Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
nicht wahr, das begreifst du, mußt du mir's verzeihen; denn ich bin wirklich zu traurig.»
Vorzeitig trennte man sich, enttäuscht und übel zufrieden.
Viktor hatte seinen Regenschirm vergessen und kehrte zurück, um ihn zu holen. «Warten Sie», mahnte das Dienstmädchen, nachdem es den Schirm behändigt hatte, «das Gas ist bereits ausgedreht; ich komme gleich mit dem Licht.»
«Unnötig», wehrte er ab und war auch schon im Hausflur angelangt.
Da warnte ihn von oben Pseudas Stimme: «Geben Sie acht; vor der Haustür kommen noch drei Stufen.»
Die Warnung traf ihn, als blitzte am Himmel ein Fenster auf und ein Sonnenstrahl flöge in sein Herz, mit tausend lachenden Engeln besetzt, die gleichzeitig links und rechts absprangen. Wie! ihn, den sie haßte, und zwar mit vollem Rechte, ihn, der sie unaufhörlich belästigte, reizte, verfolgte, ihn, der ihr soeben noch ihren armen gastlichen Abend schnöde verdorben hatte, ihn warnte sie, damit ihm kein Leid zustoße! O Adel der Großmut, o unermeßliche Herzensgüte! Und du blinder, blöder Tropf, du hast es vermocht, dieses hohe Weib geringzuachten. Wenn denn hier einer verächtlich ist, wer ist es, du oder sie? Du bist es, Elender, denn du bist boshaft, sie aber ist gut. «Geben Sie acht», hast du gehört? Das hat sie dir gesagt, dir, mit ihrer Stimme. Wie Harfenpsalm und Glockenchor läutete der Spruch in seinem Herzen; trunken vor Bewunderung stürzte er von dannen, fieberisch, in taumelndem Lauf
Daheim, vor der Haustür, kehrte er sich um, nach der Richtung ihrer Wohnung, und breitete die Arme aus: «Imago», rief er ihren Namen. «Nein, mehr als Imago, denn deine Hoheit ist mit dem Pathos der Leiblichkeit geadelt. Theuda und Imago vereint in einer einzigen Person.» Dann, in sein Zimmer stürmend, versammelte er alle Völker seiner Seele. «Kinder! eine köstliche Nachricht. Ihr dürft sie lieben; lieben ohne Bedingung noch Vorbehalt, ohne Maß und ohne Schranken, je stärker, je inniger, desto besser. Denn sie ist edel, und sie ist gut.»
Ein tosender Freudenjubel jauchzte der Erlaubnis Dank; die ganze Arche Noah umtanzte ihn. Und immer neue Scharen, von deren Dasein er gar nichts gewußt hatte, jauchzten aus dem Hintergrunde herbei; Fackeln schwangen sie in den Händen, und Kränze trugen sie auf dem Scheitel. Lächelnd schaute er dem Feste zu, selber selig ob seiner Erlaubnis; gleich einem König, der nach jahrelangem, heftigem Widerstreben endlich eine Verfassung gewährt hat und den des Volkes ungeahnter Dank überwältigt. Da wallte durch die Menge würdigen Schrittes eine Gesandtschaft, angeführt von dem stolzen Ritter im weißen Friedensgewande, den Löwen an der Leine. «Gestatten Eure Majestät, Sie im Namen des gesamten Ritterstandes zu der gnädigen Gewährung zu beglückwünschen; wir haben diese Lösung von jeher für notwendig und billig erachtet.»
«Ja, warum hast du mir denn das nicht vorher gesagt?»
«Wie sollte ich mich erdreisten, Euer Majestät strengem Befehl zu widersprechen?»
Also die stolze Ritterschaft hatte gegen seine Liebe auch nichts einzuwenden? Nun stand er gänzlich sicher und fest, und sein Mut genas frei und froh. O Heil der Erlösung: lieben zu dürfen, wen man lieben muß.
Der Bekehrte
Mit dem Augenblicke, da sich ihm Pseuda in Imago verwandelte, mußte sie ihm in göttlichem Lichte erscheinen. Denn Imago war ja ein übersinnlich Wesen symbolischer Abkunft: die erlauchte Tochter seiner Strengen Frau, die heilige Sängerin der weihevollsten Stunde seines Lebens. Viktors Liebe wurde als Religion geboren. Und, o Wunder! seine Gottheit wohnte in seiner Nähe, sichtbar und erreichbar.
Freilich schmähte bübisches Gelächter seinen Glauben. «Wahnwitz! Albernheit! Schande! Die gewöhnliche Frau Direktor Wyß, die Ehrenpräsidentin der Idealia, urplötzlich in göttlicher Beleuchtung! Lauf zum Arzte, Viktor! Bestell dir rechtzeitig ein Bett in der Irrenanstalt!» Und tausend Erfahrungen erhoben wider ihn ein ohrbetäubendes Geschrei: «Halt! Obacht! warte! wir bringen unumstößliche Beweise!» Allein hat sich jemals ein Gläubiger durch das Geschrei der Beweise irremachen lassen? «Geben Sie acht, vor der Haustür kommen noch drei Stufen», jauchzte sein Herz, und eine Springflut inbrünstiger Liebesandacht schwemmte all den Pöbel aus dem Bewußtsein: Erfahrungen, Zweifel, Bedenken und Beweise, die ganze hämische Rotte. Jeder Einspruch mit Hallo von dannen gejagt wie ein Hund aus der Kirche.
Ihre Nähe! Berge und Wälder, der ganze Horizont rundum verklärt durch ihren Blick; alle Straßen und Wege dieser Stadt geheiligt durch ihren Wandel, die Umgebung durch die Möglichkeit ihres Wandels. Sein Daseinsgefühl schwebte auf Wolken; jeder Atemzug schlürfte Offenbarungsodem; es keimte und blühte um ihn, sein Auge vernahm farbige Arabesken, sein Ohr Orgelrauschen; das kleinste äußere Vorkommnis, der Hammer eines Schmiedes, der Ruf eines Kindes, eine Krähe auf dem Zaun wirkte wie ein kosmisches Gedicht. So reich bevölkerte ihn die Andacht ihrer Nähe, die Vorstellung ihres sichtbaren Vorhandenseins, daß er gar nicht einmal das Bedürfnis verspürte, sie zu sehen; im Gegenteil: er zog vor, sie aus dem Hinterhalt anzubeten, nahe, aber um die Ecke.
Doch ein unleidlicher Gedanke durchquerte seine Andacht: ihr Urteil verdammte ihn nach wie vor, indem sie ja von seiner Bekehrung nichts ahnen konnte. Diesen Gedanken ertrug er länger nicht. Zwar der körperlichen Frau Direktor Wyß seine Bekehrung mündlich oder brieflich mitzuteilen – niemals! sonst hätte er ihr ja zugleich seine Liebe gestehen müssen; dazu aber war er viel zu stolz; auch zu klug; denn da sie ihn doch nicht liebte – oh, nichts weniger als liebte! –, hätte ihn ein Liebesgeständnis in die klägliche Rolle eines schmachtenden Liebhabers hinuntergedrückt; er aber wollte zwar ihr andächtiger Gottesdiener, nicht jedoch ihr bemitleideten Liebhaber sein. Glücklicherweise hatte er den Umweg der gemeinen Mitteilung auch nicht nötig; er wußte eine bessere, sowohl geradere als würdigere Verbindung zu ihr: den Weg der Vision von Seele zu Seele.
Also befahl er jetzt seiner Seele: «Gehe hin zu Theudas Seele, die da ist Imago, und melde ihr: ‹Der Nichtswürdige, mit Blindheit schmählich Geschlagene, welcher dich befeindete und verfolgte, ist tot; ein Neuer steht vor dir, ein Bekehrter, welcher, demütig deine Hoheit und Güte bekennend, dich Imago grüßt und dein Schönheitsantlitz als Symbol der Gottheit andächtig verehrt.› Melde ihr das, und bring mir ihren Bescheid.»
Der Bescheid kam: «Ich traf ihre Seele ans Fenster gelehnt, in die Klarheit des gestirnten Himmels emporbetend. Zurückschauend erteilte sie mir die strenge Antwort: ‹Ich bin ein Weib, Zucht ist mein Stolz, Reinheit meine Ehre. Hinweg, Ruchloser, der du alle Zeit das Weib mit frechem Spott verunglimpfst; eh' daß ich an deine Bekehrung glaube, tue Buße und bekenne den Wert des züchtigen Weibes.›»
Auf diesen Bescheid schickte er abermals seine Seele zu ihr: «Die Buße, die du von mir forderst, ist volltan; denn ich sah in deine Augen: sie straften mich; ich schaute die Hoheit deiner Stirn: sie verdammte mich. Vernimm mein Bekenntnis: Ein Tempel tat sich auf, eine königliche Priesterin trat hervor, hinter ihr die Frauen der Erde, so die gegenwärtigen wie die dahingegangenen, so die wirklichen wie die vom Wunsch gezeugten. Ich aber schaute, glaubte und bekannte: ‹Ich glaube an ein reines, keusches Weib; ihr Gedanke ist Gesang, ihre Werke heißen Hingebung und Aufopferung; auf ihrem Antlitz spielt der Abglanz der Gottheit; auf der Spur ihrer Füße sprießen Hoheit und Adel; sie erhebt die Hand: und das Gemeine entflieht in die Finsternis; sie bewegt sich: und die Sonne jubelt: o Weib, wie bist du schön! Da beugte sie sich tröstend über einen Kranken, der am Wege lag, und ich rief: Weisheit, verhülle dein Haupt; kniet nieder, ihr Tugenden alle, denn Königin ist das Erbarmen.› Gehe hin und überbringe ihr dies Bekenntnis.»
Ihm kam der Bescheid: «Ich traf ihre Seele über die Wiege ihres Kindes gebückt. Aufschauend erteilte sie mir die strenge Antwort: ‹Ich bin eine getreue Tochter, in Lieb und Ehrfurcht den Meinigen ergeben. Hinweg, Ruchloser, der du meinen Vater verachtest und meinen Bruder beleidigst! Eh' daß ich an deine Bekehrung glaube, lerne Ehrfurcht vor meinem Vater und versöhne dich mit meinem Bruder.›»
Ob diesem Bescheid begann Viktor zu seufzen und zu grollen: «Ich will ihren Vater nicht ehren, ich will mich mit ihrem Bruder nicht aussöhnen; denn sie sind Feinde des Geistes,