe gehoben.»
Frau Doktor Richard gab ihm mit zwei Worten Aufschluß: Es war in der Schulzeit gewesen; beim Baden war die Marie Leona in eine Tiefe geraten, und die schöne Theuda (wie sie schon damals allgemein genannt wurde) hatte sie herausgezogen.
«Nur so eins, zwei in den Kleidern ins Wasser gesprungen, als wäre das die natürlichste Sache der Welt», ergänzte Fräulein Planita. «Ich sehe noch ihren Blick vor mir, wie er mich traf, als ich so mit den Händen herumpatschte und nicht schreien konnte, weil ich den Mund voll Wasser hatte. Ich hatte noch nicht einmal Zeit, tot zu sein, so war ich schon wieder am Leben. Aber übel war mir nachher! übel! das kann ich Ihnen sagen! – Ja, es gibt zwar viel Schönes in der Musik, und ich bin gewiß die erste, dies mit dankbarer Bewunderung anzuerkennen, aber alle Musik zusammen reicht doch an Schönheit nicht an den einzigen Blick heran, der mir zurief. ‹Getrost, Marie Leona, ich helfe dir.› Ein halb Dutzend Mädchen badeten in meiner nächsten Nähe, sie hätten bloß die Hand auszustrecken gebraucht; aber nicht eine von ihnen hat etwas gemerkt; sie hätten mich alle verzappeln lassen. – Und keins von uns beiden konnte schwimmen, weder ich noch Theuda. Wie wir da nicht beide zusammen ertrunken sind, begreife ich heute noch nicht.»
Bei dieser Erzählung machte Viktors Herz ein Gesicht wie der Bauer, wenn ihm ein Meteorstein vor den Pflug fällt. Wie bringt diese boshafte Frau Direktor Wyß es fertig, einer solchen edlen Aufopferung fähig zu sein? Oder versparte sie vielleicht ihre ganze Bosheit nur für ihn? Warum aber gerade denn für ihn? Hundert Gedanken pochten ungestüm an seinem Geist um Einlaß. Allein er vermochte gegenwärtig keinen Gedanken anzuhören; er mußte nur immer dieses frische, lebhafte Jüngferlein ansehen, welches ohne Frau Direktor Wyß im Grabe modern würde. Und als Fräulein Planita sich erhob, bot er ihr sein Geleit an, um die mit einem Wunder Behaftete noch länger ansehen zu können. «Darf ich Sie heimbegleiten, Fräulein Lazarus?» fragte er.
Sie lachte. «Ja, Fräulein Lazarus, so kann ich füglich heißen.»
«Oh, jetzt ist mir um unsern Viktor nicht mehr bange», scherzte Frau Richard, «denn wenn der ein hübsches Fräulein heimbegleiten darf, ist er augenblicklich genesen.»
Nachdem sich Viktor von Fräulein Lazarus verabschiedet hatte, fuhr er in seinen Gedanken fort: «Wenn ich am Ertrinken gewesen wäre, mir hätte sie nicht die Hand gereicht! O nein! mit Steinen hätte sie nach meinem Kopf geworfen! Doch halt! wer kommt dort? Fast hätte ich geglaubt – wahrhaftig, sie ist es: die leibhaftige Pseuda! Anscheinend ganz gesund und fröhlich, nicht einmal die bewußte Unglückswatte um die Wangen.» Jetzt, das ist merkwürdig, das gibt zu denken: hatte vielleicht das Opfer seiner beiden Zähne ihre Peiniger besänftigt? Eigentlich Wahnsinn; immerhin doch nicht ganz unmöglich. Im Bewußtsein seiner verdienstlichen Opferhandlung schritt er ihr ein wenig zuversichtlicher entgegen als sonst. Beinahe ein kleines Wörtlein des Dankes erwartete er. Siehe, da gaffte sie ihn fremdsachlich an, als ob sie ihn nicht erkenne, drehte sich abseits und betrachtete aufmerksam in gebückter Haltung, bis er vorüber war, einen Hut im Fenster einer Modenhandlung.
«Gut so! fahr weiter! Jetzt grüßt sie mich nicht einmal mehr! das fehlte eben noch!» Und mit königlicher Verachtung den Arm ausstreckend: «Da hast du's, so sind die Menschen! Während du dir ihretwegen die Nächte vergällst, den Schlaf versagst, verweigert sie dir den Gruß!» Und so niedrig schien ihm ihr Verhalten, daß er es mit erhabener Gleichgültigkeit aus dem Sinn warf. Aber empörend war es doch gewesen. Und die Empörung wühlte nun nachträglich seine Seele auf, mit jedem Schritt heftiger, unter bittern Gedanken, so daß es ihm schließlich geradezu wehe tat, als ob man in seinem Zorn ein Messer umdrehte. Entschieden, es war so: alles Böse ihm, das Gute den andern. Immerhin, wenn man's bedenkt: es braucht doch eine bodenlose Schlechtigkeit dazu, mit Steinen nach einem Ertrinkenden zu werfen! Und würgte beständig an dem bösen Brocken. Was aber geradezu teuflisch war: sie hatte gerade heute äußerlich noch viel schöner ausgesehen als je, seit er die Geschichte mit Fräulein Lazarus wußte.
Plötzlich tauchte in dem Erinnerungsbilde ein fraglicher Punkt auf. «Hat sie nicht hinter den Augen heimlistig gelächelt, als sie dich so fremdsachlich angaffte? Ihr Blick schien mir verdächtig.»
Er kam den ganzen Tag nicht zu einer bestimmten Ansicht hierüber. Aber als ihm abends im dunkeln Zimmer wie gewöhnlich wieder der Pseudakopf erschien, und zwar noch leuchtender als sonst, siehe da, kein Zweifel mehr, jetzt sah er es mit aller Deutlichkeit: sie lächelte heimlistig hinter dem Blicke.
Darob wallte sein Zorn: «Was soll dies Lächeln?» rief er drohend, «Lächeln ist eine vieldeutige Sprache; ich fordere redliche Auskunft. Pseuda, ich befehle dir, mir zu sagen, aus welchem Grunde du hinterlistig über mich lächelst.»
Anstatt einer Antwort erschien jetzt mitten zwischen dem hinterlistigen Lächeln ein spöttischer Punkt, der sich mehr und mehr vergrößerte.
Darob entfuhr ihm ein Wutschrei: «Weib, boshaftes! spotte nicht! Genug, daß du mich mit deinem giftigen Hasse verfolgst, täglich und stündlich hinter mir her, ohne