Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Gedichte, Epos & Essays (Über 140 Titel in einem Buch). Carl Spitteler
er aber dann selbstzufrieden zu ihr sandte, um ihr von dem demokratischen Adam Bericht zu erstatten, erhielt er ungnädigen Abschied. «Aktiv betätigen», habe sie barsch befohlen. «Aktiv betätigen!» wiederholte seine Entrüstung, «wie grob, wie ruppig sie das gesagt hatte, beinahe wie ein Ellbogenstoß. Überhaupt, sie vergißt, daß meine Bekehrung ganz auf meinem freien Willen beruht; ein Schulterlupf, und sie fliegt auf den Boden. Es scheint, sie möchte mich mit der Peitsche dressieren!»
Doch die Hyäne, die durch drei Reifen gesprungen ist, springt auch durch den vierten, wenn schon zähnefletschend. Also behändigte er bei der nächsten Wahlgelegenheit einen Zettel.
«Du, Förster, gib mir einen guten Rat. Ich möchte meiner Bürgerpflicht genügen – oder sagt man nicht so? –, kenne jedoch leider auf der ganzen Welt keine politische Seele. Wen rätst du mir, daß ich wählen soll?»
«Ja, da mußt du mir vor allem erst sagen, ob du konservativ oder liberal bist.»
«Was ist der Unterschied?»
«Das läßt sich nicht so in der Geschwindigkeit erklären.»
«Wer von den beiden hält es denn mit der Kirchenlehre?»
«Eher die Konservativen.»
«Dann bin ich also liberal.» Und wählte demgemäß.
Doch noch immer wollte sich Theudas Seele nicht zufriedengeben. Es komme nicht von innen, habe sie geantwortet.
«Nicht von innen!» tobte er. «Ich will dir zeigen, was von innen kommt.» Und stiftete einen fürchterlichen Aufruhr gegen seine Göttin, daß es in seinem Innern zuging wie in einem Bestienkäfig vor der Fütterung. – «Du willst die Numa Hawa spielen? Wohlan, so ertrage, daß ich ergebenst den Rachen aufsperre.»
Bis ihm eines Tages widerfuhr – er hatte es gar nicht beabsichtigt, es kam ihm von selber, wie der Strahl aus dem kochenden Berge –, daß er zwei fremden Gigerln, die über einen vorüberziehenden Trupp Soldaten spöttelten, mit schnaubender Wut das Maul verbot. Während er noch ganz verblüfft dastand, unschlüssig, ob er sich nun über diesen vorweltlichen Schnarch schämen solle, oder was eigentlich, grüßte ihn ihre Seele hold lächelnd über die Schulter: «Jetzt das, jetzt das hingegen, Viktor, das freut mich.» Und ein See von azurblauem Himmel umschwebte ihn, mit unzähligen Theudaköpfchen darin, die ihm sämtlich huldvoll zunickten.
Hiermit fand seine mühsame Buße endlich Gehör und Genüge.
Also geläutert und entschuldigt, frisch und morgenfreudig im Gefühl der kräftigen Reinigung, tat Viktor seinem Herzen die Tür weit auf. «Heißa, mein Herz! Ich, der da meinte, ich sei weise und du wärst ein albern Kaninchen! Irrtum, verkehrte Welt! Ich war torenwitzig, und du bist der Gescheiteste von uns allen. Denn nicht bloß, daß du einzig von Anfang begriffen hast, sie ist Imago, dir verdanke ich auch meine Buße und Bekehrung. Deswegen sollst du fortan nicht mehr mein verachtetes Hündlein sein, verstoßen und mißhandelt, sondern unser aller Führer und Oberst sollst du sein. Heißa, König Herz, befiehl, so geschieht es; begehre, so wird dir's werden.»
Jauchzend frohlockte das Herz: «O Freiheit! Siehe, man hat mir das Maul verbunden wie einem gestohlenen Stieglitz; darum will ich jetzt zur Entschädigung lieben, lieben, bis ich den letzten Hauch meines Atems erschöpft habe.»
Viktor billigte: «Das sei dir unbenommen; doch wisse, Theuda ist Imago, nämlich hoch und hehr. Ist deine Liebe von einem Wunsch befleckt, so wage nicht, die Reine mit unreiner Liebe anzutasten.»
Ihm erwiderte das Herz: «Hier stehe ich offen vor dir; nimm einen Leuchter und zünde in die verborgensten Gänge, damit du mich prüfest.»
Und Viktor tat demnach und zündete in die verborgensten Gänge seines Herzens; und als er die Prüfung vollendet hatte, rief er: «Deine Liebe ist demütig und wunschlos. Also liebe sie denn, liebe sie, bis du den letzten Hauch deines Atems erschöpft hast.»
Da atmete sein Herz und lechzte: «Ich möchte heimlich zu ihr, ungesehen bei ihr wohnend und beständig mit ihr lebend, was sie irgend selber lebt, jede Stunde, jede Sekunde, vom ‹Grüß Gott› des Morgens, wenn sie die Fensterläden öffnet, bis zum ‹Gut Nacht› am späten Abend.»
«Ja, tue das», erlaubte Viktor. Und das Herz tat, wie es gesagt hatte, und lebte ungesehen mit ihr vom Morgen bis zum Abend, vom «Grüß Gott» des Morgens, wenn sie die Fensterläden öffnete, bis zum «Gut Nacht» am müden Abend. Und wenn sie sich zum Mittagessen setzte, nickte es: «Iß und sei fröhlich», und wenn sie sich zum Ausgehen rüstete, flüsterte es: «Nimm nicht das Alltagskleid, sondern das neue, das helle, das köstliche; denn du bist schön und lieb; das bedeutet: wo du bist, waltet alle Tage Festtag.»
Und weiter atmete das Herz und lechzte: «Ich möchte in ihr eigen Herz tauchen, tief bis in den Quell ihres Gefühles, und aus ihrem Herzen alles liebhaben, was sie selber liebhat, angefangen von ihrem Mann und ihrem Kinde bis zu dem Blumenstöcklein vor ihrem Fenster.»
«Ja», erlaubte Viktor, «tue das.» Und das Herz tat, wie es gesagt hatte, und tauchte in Theudas Herz bis in den Quell ihres Gefühles, und liebte aus ihrem Herzen alles, was sie selber liebte, und sprach zu ihrem Manne: «Bruder, du hast einen Freund, von dem du nicht weißt, und einen Helfer, den du nicht vermutest; getrost, was auch die Zukunft dir schicke, ich bin da, ich werde dir beistehen.» Und sprach zu ihrem Kinde: «Deine Füßlein taumeln ins Ungewisse, und deine Äuglein lächeln in Nebel und Ferne; ich aber weiß Rat; ich will dich vor Fehlgang und Schaden behüten.» Und zu dem Blumenstöcklein vor dem Fenster sprach es: «Du mußt fleißig sein, damit du mit deinen Farben ihr lustig leuchtest und mit deinem Hauch ihren Mut erquickest, denn bedenke, deine Ranken ragen in ein besonderes Stüblein.»
Und wieder atmete das Herz und lechzte: «Ich möchte mich in einen Segen verwandeln und wie ein guter Geist Gottes ihre Schritte umschweben, sie aufrichtend, wenn sie mutlos ist, und von ihr jedes Unheil abwehrend, das nächtens ihre Schwelle umschleicht.»
«Das ist recht und statthaft», erlaubte Viktor, «tue das.» Und das Herz tat, wie es gesagt hatte, und verwandelte sich in einen Segen. Und beim Morgenblaßlicht küßte es Theudas Augen: «Der Hahn ist wach; steh auf und fürchte dich nicht, denn dieser Tag ist ein fröhlicher Tag.» Und wenn sie betrübt war, so sprach es: «Irrtum! du darfst nicht traurig sein, denn du bist der Menschen Lust und Wonne.» Und zu dem Unheil, das nächtens ihre Schwelle umschlich, wehrte es: «Halt! Wer da? Täuschung! Dieses Haus ist gefeit, denn hier wohnt Theuda-Imago.»
«Nun wohl, mein Herz», rief Viktor, «wonach deine Liebe lechzte, das hab' ich dir alles gewährt. Hast du nun Genüge? Oder begehrst du noch mehr?»
Ihm antwortete das Herz: «Ich habe nimmer Genüge; denn meine Liebe gebärt Liebe; je mehr ich die Einzige liebe, desto mehr begehrt mich, sie zu lieben. Siehe, ich habe ihre dermalige Gestalt mit meiner Andacht umwoben, nun will ich es auch mit der vormaligen tun; mit meiner Ahnung ihre verbliebene Erscheinung grüßend, so wie sie einst gewesen, ehe sie geworden, rückwärts über ihre Mädchenjahre bis in die Tage der Kindheit, und von ihrer Kindheit hinauf nach ihrem Ursprung über der Welt, wo ihre Seele keimte, ehe sie den Wandel nach Erden antrat. Allein das vermag ich nicht aus mir; gebiete deiner Phantasie, daß sie mich in jene Höhen enttrage.»
«Ja», erklärte Viktor, «das soll dir werden.» Und befahl seiner Phantasie: «Du loses, unnütz Vögelein, das mir immerfort Unfug und Unmuß stiftet, mit Truggesichtern mich täuschend, daß ich der Torheiten unzählige begehe, auf! erweise dich einmal nützlich. Hast du gehört, was mein Herz von dir heischt? Also rüste deine verwegensten Flügel und enttrage meine Ahnung über die Welt in die Pflanzstatt der Seelen.»
Ihm erwiderte die Phantasie, im Glanzlachen erstrahlend: «Das ist es ja eben, was ich immer ersehnte. Denn dort oben bin ich zu Hause.» Sprach's und enttrug mit verwegenem Fluge seine Ahnung hinaus über alle Welt in die traumumdämmerte Brutstatt der Seelen. Daselbst, mit den Fühlern der Liebe den Pfad erratend, den einst ihre Seele nach Erden angetreten, versuchte Viktor auf ihren Spuren ihr verwichenes Leben nachzuleben, mit dichtendem Geiste ihre irdischen Erstlingsjahre zurückrufend, den Abglanz ihrer Mädchengestalt an den Wäldern ihrer Heimat